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Ernst Blass
An Gladys
O du, mein holder Abendstern ... So seltsam bin ich, der die Nacht durchgeht, den schwarzen Hut auf meinem Dichterhaupt. Die Straßen komme ich entlang geweht. Mit weichem Glücke bin ich ganz belaubt. Es ist halb eins, das ist ja noch nicht spät ... Laternen schlummern süß und schneebestaubt. Ach, wenn jetzt nur kein Weib an mich gerät Mit Worten, schnöde, roh und unerlaubt! Die Straßen komme ich entlang geweht, Die Lichter scheinen sanft aus mir zu saugen, Was mich vorhin noch von den Menschen trennte; So seltsam bin ich, der die Nacht durchgeht ... Freundin, wenn ich jetzt dir begegnen könnte, Ich bin so sanft mit meinen blauen Augen!
Michael Buselmeier Das hier vorgestellte Sonett eröffnet den ersten Gedichtband des Berliner Jurastudenten Ernst Blass. Er erschien 1912 im ambitionierten Kleinverlag von Richard Weißbach in Heidelberg. Und obwohl Blass bis zu seinem frühen Tod 1939 noch drei weitere schmale Gedichtbände veröffentlichte, ist keiner seiner Texte auch nur annähernd so bekannt geworden wie „An Gladys“. Die Dinge scheinen hier ähnlich zu liegen wie bei Jakob van Hoddis, der – allen editorischen Bemühungen der letzten Jahre zum Trotz – mit seinem berühmten „Weltende“ auch so ein „Ein-Gedicht-Autor“ geblieben ist. Streng genommen ist es bei beiden nur ein einziger genialer Vers, der sie und ihr Werk dauerhaft aufleuchten lässt: hier „Die Straßen komme ich entlang geweht“, dort „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut.“
Blass kam aus dem Kreis der Berliner Frühexpressionisten um Jakob van Hoddis und Georg Heym, mit denen er, unter Kurt Hillers Regie, im „Neuen Club“ und im „Neopathetischen Cabarett“ auftrat. Er teilte mit ihnen das Interesse an strengen Gedichtformen (in Georges wie Rilkes Manier), ohne zugleich ihren harten, von Vorahnungen des Krieges geprägten Rhythmus und die grelle Bildlichkeit zu übernehmen. In „An Gladys“ bewegt sich die Figur des Dichters und Nachtschwärmers souverän durch die Großstadt Berlin mit ihren Parks und Bars, ein sanftmütiger Flaneur und Erotiker, weit offen für alle anderen und stets zur Liebe bereit: „Ich bin so sanft, mit meinen blauen Augen.“ Naiv, locker und beschwingt, schwebt er gleichsam durch die Straßen, ja es scheint, als komme er sie „entlang geweht“, ein ganz besonderer Mensch mit Charme und Aura, ein Gralsritter beinah, weiß eingehüllt in Schnee und Licht. Melancholie und Selbstironie („Dichterhaupt“, „Musike“, „Glatzenhaare“) halten sich die Waage; Richard Wagners Lied vom „holden Abendstern“ bricht sich am kruden Alltag: „Ach, wenn jetzt nur kein Weib an mich gerät / Mit Worten, schnöde, roh und unerlaubt!“ Huren sind im heiligen Bezirk nicht willkommen. Doch scheint sich der Dichter in dieser Glitzerwelt auch einsam und vom Leben abgetrennt zu fühlen, ein aus der Ferne Liebender wie der treue Wolfram im „Tannhäuser“: „So seltsam bin ich, der die Nacht durchgeht“ heißt es gleich zweimal. Er vermisst die „Freundin“, wünscht ihr „jetzt“ zu begegnen. 1913, nach dem Erscheinen seines ersten Gedichtbands, übersiedelte Ernst Blass von Berlin nach Heidelberg, angeblich um dort, in der Ruhe der Provinz, sein Studium zu beenden, in Wahrheit aber einer unglücklichen Liebe zu eben dieser hier Gladys genannten Frau wegen, die eine Muse der jungen Poeten im „Café des Westens“ war. In Heidelberg wandte sich Blass Stefan George, seinem Freundeskreis und seiner Lyrik zu und gab die literarisch-philosophische Zeitschrift „Die Argonauten“ heraus. In einigen anderen, sehr modern anmutenden Gedichten der Frühzeit hat Blass die Brutalität des Großstadtlebens durchaus greifbar gemacht, das „Glashafte“ und „Stiere“, das grelle Licht, „von dem die Straße trieft“, das ständige Läuten der Straßenbahnen, eine „Wildnis, die gefriert“, darin „Lesbierinnen, groß und marmoriert“ – lauter expressionistische Motive: „Und immer wieder steinern dampft Berlin“, wie es in dem wichtigen Gedicht „Ende …“ heißt. Mit 49 Jahren war dieser jüdische Dichter, den von Kind auf Krankheiten plagten, tatsächlich am Ende seiner Daseinskraft angelangt. In Berlin arbeitete er zeitweise als Redakteur, dann als freier Journalist, als Film- und Theaterkritiker. Das anstrengende Bohème-Leben ließ sich schon aus Geldmangel nicht fortsetzen. Blass erblindete langsam, starb 1939 im Jüdischen Krankenhaus an Lungentuberkulose und wurde, weit über die Nazizeit hinaus, gründlich vergessen, bis Thomas B. Schumann 1980 seine sämtlichen Gedichte im Hanser Verlag neu zugänglich machte. Doch umfassend wiederentdeckt ist er bis heute nicht. Ernst Blass wurde 1890 als einziger Junge neben fünf Schwestern in einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Berlin geboren. Er starb schwer krank und verarmt im Januar 1939 in Berlin. Das vorgestellte Gedicht stammt aus: „Die Straßen komme ich entlang geweht. Sämtliche Gedichte“, Carl Hanser Verlag 1980. Im Jahr 2009 erschien, ebenfalls ediert von Thomas B. Schumann, in der Edition Memoria in Köln eine Werkausgabe in drei Bänden. Kommentar, 01.12.2018
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