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Martina Weber
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind, atmen wir
einfach weiter, die abstufungen der dunkelheit und deine
und meine leise gesprochenen worte in decken gewickelt.

alles, was uns umgibt, hat mit uns zu tun. die zahlenverhältnisse
im universum. willkür, wie zeichen. kein spiel: die vorbereitung
einer bewegung. ein paar übrig gebliebene tiere
scharren irgendwo unten im laub. eine einfache wirklichkeit.

das schenke ich dir. die plötzlich verstummende landschaft.
die auf dem boden ausgeschüttete angst. ich werde nichts fragen.
es spielt keine rolle, was jemand sagt.


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 45

Michael Braun
Diskrete Inventur

Ein Gedicht ist immer die zur Sprache gewordene Hoff­nung, dass sich eine Ord­nung bilden möge, eine Erkennt­nis­spur in all den erfah­renen Fremd­heiten und Dis­sonan­zen, eine schlüs­sige Korre­spondenz zwi­schen den Wörtern und der Welt. Der Schreibende, der sein sub­jek­tives Ordnungs­system im Gedicht ent­wirft, ist aber zunächst mit dem Umstand konfron­tiert, dass die Wörter sich nicht fügen wollen, dass sie nicht inte­grier­bar sind in eine schöne Kon­tinuität oder Ko­härenz. Der Lyriker sucht daher be­harrlich nach Sprach­kon­stella­tion­en, aus denen ein „Pro­filbild“ seiner poeti­schen Inten­tionen ent­stehen könnte. In einem Gedicht der 1966 gebo­renen Lyrike­rin und Juristin Martina Weber wird ausge­sprochen, woraus sich jenes iden­titäts­stif­tende „Pro­fil­bild“ konsti­tuiert: „es sind die abge­brochenen sätze, / die nicht ge­sagten.“ An den Schnitt­stellen der „abge­brochenen Sätze“, in Frag­menten und Frak­tu­ren, so verstehe ich diese beiläufig gespro­chene Sentenz, ist das Gedicht dieser Autorin zuhause. Dem Sprechen geht eine eminente Ver­lust­erfah­rung voraus, ein schmerz­haft erfah­rener Pro­zess der Auf­lösung. „Bereits das erste Gedicht von Martina Webers Debütband „erinnerungen an einen rohstoff“ (Poeten­laden Verlag, Leipzig 2013) spricht von einem all­mäh­lichen Ent­gleiten der Wirk­lich­keit, von einem Verlust des Realen, von dem aus­gehend das Ich wieder zur Sprache zurück­finden will: „eben war alles noch da, ohne grammatik, /ohne die standards der diszi­plinie­rung. kältepunkte / breiten sich aus, geschwärzte stellen, dann treibgut. / die verben im aktiv verlorengegangen, hier, im zer­riebenen licht.“
  Die scheinhafte Kohärenz der Welt ist verschwunden, die Bedeu­tungen sind unkennt­lich gewor­den, die „Verben im Aktiv“ tragen nicht mehr das Subjekt, aber mitten in diesem Des­orientie­rungs-Taumel sind noch Sprach­zeichen da, die dem Ich die Präsenz sichern. So bahnt sich Martina Webers lyrisches Ich einen Pfad durch „unmar­kiertes gelände“.
  Es sind Gedichte, die mit oft unschei­nbaren Prosa­sätzen einsetzen, die plötz­lich abbrechen, ins Stocken geraten oder über­blendet werden durch andere Fügun­gen. Verse, die jedwede Feier­lichkeit oder Pathe­tik abweisen und lieber in ver­track­ter Lako­nik ihre ruhigen Bah­nen ziehen, mit all ihren seman­tischen Stol­per­stel­len. Der Titel des Buches markiert eine Haltung der Distanz: „erinnerungen an einen rohstoff“ – das ver­weist nicht auf Empa­thie, sondern auf die kühle Inven­tur der Exi­stenzia­lien, mit denen die Dich­terin auf Tuchfühlung geht. „Diese ›Rohstoffe‹, schreibt Kurt Drawert in seinem Nach­wort zu Martina Webers Band, „können Substanzen sein, fest oder fluid, sie können aber auch kultu­relle Erfah­rungen sein, Wis­sens­speicher, Biblio­theken des Kör­pers.“ Im vorliegenden Gedicht zieht sich das sprechende Ich auf die elemen­tarsten Lebens­regungen zurück: auf den Atem, auf ein paar Blicke im Dunkel und auf „leise gespro­chene worte“, die noch zusätz­lich durch Decken gedämpft werden. Wir haben es mit einer kleinen Pro­gramm­schrift einer Poetik des Schweigens zu tun. Während die Wörter die Nachbar­schaft zur Laut­losig­keit suchen, wird noch einmal „die plötz­lich ver­stummende land­schaft“ in all ihren Details taxiert. Am Ende ist ein Zu­stand des Ein­ver­nehmens erreicht – ein Ein­vernehmen, das nicht durch Verba­lisie­ren her­ge­stellt wird, sondern im Verzicht aufs Sprechen. Doch es bleibt offen, ob diese „einfache wirk­lichkeit“ nicht auch Fall­türen enthält, ob die Ver­bindung zwischen dem Ich und dem Du des Gedichts akut gefährdet ist. Da jedenfalls, wo fast nichts mehr geschieht und wo fast nichts mehr ge­sprochen wird, wo behut­sam „möglich­keiten des daseins“ ertastet wer­den, siedelt diese Poesie.

Martina Weber, geboren 1966 in Mannheim, lebt als Lyrikerin und Juristin in Frank­furt. Seit 2005 leitet sie gemein­sam mit Kurt Drawert die Text­werkstatt im Darm­städter Zentrum für junge Literatur. Das Gedicht ist ihrem Band „erin­nerungen an einen rohstoff“ (Poeten­laden, Leipzig 2013) entnommen.



Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

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Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     01.08.2014







 

 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Martina Weber
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
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