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Bianca Döring
Allein

Die Nacht ist in mein Zimmer eingezogen
und alles schweigt vor ihrem Steingesicht,
auf dunklen Füßen geht ein Silberbogen:
ein Mond, ein Stern, ich weiß es nicht.

Es ist so kühl auf meiner Hand, als schwebe
ein kleiner Vogel immer an mir her –
ach trag mich, die ich kaum mehr lebe
ins Eis, ins Feuer, weiter noch, ins Meer.

Da lieg ich unterm Traum und atme Träume
aus einer Gegend fern und hell wie Schnee
und eß mein Brot mit kalten Fingern – all die Räume
der Liebe sind verbrannt und tun nur weh.


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 20

Michael Buselmeier
Lauter Wunder



Das weibliche Ich dieses 2005 entstandenen Gedichts beklagt seine Einsam­keit in drei vier­zei­ligen Strophen, die sich aus tradi­tionell gereim­ten Versen mit fünf­füßigen Jamben zu­sam­men­fügen. Form und Motive sind in der deutschen Lyrik von – sagen wir – Cle­mens Brentano bis Else Lasker-Schüler en vogue. Bianca Döring um­kreist mit der Romantik eng verbun­dene Vokabeln wie Nacht, Traum, Tod, Schmerz, Angst, Herz, Liebe und Leid auch in ihren reimlosen Gedichten.
  Im vorliegenden Beispiel zieht die Nacht mit ihrem „Steingesicht“ ins Zimmer ein, der Sichelmond ist ebenfalls anwesend, doch die Verlassene, tief Enttäuschte träumt davon, sich mithilfe eines Vogels (oder eines höheren Wesens?) „ins Eis, ins Feuer“ oder ins weite Meer zu verlieren, da all die Räume der Liebe „ver­brannt“ sind.
  Eine depressive Stimmung grundiert Bianca Dörings neue Gedichte, eine einzige monotone Klage: „Nichts hält. Nichts trägt. Nichts will mehr leben.“ Doch solange die Poetin noch so ergreifend zu trauern vermag und sich dabei zusieht, ist nicht alles verloren, zumal sie sich selbst­bewusst „der Dunkelheit Königin“ nennt. Um das Ausmaß ihres Leids zu verdeutlichen, zwingt sie Himmel und Hölle, Leben und Tod, Götter und Könige und sämtliche Gestirne als Zeugen herab. Und sie bedient sich dabei eines hohen Stils, eines märchen­haften Tons, einer phan­tastischen Bild­lichkeit und scheut selbst die Nähe zum Kitsch nicht: „Ich möchte bei dir bleiben, / nie mehr verloren gehn.“
  Hier spricht eine verletzte Frau, die es sich schwer macht, nicht nur mit der „großen schreck­lichen Liebe“, die sie herbei­sehnt wie Senta den Fliegenden Holländer: „Nimm mich ganz / auch dein Gift will ich essen.“ Ihre surreal inspi­rierten Traum­gespinste scheinen in unsere pragma­tisch bestimmte Gegenwart nicht recht zu passen, wo gerade unter den Jün­geren eine kühl kal­ku­lierte Labor­lyrik vor­herrscht. Bianca Döring setzt sich radikal aus, sie spricht von extremen Gefühlen, sie beschwört alle Farben des Himmels, alle Herr­lich­keit Gottes, den „Purpursamt“ des Orients – lauter im Auf­klärungs­gebiet fremd gewor­dene Wunder, wobei eine gewisse Nai­vität nicht zu über­sehen ist.
  Die 1957 im hessischen Schlitz geborene Poetin versteht sich gleicher­maßen als Schrift­stellerin, Musikerin und Malerin. Sie hat an medien­über­grei­fenden Kunst-Performances teil­genommen und tritt auch als Sängerin des Phantastischen mit klassi­schem Opern- und Rock-Gesang auf. Ihre erfolg­reichste Zeit waren wohl die frühen 90er Jahre, als sie zwei poetische Prosa­bücher im Suhrkamp-Verlag ver­öffent­lichen konnte (Ein Flamingo, eine Wüste und Schnee und Niemand), die teil­weise hymnisch besprochen wurden. Damals erhielt sie den Kunstpreis der Stadt Frankfurt und diverse Stipendien. Ihr vorerst letzter Gedichtband Schierling und Stern erschien 1999. Nach dem Jahr 2000 hat sie kein Buch mehr pu­blizieren können, was bedauer­lich ist. Es scheint, als habe der wankel­mütige Lite­ratur­betrieb diese unge­wöhnliche Frau ver­gessen.

Bianca Döring geboren 1957 in Schlitz / Vogelsberg, lebt als Schriftstellerin, Malerin, Sängerin und Gesangs-Therapeutin in Berlin. Das vorgestellte Gedicht stammt aus einem bislang unveröffentlichten Manuskript.



Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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01.08.2012



 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Bianca Döring
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge