Marcus Roloff
hl. grab, eingang wahlkapelle
dass dies gestorbensein so
aus dem schatten springt
aus dieser röntgenmaske
dem dreifaltigen flipchart
hat mich aus dem tritt gebracht
als du dich hinknietest
hörte ich auf genauer hinzusehen
die aufgeklebten totenköpfe sind
wie hermetische seelen in einer
sagst du und schweigst
eine dunkel klagende oder
an etwas kratzende musik herzzerreißend
verbissen ins mailicht von draußen
dran zu glauben dran zu glauben ich weiß
wann der staub von der fototapete zu mir
herabgefallen sein wird
Der gelbe Akrobat – Neue Folge 47 |
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Michael Braun
Passion und Schock
Der Schmerz ist ein heimtückischer Despot. Er zerreißt und entstellt uns, er lässt uns zittern, stöhnen, schreien, fluchen – und er vernichtet unsere Selbstkontrolle. In seiner grausamen Präsenz okkupiert er unser Nervensystem, er kennt keine Kompromisse. Der italienische Künstler Giovanni Manfredini kennt den Schmerz. Als Kleinkind erlitt er schwerste Verbrennungen, dem Martyrium mehrerer Hauttransplantationen setzte er irgendwann ein Ende und verwandelte seinen Schmerz in Kunst. In der Kapelle des Frankfurter St. Bartholomäus-Doms, über einer Darstellung des Grabes Christi, hat Manfredini die Passionsgeschichte in ein verstörendes schwarzes Triptychon übersetzt. Auf drei schwarzen Bildtafeln sehen wir drei Körper, drei Darstellungen eines Gekreuzigten. Die Bildflächen hat Manfredini mit einem Bunsenbrenner geschwärzt; auf die so behandelte Oberfläche der Tafeln appliziert er dann Abdrücke des eigenen Körpers. Auf den drei Körpern auf den Tafeln ist dann jeweils noch ein Totenschädel befestigt. „Es ist vollbracht“: Diese erschütternde Darstellung der Passion Christi lässt niemanden ruhen, der sich mit diesem Kunstwerk beschäftigt. Man weiß nicht, ob man vor der exhibitionistischen Drastik des Werks erschaudern oder ergriffen sein soll.
In einem Gedicht des Frankfurter Lyrikers Marcus Roloff wird diese innere Erschütterung des Betrachters von Manfredinis Passion poetisch evoziert. Die Erfahrung der Passion Christi greift über auf den Schauenden, „bringt ihn aus dem Tritt“. Roloff protokolliert sorgsam den ästhetischen Schock, der vom Kunstwerk ausgeht und das zuvor noch gefestigte weltanschauliche Koordinatensystem des Betrachters durcheinanderbringt. Ein abgeklärtes, ungerührtes Taxieren des Triptychons ist nicht möglich, das „Du“ des Gedichts, sicher entwöhnt aller religiösen Ritualität, kniet sogar nieder. Die Strahlungskraft des wahren Kunstwerks ist so groß, dass unsere eingespielten Routinen versagen. In der poetischen Engführung der Reaktionsformen auf die Begegnung mit der Passion Christi zeigt Roloff, dass nicht nur unsere gewohnten Wahrnehmungsweisen dekonstruiert werden, sondern auch das Ich selbst zur Disposition steht. Das lyrische Subjekt scheint sich der Suggestivität des religiösen Kunstwerks entgegenzustemmen. Aber die kritische Distanzierung gerät ins Stottern, die Repetition der Fügung „dran zu glauben“ zeigt an, dass selbst die kritische Distanz pulverisiert wird. „hl. grab, eingang wahlkapelle“ ist Teil einer langen Reihe von Wahrnehmungs-Gedichten, in denen sich Marcus Roloff mit Werken der bildenden Kunst auseinandersetzt und in denen die Positionen von Subjekt und Objekt aus ihren Verankerungen gelöst und einer fundamentalen Verwandlung unterzogen werden. Dabei sind meist nur tastende Bewegungen möglich, mit denen dieses lyrische Subjekt in die Welt und das Sprechen hineinfindet, verkürzende Sentenzen, elliptisch gefügte Verse. Bereits in seinen Gedichtbänden „Gedächtnisformate“ (Gutleut Verlag, Frankfurt am Main 2006) und „im toten winkel des goldenen schnitts“ (Gutleut Verlag, Frankfurt am Main, 2010) hat Roloff seine Passion für die Entzifferung von visuellen Konstellationen demonstriert. Der elliptische Stil, die strenge Prüfung der eigenen „Gedächtnisformate“ und die Reduktion und Konzentration der poetischen Materialien – das führt zu einem skulpturalen Schreiben, wie es der Autor zu seinem Ideal erhoben hat: „den Text als Ding wirklich erst mal herzustellen, vor sich hinzustellen wie einen Stein- oder Marmorblock.“
Marcus Roloff, 1973 in Neubrandenburg geboren, übersiedelte 1989 mit seiner Familie nach Bremen und studierte Neuere deutsche Literatur, Philosophie und Kulturwissenschaft an der Humboldt Universität Berlin. Er lebt als Lyriker und Übersetzer in Frankfurt. 2015 erscheint sein neuer Gedichtband. Das Gedicht „hl.grab, eingang wahlkapelle“ wird hier zum ersten Mal veröffentlicht.

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02.11.2014