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Horst Bingel
Felsenmeer
Wir haben uns eingegraben, Stollen an Stollen, die Wälder umgestülpt, wir haben der Erde Schätze abgefackelt, sie jagt uns in Teer und Federn von dannen, nackt, entblößt, wie wir kamen, uns bleibt die Flucht, die Wege, aufgerissen, zersprungen, wir haben die Berge abgetragen, noch einmal, wir halten an. Wer grüßt? Wir, die Steine, sie schmerzen, der Asphalt, die Sonne, noch einmal, es schmilzt, hängt fest, zieht Blasen, wir werden mit Blei die Formen ausgießen. Wir haben uns angestrengt, es waren Frauen, Kinder, die weinten, wir haben der Sonne Gewinn abgeschöpft, das Licht gestohlen, ausgetrocknet den Fluß, uns bleibt der Sieg, wir, niemand, der folgt, wir, wir greifen den Wind, noch einmal, wir verbieten die Geschichte, keiner fragt, niemand erzählt. Wir, der Marsch, ohne Ende, wir ziehen den Fischen die Kiemen lang, wir, Amphibien, erjagt, wir werden in Stein jetzt feilgeboten.
Michael Buselmeier Der vielseitig begabte Frankfurter Literat Horst Bingel verstand sich durchaus als politischer Dichter, freilich nicht im plakativen Sinn der Agitprop-Lyrik linksradikaler oder kommunistischer Provenienz. Seine Texte haben, bei all ihrer Eindringlichkeit, oft etwas Verspieltes, Kindlich-Mutwilliges, sie folgen Einfällen, auch Kalauern, wählen Um- und Irrwege. Wechselnde Rhythmen und Wortwiederholungen spielen eine Rolle; nichts scheint festgelegt. Diese kleine Bingel-Welt hat, so der Großlyriker Karl Krolow, „mehrere Böden“; sie ermöglicht auch Rate- und Versteckspiele. „Ganz Verschiedenartiges“ treffe „unmittelbar nebeneinander oder nacheinander“ zusammen. Ich habe eine Zeit lang in Gedichtbänden Horst Bingels gestöbert. Die frühen Texte sind fast alle kurz, prägnant und wirken oft schwebend leicht. Erst in den 90er Jahren scheint Bingel zu längeren und komplexeren Formen übergegangen zu sein, um so eine Art Sprachsog zu erzeugen, ein Staccato aus Worten und Gedanken, das gesellschaftspolitische Stoffe aufgreift und Gegensätzliches verbindet. Statt einer knappen Logik der Bilder herrscht ein scheinbar willkürliches, dem lyrischen Rhythmus folgendes Assoziieren vor. In dem vorgestellten Gedicht geht es um die auch uns nicht unkannten Verbrechen an der Natur. Mit dem anaphorisch eingesetzten „Wir“ ist eine verlorene, zu Stein gewordene und so feilgebotene Menschheit angesprochen, die sich selbst beschuldigt und in krassen Bildern mit den eigenen Untaten abrechnet. Wir haben uns atomsicher in Stollen „eingegraben“, die Schätze der Erde „abgefackelt“, „die Berge abgetragen“. Wir haben „das Licht gestohlen“, den Fluss „ausgetrocknet“ und sogar „die Geschichte“ verboten – ein fragwürdiger „Sieg“ nach dem anderen, nach dem „keiner fragt“ und von dem „niemand erzählt“. Am Ende steht das schmerzende Bild von den „Fischen“, denen wir „die Kiemen lang“ ziehen (ähnlich wie früher die Lehrer ihren Schülern die Ohren lang gezogen haben). Bingels Lieblingstiere sind Vögel, besonders Lerchen, auch Tauben, die häufig bei ihm auftreten: „Wir wollen mit / den Tauben spielen, den Tauben / im Wind.“ Selbst Fische mochte er, oder genauer: einen „fliegenden Fisch“, einen „Feuervogel“, einen „Wolkensegler“ – Phantasietiere, die zu seinen vogelleichten und hoch artistischen Poemen passen. Vielen seiner Texte, zumal den Liebesgedichten, eignet dieses Liedhafte, Offene, Freie: „Überlaßt die Lieder den Lerchen.“ Und an anderer Stelle liest man: „Meide die festen Häuser!“ Bezogen auf die von ihm (einem FDP-Mitglied!) begrüßte Revolte von 1968 heißt das: „Wirf die Trauer weg / Die Welt ändert sich.“ Und: „Hast du die Fische gehört?“ Auch Bingels vor über fünf Jahrzehnten heftig umstrittenes „Fragegedicht – Wir suchen Hitler“ hat etwas Satirisch-Groteskes, Provozierendes, Übertreibendes. Es wurde am 30. Januar 1965 in der (damals noch rechts-konservativen) Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht und löste dort eine zehnwöchige Leserbrief-Diskussion aus. Es beginnt listig: „Hitler war nicht in Deutschland / niemals / haben sie wirklich herrn Hitler gesehen / Hitler ist eine erfindung“. Der einst – auch im Interesse zahlreicher Autoren – im Literaturbetrieb ungemein geschäftige und einflussreiche Horst Bingel ist heute fast schon in Vergessenheit geraten. Er hat in Frankfurt den Verlagsbuchhandel erlernt und war von 1957 bis 1969 Redakteur und Herausgeber der legendären „Streit-Zeit-Schrift“. Mit dem berühmten Kleinverleger V. O. Stomps hat er in dessen „Eremitenpresse“ in Stierstadt kooperiert. 1961 gab er die Anthologie „Deutsche Lyrik – Gedichte seit 1945“ heraus, 1965 gründete er das „Frankfurter Forum für Literatur“. Von 1974 bis 1976 war er Vorsitzender des Verbands deutscher Schriftsteller. Er schied im Streit aus dem Amt, zog sich zurück und verfasste fortan nur noch Prosa und Gedichte: „Wer im Bett bleibt, kann nie in der Fremde meckern.“ Horst Bingel wurde 1933 im hessischen Korbach geboren und starb 2008 in Frankfurt am Main. 1975 erschien sein Gedichtband „Lied für Zement“ mit einem Nachwort von Karl Krolow als Suhrkamp Taschenbuch. Das vorgestellte Gedicht entstammt dem postum erschienenen Band „Den Schnee besteuern“, orte-Verlag, Oberegg und Zürich 2009. Druckansicht
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