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Levin Westermann
wie ein fresko, das vom rand her eitert,
sagst du. drei mal drei entsprechungen entfernt,
auf dem grund des sees. wir schalten um auf kiemenatmung.
somnambulismus from this point forward. zunehmender druck,
bei abnehmender sicht. die welt wird immer kleinerkleiner.
das schroffe antlitz eines quastenflossers, hängende gärten,
triefend vor nass. stille, oder: die abwesenheit von lauten,
sagst du.


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 5

Michael Braun
Die Akkumulation der Ferne


„Wir werden schlafen bei den Toten drunten/ Im Schattenland. Wir werden einsam wohnen/ In ewgem Schlafe in den Tiefen unten/ In den verborgnen Städten der Dämonen.“ So beginnt Georg Heyms todes­trunkenes Gedicht „Der Tod der Liebenden im Meer“ – und ein dunkler Nachhall dieser Verse grundiert auch das welt­verlo­rene Gedicht des poeti­schen Nach­ge­borenen Levin Westermann. In der schwarzen Tiefe des Sees wartet hier eine Stille, die abge­schlossen ist gegen die lärmige Oberwelt, alle Geräusche werden verschluckt, die „abwesen­heit von lauten“ erscheint fast als Zustand des Glücks. Mit einer düste­ren Konse­quenz suchen Levin Wester­manns Gedichte die Entfernung von der Tagwelt, das poeti­sche Bewusst­sein scheint in dieser Abstand­nahme von den Koordi­naten einer All­tags­ver­nunft und in der existen­ziellen Distanzierung jedweder weltimmanenten Sinn­gebung seinen Ziel­punkt zu finden. Das bunte Fresko des reglemen­tierten Lebens zeigt seine wunden Ränder – diese Welt wird von den beiden Prota­gonisten des Gedichts verlassen, in Richtung eines Schweigens, das alle Zumu­tungen des Sozialen still­stellt. Die zentrale Vers­zeile formuliert ein Para­doxon: der Befund des rast­losen trance­haften Schlaf­wandelns („som­nam­bu­lismus“), also eines Heraus­tretens aus der Logik des All­tags­handelns, wird gramma­tisch ver­knüpft mit der Markie­rung einer hektischen Akti­vität, mit einem Befehl aus der digi­talen Sphäre („from this point forward“). Der Weg führt jedoch „bei abneh­mender sicht“ unaufhalt­sam nach unten – der Text mit seiner melancho­lischen Gravität zieht uns in eine Tiefe, die kein Geheimnis und keinen Mythos mehr bereithält.

Das Gedicht entwirft eine Unterwasserwelt ohne Verhei­ßungen, ohne romantische Utopien, an die sich eine Hoffnung anlagern könnte. Westermann führt uns in ein namen­loses Dunkel, in dem nur kurz und schemenhaft die Schatten antiker Mythen vorbei­ziehen, bis schließlich auch diese verschwinden. Das in die Tiefe sinkende Paar driftet an den hängen­den Gärten in Babylon vorbei, kurz kreuzt auch ein Quastenflosser den Weg nach unten, ein lange als ausge­stor­ben geltender Tiefsee-Fisch, der sich tagsüber in Höhlen aufhält und erst nachts, in der aller­größten Schwärze, zu seinen Beute­jagden aufbricht.

Das Eingeschlossensein in die schwarze Tiefe eines Sees, in der Ge­räusch­losig­keit, fern jedem sozialen Austausch, erscheint hier als Wunschbild. Je größer die Ent­fernung von den Paradigmen der Oberwelt, desto mehr wird hier, in der dunklen Abgeschiedenheit des Seegrunds, eine Selbstwahrnehmung des Ich möglich.

Es geht in den Gedichten Levin Westermanns, von denen einige besonders verstörende Exempel beim Lite­rarischen März 2011 in Darmstadt zu hören waren, um „die Akkumu­lation der Ferne“, wie es in dem geistes­verwandten Gedicht „das nötigste ist längst getan“ heißt. Es sind Protokolle eines imaginären Gangs in die Abge­schie­denheit. Hier spricht ein Ich, das das alles aufs Spiel setzt, das vom Weltgefühl der Verloren­heit umzingelt wird und dennoch spricht, am Rande des Schweigens. In Georg Heyms Gedicht hat das Meer den Mund geschlossen wie eine Spinne. Bei Levin Westermann sehen wir nur noch das Antlitz und das Maul des lichtscheuen Quasten­flossers, das von der Gefräßig­keit der Welt zeugt.

Levin Westermann, 1980 geboren in Meerbusch in Nordrhein-Westfalen, studierte Phi­lo­sophie und Soziologie in Frankfurt am Main und gewann 2010 den Open Mike in der Sparte Lyrik. Seit 2009 studiert er am Schweize­rischen Literatur­institut in Biel/Bienne.
Levin Westermann: Vita-Seite  externer Link






Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
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03.05.2011



 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Levin Westermann
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
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Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
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     Dies Sirren
     
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