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Jean Krier
„Alles ist in den besten Anfängen“
(Kafka, letzter Brief)

Den Toten kündigen, denn nun alles quillt.
Ein Blatt wär schon zu viel. Es ist hohe Zeit,
In jedem Baum enorm das Meer, in
Wohnungen Wölfe, die Vögel Feder
u Flug verlieren. Schlachten und schlucken, schlimm
im Hals der letzte Bissen u nachts die Axt
im Schädel. Wachen, weinen. Wie da
denken an nichts, wo das Herz ein Spiel alt?
So Leben, alles Lieb. Aber Baum heißt Baum
u immer gibt es etwas zu tun. Und Brot
und Wein, die Katzen zart. Dass immer
bleibe es so ans Meer genagelt.


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 29

Michael Braun
Rhapsodik der Sterblichkeit



In seine letzten Gedichte hat der Luxemburger Dichter Jean Krier einige Schlüs­sel­zitate seiner poe­tischen Leit­bilder eingra­viert: Kafka, Hölderlin und Gott­fried Benn. Es sind bewusst fragmen­tierte Oden, die sich im Bewusst­sein des heran­rückenden Todes zu lied­haften Evo­kationen aufschwingen, die aber immer wieder von rauen Sarkas­men konter­kariert werden. „Alles ist in den besten An­fängen“, so heißt es in Kafkas letztem Brief an seine Eltern, datiert vom 2. Juni 1924, „alles ist wie gesagt in den besten Anfängen, aber noch die besten Anfänge sind nichts“. In diesem letz­ten Brief an seine Eltern hatte Kafka noch einmal das schwer erträg­liche Wider­spiel von Erwartung und Ent­täuschung ange­spro­chen, das der immer wieder angekündigte, aber stets aufge­schobene Besuch der Eltern an seinem Krankenbett in ihm auslöste. Auch bei Jean Krier ist die Beschwö­rung der „An­fänge“ mit der Empfin­dung der Finalität ver­bun­den. Als Krier seine letzten Oden schrieb, hatte er zwei schwere Herz- und Leber-Ope­ratio­nen hinter sich und wusste um die Kontin­genz seines Daseins. Es sind über­wäl­tigend schöne Gedichte, in denen der Ton Hölder­lins nach­hallt und mit ihm die Bewegung der alkä­ischen Oden­strophe, ver­mischt mit den Me­lan­cho­lien eines Bewusst­seins, das die Nähe des Todes spürt. Bereits in seinem letzten Gedicht­band „Herzens Lust Spiele“ (2010) hatte Krier eine Hal­tung escha­tolo­gischer Ge­las­sen­heit einge­nommen: „Ja, so will ich bleiben, so, wie ich bin: rat­los u heiter“. Es ist die Position des heiteren Fata­listen, eines Ver­gäng­lich­keits-Dichters, der sich die Lebenslust nicht hat aus­treiben lassen.
  In seiner Ode verkehrt er Hölderlins visionäre Erwar­tung vom hohen, gott­er­füll­ten Tag der grie­chi­schen Kul­tur ins Gegen­teil. Die gött­lichen Natur­gaben „Brot und Wein“ symbo­li­sieren in der gleich­namigen Elegie Höl­der­lins die vom Dichter wach­gehaltene Hoff­nung auf eine er­füll­te Zukunft. An die Stelle sol­cher Hoff­nungs­sig­nale treten bei Krier sarkas­tische Zeichen aus einem apo­kalyp­tischen Weltgebäude, in dem – frei nach dem römi­schen Dichter Plautus – der Mensch dem Men­schen ein Wolf ist. Die Gestalten der Schöp­fung sind alle von Anzei­chen des Unter­gangs erfasst („die Vögel Feder / u Flug verlieren“), der „letzte Bissen“ bleibt dem todes­gewis­sen Subjekt im Hals stecken. Und selbst das Meer, das in Kriers frühe­ren Gedich­ten stets einen utopisch schim­mernden Bild­raum öffnete, wird hier in einen Kontext der Gewalt gerückt. Der „Dichter in dürftiger Zeit“, der in Hölder­lins Elegie „Brot und Wein“ aufge­rufen wird – bei Jean Krier hat er nur noch eine raben­schwarze Utopie zu ver­künden. Selbst den Toten wird nun „gekün­digt“, auch sie können auf nichts Zukünf­tiges mehr hoffen. In seine zwi­schen hohem Ton und Sarkas­mus oszil­lierende Ode hat Krier auch noch eine Regres­sions­phanta­sie Gottfried Benns einge­schmug­gelt, die an das Gedicht „Gesänge“ an­schließt. „Ein Blatt wär schon zu viel“, heißt es bei Krier. Benn hatte in seiner Phantasie vom „Klümpchen Schleim in einem warmen Moor“ ausgeführt: „Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel / wäre zu weit und litte schon zu sehr.“ In seinen ergreifenden Oden, die noch einmal eine Rhapso­dik der Sterb­lich­keit zur Ent­faltung bringen, hatte Jean Krier einen Grenzpunkt des Dichtens er­reicht. Am 12. Januar 2013 ist er im Alter von 64 Jahren in der Uni­klinik in Freiburg im Breisgau gestorben – und seine Oden im Geiste Hölder­lins sind sein anrüh­rendes poeti­sches Vermächt­nis geworden.

Jean Krier, 1949 in Luxemburg geboren, studierte Ger­manistik und Anglistik in Freiburg und arbeitete danach als Lehrer und schließ­lich als freier Schrift­steller in Luxemburg. Zuletzt ver­öffent­lichte er den Band „Herzens Lust Spiele“ (Poetenladen, 2010). Das vor­lie­gende Gedicht ist einem Konvolut mit nach­gelas­senen Gedichten ent­nommen. Der Text liegt in unter­schied­lichen Fas­sungen vor. Die hier gewähl­te Version folgt der Text­gestalt, die in Heft 204 der Zeit­schrift „Sprache im tech­nischen Zeitalter“ erschienen ist.


Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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02.05.2013



 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Jean Krier
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
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