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Hilde Domin
Antwort
Für E.W.P. Um uns bis an die Zimmerdecke sitzt die Welt die Jahrhunderte auf den Regalen ich frage dich oder du fragst die Jahrhunderte spitzen die Ohren Tiere im Zirkus Ein Wink und sie springen gehorsam geben sie Antwort Alles was gelebt hat was leben wird antwortet dir du antwortest mir ringsum nicken sie uns zu weil du da bist und alle kennst da ist keiner tot der gelebt hat solange du bei mir bist
Michael Buselmeier Dies ist eines von Hilde Domins anrührendsten Gedichten, zugleich eines, das die lebenslange, nahezu ungetrübte Einheit mit ihrem Ehemann, dem Kulturhistoriker und Dichter Erwin Walter Palm zu bestätigen scheint. Die Beiden sitzen wie Kinder im Märchen in der Mitte des Zimmers, ein hermetisch abgeschlossener Raum. Um sie herum wächst „die Welt“ wie eine Dornenhecke, es wachsen „die Jahrhunderte auf den Regalen“, womit nur die Bücher gemeint sein können, die sich im Lauf zweier Künstler- und Wissenschaftlerleben angehäuft haben. Die Bücher bieten Schutz und Schatten, sie verfügen über das Wissen der Zeit wie der Vergangenheit, und wenn man sie als Kenner befragt, geben sie „gehorsam“ wie „Tiere im Zirkus“ Auskunft. Besonders dem vielwissenden E.W.P., der sie „alle“ zu kennen scheint, antworten sie. Er wiederum informiert seine hier redende Gefährtin, mit der er ein Leben lang auf der Flucht vor den Nazis und auf verschiedenen Kontinenten im Gespräch war. Als dienstbare Geister nicken sie dem Paar zu, besonders „weil du da bist“, also Erwin Palm, der mit ihnen vertraut ist, wie sonst keiner, und dessen „Wink“ die Wörter folgen. „Solange du bei mir bist“, mein Geliebter, „ist keiner tot“, der je gelebt hat. Auch der tote E.W.P. wird, so darf man folgern, in Hilde Domins Versen präsent bleiben.
Das so schlicht erscheinende wie intime Gedicht ist eines von drei Poemen, die Hilde Domins letzten Band „Der Baum blüht trotzdem“ aus dem Jahr 1999 eröffnen, ein kleiner Zyklus, mit dem sie sich ihrem sterbenden beziehungsweise schon toten Lebensmenschen zuwendet. Palm starb am 7. Juli 1988, das Gedicht „Antwort“ ist handschriftlich auf die Nacht vom 1. auf den 2. Dezember 1987 datiert und gewissermaßen der Versuch, den an Krebs schwer Erkrankten auf magische Weise, mit Worten und Antworten im Leben festzuhalten. Dass er an Nierenkrebs litt, verschwieg Hilde Domin ihm seltsamerweise bis zum Ende. Noch in den letzten Lebensminuten habe sie ihn in einem kurios anmutenden „Kraftakt auf ihren Schoß gewuchtet“ und sei mit ihm „in einem leidenschaftlichen Kuss verschmolzen“ – so Hilde Domins Biographin Marion Tauschwitz. Auch nach seinem Tod war Palm für Hilde Domin weiter anwesend. Mitten im Gespräch pflegte sie einzuwerfen: „Was Erwin jetzt wohl dazu sagen würde …“ Doch der schöne Schein eines harmonischen Lebensgesprächs trügt. Sie waren keineswegs so ein Musterpaar wie Philemon und Baucis, als das sie in ihren späten Heidelberger Jahren wahrgenommen wurden. Der Kampf um die geistige und speziell die literarische Vormacht prägte, so Marion Tauschwitz, von der ersten Begegnung 1931 an ihre Beziehung und eskalierte dann in der Emigration. Als Hilde Domin sich Anfang der 50er Jahre anschickte, eigene Sachen zu schreiben, häuften sich die Konflikte. Sie sollte weiter Professor Palms brave Hilfskraft, seine Übersetzerin und Sekretärin bleiben, doch das Gedichteschreiben ihm überlassen. Er betrog sie, wie die nachgelassenen Briefe ergeben, mit einer anderen Frau, und er hat sie, die unbedingt ein Kind haben wollte, zumindest einmal grün und blau geschlagen. 1940 kam es in Santo Domingo zu einer Abtreibung, 1952 zu einer Fehlgeburt – eine nie wirklich heilende Wunde. Die bittere, über Jahrzehnte virulente Frage, wer von Beiden der wahre Dichter sei, fand spätestens in der 60er Jahren eine pragmatische „Antwort“. Während Palm für seine an Garcia Lorca und Rafael Alberti geschulten Gedichte und seine autobiographisch grundierten Dramen („Labyrinth“, „Cortés und Marina“) in der Bundesrepublik keinen Verleger finden konnte, kam Hilde Domin mit ihren einfacher gebauten, aber direkten und aus dem Schmerz geborenen Texten als „Dichterin der Hoffnung“ groß heraus. Dass sie scheinbar so leicht schrieb, fast ohne Selbstzweifel, erregte immer wieder Palms Neid. Hilde Domin erkannte darin – ihr berühmtes Gedicht „Abel steh auf“ belegt es – den Neid Kains auf Abel und hoffte doch ständig auf einen Neuanfang. Hilde Domin wurde 1909 in Köln geboren und starb im Februar 2006 in Heidelberg, ihrem einstigen Studienort. Das vorgestellte Gedicht stammt aus ihrem Band „Der Baum blüht trotzdem“, S. Fischer Verlag, Frankfurt 1999. Weiterführend sei genannt: Marion Tauschwitz: „Hilde Domins Gedichte und ihre Geschichte“, zu Klampen Verlag, Springe 2016. Wir danken dem Verlag für die Wiedergabe im Rahmen dieses Gedichtkommentars. Druckansicht
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