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Kathrin Schmidt
waage, vorm wasser verchromt, gestählt

zikadengesurr, schlafende hunde.
amsel auf abruf, ungerührt steht die luft.
ungerührt stehe ich, zigarette im anschlag.
so ruhig möchte der abend kommen,
dass mir ganz flau wird im korsett der verschöpfung.
der durch die tür tritt, hut überm stroh, bist du,
dein brusthaar ist fahl geworden über den sommer.
eh du den fisch ausschüttest mit dem bade,
seh ich ihn lautlos zappeln über dem heißen brei,
der zwischen uns blasen schlägt. in dieser hitze
kein netzhautgemetzel um bessere aussichten,
das wortflorett klemmt. lass es regnen, denke ich still,
dass wasser zwischen die prinzipien gerät. dass
güsse die dürren begriffe fluten. aber dein bruststroh
spricht bände über die trockenheit zwischen uns.
laut zürnt nur die waage, auf die kein wort fällt.
gestählt verharrt sie in stummem chromglanz.
sollte die wolke brechen, die über uns steht,
wär's kein gewinn.



aus: die horen, Nr. 244, 4. Quartal 2011, S. 109.
Wir danken der Autorin für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe

  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 14

Michael Buselmeier
Feuchtgebiet


Ich will nicht den Anschein erwecken, ich würde die sperrigen Gedichte Kathrin Schmidts in allen Einzel­heiten verstehen. Doch etwas hat mich für sie spontan ein­ge­nommen. Vielleicht war es der dakty­lische Rhythmus; oder der auto­bio­gra­phische Gestus, der diese Texte bestimmt und in gewis­ser Weise auch lesbar macht. Oder diverse Körper­säfte wie Schweiß und Blut, der Familien­sumpf, die Lebens­erfahrung der Autorin, einer Mut­ter von immer­hin fünf Kindern … Tat­säch­lich er­scheint der Mensch in Kathrin Schmidts neuen Versen als primär ani­mali­sches, ganz auf die Gegen­wart konzen­triertes Wesen. Im horen-Gespräch mit Jürgen Verdofsky bekennt die Poetin denn auch: „Bei der Lyrik habe ich immer das Gefühl, mich richtig nackig zu machen. Ich ziehe mich geradezu aus.“

Das vorliegende Gedicht mit dem etwas holprigen Titel – eines von zehn, die im jüngsten Band der horen abgedruckt sind – wählt den Laut a in Verbindung mit dem Daktylus als Einstieg in eine scheinbar friedliche Abendszene („zikaden­gesurr, schlafende hunde / amsel auf abruf …“) und hangelt sich dann an volks­nahen Sprich­wörtern entlang, die nur leicht verfremdet wurden: „schlafende hunde“ wecken, das Kind „mit dem bade ausschütten“, um den „heißen brei“ herumreden, ein „wort“ auf die Goldwaage legen. Und rasch wird auch klar, dass wir ein so ge­nanntes Beziehungs­gedicht vor uns haben. Es herrscht Sommer­hitze mit Trocken­heit, und „der durch die tür tritt, hut überm stroh“, also ein Stroh­kopf, hat beim lyrischen Ich keine guten Karten (mehr). Sein Brusthaar „ist fahl geworden“, und mit dem Sex, wofür der mit dem Bade ausge­schüt­tete „fisch“ stehen dürfte, scheint es auch nicht recht zu klappen. Oben­drein „klemmt das wort­florett“. Viel­leicht würde ein warmer Sommer­regen ja helfen. Doch selbst ein ehe­licher Wolken­bruch wäre, heißt es am Ende „kein gewinn“.

Deutlich stehen einander also unter­schied­liche Natur­erschei­nungen gegen­über, die sich im Körper- und Seelen­leben der Menschen­tiere spiegeln: extreme Trocken­heit und ersehntes Feucht­gebiet, die schweiß­trei­bende Liebe und deren Versickern, was Kathrin Schmidt mit dem Neo­logismus „verschöpfung“ aus­zudrücken versucht. Auch in den übrigen horen-Gedichten geht es recht derb zur Sache („immer eine handbreit bier unterm hemd“), zugleich aber hegt die Autorin eine Vorliebe für origi­nelle Formu­lierungen („förderwicht“, „netzhaut­gemetzel“), ebenso für ab­strakte Wort­gespinste, die in ihrer Künstlichkeit als eine Art Gegen­programm zur elementaren Natur­erfahrung fungieren, beispiels­weise „die gerüche vaporisierter nutz­holz­tendenzen“, was immer das bedeuten soll.

Vermutlich haben beide Textebenen – das gleichsam im Wolken­bruch, aus dem Bauch heraus, als Leibesfrucht entstehende Gedicht, das sich wie ein fließendes Wasser ergießt, und das modisch-iro­nische Konstrukt der „dürren begriffe“ („mein unter­vermie­tetes lachen“) – etwas mit dem insel­haften Dasein der meisten Künstler in der DDR zu tun, deren als kuschelig empfundener Provinz Kathrin Schmidt entstammt. Klingt es nicht von dorther so verquer büro­kratisch: „eine brand­sache wird schließlich gelöscht werden, die familientiere / gehen auf ab­stand.“

Kathrin Schmidt wurde 1958 in Gotha geboren, sie studierte Psychologie in Jena und lebt seit langem im Osten Berlins. Das vorgestellte Gedicht entstammt der Zeitschrift die horen, Nr. 244, 4. Quartal 2011, S. 109.



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07.02.2012



 

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