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Heinrich Detering
Kilchberg
täglich andere Ängste und immer dieselbe Angst die erste die letzte und längste dass du nicht langst dass du nie genug bist dass du nie genügst dass deine Sicherheit Lug ist dass du lügst Angst vor offenen Plätzen Gier nach dem eigenen Platz nachts das alte Entsetzen morgens der nächste Satz
Michael Buselmeier Der 1959 im Norden Deutschlands geborene Heinrich Detering gilt als Glückspilz im Literaturbetrieb, ein Sonntagskind wie aus dem Märchenbuch, was Selbstzweifel und Rückschläge ja nicht ausschließt. 1995 wurde er Professor für Neuere Deutsche Literatur und Neuere Skandinavische Literaturen in Kiel, 2005 Ordinarius für Germanistik in Göttingen. Er ist Mitglied einflussreicher Akademien, literarischer Gesellschaften und Jurys, seit 2012 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt; Empfänger lukrativer Preise, Medaillen und Orden; dazu Literaturkritiker der FAZ, Übersetzer und nicht zuletzt Lyriker. Detering hat über Thomas Mann, über Nietzsche, Theodor Strom und Hans Christian Andersen, auch über Bob Dylan und Brecht publiziert, was seine Vielseitigkeit und Flexibilität anzeigt. Ein freundlich wirkender, gut aussehender Herr, ein vorzüglicher Rhetor, ein akademischer Lehrer, wie man ihn sich nur wünschen kann. Zudem hat er in den vergangenen Jahren vier Gedichtbände veröffentlicht, zuletzt „Old Glory“ (bei Wallstein, 2012). Das vorgestellte Poem, das diesen Band eröffnet, ist ein dichtgewebtes Gebilde, tiefgründiger als die meisten anderen, die oft ein wenig alltagsmäßig routiniert daherreden. Auf den ersten Blick scheint es ein Rollengedicht zu sein, als artikuliere hier – der Titel bringt einen schnell auf die Spur – der seit 1953 in Kilchberg bei Zürich lebende und dort 1955 beerdigte Thomas Mann Selbstzweifel, wie wir sie auch aus seinen letzten Tagebüchern kennen. Darin bezichtigt er sich der Lüge, beklagt „Tage der Schwermut, der Verdüsterung, des Unwillens gegen die Abgeschmacktheit dessen, was ich mit quälender Mühsal komponierte.“ Das ist nichts Besonders; auch andere Autoren, etwas Kafka, haben sich im Tagebuch schärfster Selbstbeobachtung unterzogen. Ein Thomas Mann-Interpret weiß natürlich um die einschlägigen Stellen. Doch Detering spricht hier allenfalls in zweiter Linie als Philologe. Zuerst ergreift der Dichter das Wort. Es ist ein sehr persönliches kleines Kunststück über eigene Skrupel und (Platz-)Ängste, tiefernst, wortmunter und reimverspielt zugleich, das mutige Eingeständnis, ein von Erfolg zu Erfolg Getriebener, auch ein Lügner zu sein, ein Täuscher und Blender, ein Versager. Danach erst dürfte Detering die Nähe des Textes zu Thomas Manns späten Notizen aufgefallen sein, und er setzte „Kilchberg“ als Titel darüber, was dem Gedicht atmosphärischen Zusammenhang und Hintergrund, aber auch eine gewisse Einfriedung oder Engführung verleiht. Übrigens hat auch der junge Alexander Kluge, ebenfalls ein Sonntagskind, Kilchberg aufgesucht und Thomas Manns Haus umschlichen, er wagte es aber nicht, wie er in seinem „Fünften Buch“ (2012) berichtet, an der Tür zu klingeln. Selbstzweifel befielen ihn. Was hätte er dem berühmten Autor denn auch sagen sollen? Dass er Dichter werden und gern wie er schreiben würde? „Versuche haben ergeben, dass mir das nicht gelingt. Meist werden die Texte kürzer.“ Das trifft auch auf Heinrich Detering, den Lyriker zu. Sein „Kilchberg“-Gedicht bezieht den Leser bereits über den Rhythmus magisch mit ein. Es herrscht eine gewisse Dringlichkeit. Die Furcht, „nie“ zu genügen, die „Gier nach dem eigenen Platz“ beim öffentlichen Wurstschnappen, aber auch die Einsamkeit des Poeten im Elfenbeinturm, das nächtliche „Entsetzen“ über sich selbst und erst recht das morgendliche Weitermachen („der nächste Satz“) sind Schritt um Schritt nachvollziehbar und vermutlich auch wahr. Soviel öffentlich eingestandene (oder ausgestellte?) Selbstkritik hätten viele dem vom Erfolg verwöhnten Autor gar nicht zugetraut. Der strenge Kreuzreim und das bewegte Metrum verleihen den drei vierzeiligen Strophen Form und eine Atemlosigkeit, hinter der die Angst zu versagen wohnt. Es wirkt wie ein Singen „im finstern Tal“. Heinrich Detering wurde 1959 in Neumünster geboren. Er lebt vielbeschäftigt in Göttingen. Das vorgestellte Gedicht entstammt dem Band „Old Glory“, Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 02.02.2014
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