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Georg Less
Kondorlied

nie gesehen, höchstens schwach
ich kannte diese Schwäche aus der Nachbarschaft

      da stand ein Kleintierzoo vor vielen Jahren
      im Wald am Elternhaus, ein Fertighaus
      ich zog vor vielen Jahren aus
      ich zog vor vielen Jahren aus
      die Gitter fielen, doch die Tiere blieben
      mit ihren Muskeln war etwas geschehn
      war ihr Verlangen nicht mehr anzuspannen

viel später wurde ich geboren
mal spielten wir Kojoten jagen
mal nach Kojotenknochen graben
fast hätte ich verloren

  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 65

Michael Braun
Viel später wurde ich geboren



Der Dichter Georg Leß singt ein Lied der Weltverlorenheit – aus ironischer Halbdistanz zwar, aber doch mit erkennbarem Rückgriff auf berühmte Tonspuren der Melancholie, die eine steile kulturhistorische Karriere hinter sich haben. In diesem „Kondorlied“, das zunächst in eine Kindheits-Szenerie führt, kreuzen und überlagern sich nicht nur sentimentalische, sondern auch todbringende Melodien, ohne dem Text eine eindeutige Richtung zu geben. Da ist zum einen der Evergreen des Folk-Rock-Duos Simon Garfunkel, das 1970 die peruanische Volksweise „El condor pasa“ in eine Schnulze verwandelte. Zum andern tönt hier auch unvermeidlich das faschistische „Lied der Legion Condor“ an, das 1937 erstmals in der modernen Geschichte den Luftkrieg eines verbrecherischen Regimes gegen die Zivilbevölkerung eines politisch unliebsamen Landes legitimierte. Die zentrale Zeile des Gedichts, die durch Repetition eine besondere Intensität gewinnt, ruft in ihrem Doppelsinn noch eine weitere Geschichte der Verlorenheit auf – nämlich die Eröffnungsverse von Wilhelm Müllers „Winterreise“: „Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh ich wieder aus“. Zwar scheint die Fügung „ich zog vor vielen Jahren aus“ semantisch nur auf das Verlassen des Elternhauses zu verweisen. Aber das Wortfeld des Gedichts spannt auch den Bogen zum Verlassenheits-Setting der „Winterreise“. Die Markierung der „Schwäche“, das Erlöschen der Lebensenergie, das im mittleren Teil des Gedichts den Tieren zugeschrieben wird, und schließlich der umarmende Reim von „geboren“ und „verloren“ - das alles produziert einen suggestiven Echoraum, in dem der Existenz-Gesang der „Winterreise“ mitschwingt. Die Veränderungs- und Auflösungsprozesse, denen das Ich unterliegt, stehen hier in scharfem Gegensatz zu dem Behaglichkeits- Versprechen eines „Fertighauses“. Das Gedicht selbst ist gleichsam das Gegenteil eines „Fertighauses“; denn eine große Lebens-Festigkeit wird in der poetischen Biografie eines Ich nicht erreicht, es gerät stattdessen alles ins Rutschen.
  Auffällig sind die klanglichen wie semantischen Verschiebungen beim Umgang des Autors mit der Tier-Motivik. Der fliegende „Kondor“, der in traditionellen Lied-Kontexten als Sinnbild der Freiheit gilt, wird in der dritten Strophe durch ein anderes Tier-Motiv ersetzt - durch den „Kojoten“, der als mythisches Objekt bereits in einer Kunstaktion von Joseph Beuys herhalten musste. Beuys sprach 1974 bei seiner Aktion mit dem Kojoten davon, er wolle an elementare Kräfte und an die Schöpfungsmythen der Indianer erinnern. An einer ähnlichen Energieproduktion versucht sich auch das Gedicht von Georg Leß. Sämtliche Motive, die er für die evokative Aufladung seines Gedichts nutzt, sind mythisch determiniert. Der Kondor, der Kojote, das Verlassen des Elternhauses und das Hinausgehen in die Welt, die Markierung eines längst zurückliegenden Geschehens – all diese Textsignale sind hier in elektrisierender Weise zu einem Gedicht verbunden. Selbst der „Kleintierzoo“, den Leß hier, seiner Neigung zur scheinhaften Miniaturisierung seiner lyrischen Gegenstände (etwa auch in seinem Gedicht „Die kleinste Armee“) folgend installiert hat, liefert keine putzige Kulisse für ein Gedicht über die Kindheit. Es ist nur ein weiteres Beispiel für die poetische Inventarisierung von existenziellen Verlusten und identitären Defizienzen, die im „Kondorlied“ vorgeführt werden.

Georg Leß, 1981 in Neheim (NRW) geboren, lebt in Berlin. Er veröffentlichte Texte in Zeitschriften und Anthologien, 2013 erschien sein Lyrik-Debüt „Schlachtgewicht“ (parasitenpresse, Köln), woraus auch das vorliegende Gedicht stammt.
Wir danken Autor und Verlag für die Wiedergabe des Gedichts im Kontext des Ge­dicht­kommentars.

Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     02.05.2016




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