![]() |
![]() |
poeten | ![]() |
loslesen | ![]() |
gegenlesen | ![]() |
kritik | ![]() |
tendenz | ![]() |
news | ![]() |
links | ![]() |
info | ![]() |
verlag | ![]() |
poet | ![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
Jan Koneffke
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
In dieser Nacht als du zur Welt kamst Kind verirrtes Lebewesen ohne Leben aus warmem Mutterleib du selber kalt ein Kind das nie erfuhr was Sterne sind die teilnahmslos in schwarzer Tiefe schweben in dieser Nacht ein Totenampelwald es war ein Schmerz der sich in uns verkrallte und an den Irrsinn streifend mit sich riß im Haus in dem dein Schweigen widerhallte wir haben deine Stimme nie vernommen und durften nicht erfahren wer du bist und sein wirst dieses von der Finsternis verschlungene Leben Tag um Tag benommen sind wir an es erinnert das nicht ist in dieser Nacht als du zur Welt kamst Kind grausamer war der Himmel nie erhaben der sich im Eisen drehte stumm und blind im Garten nah beim Haus bist du begraben
Michael Buselmeier Es gibt wahrscheinlich keine schmerzhaftere Erfahrung als den Tod des eigenen Kindes. Für Jean Paul etwa war der Tod des Sohnes Max, eines Theologiestudenten, der 1821 am „Nervenfieber“ starb, ein schrecklicher Schlag, von dem er sich nicht mehr erholte. Friedrich Rückert schrieb 1833/34 seine Kindertotenlieder, 428 an der Zahl, die sich vor allem durch Gustav Mahlers Vertonungen im öffentlichen Bewusstsein gehalten haben. Während Rückert den Tod zweier kleiner Kinder beklagte – ihm blieben vier weitere erhalten –, erinnert das hier vorgestellte Gedicht an eine Totgeburt, die Jahre zurückliegen mag, ein Trauma, das die Betroffenen, den Dichter Jan Koneffke und seine Frau, seither ständig begleitet. Die mitunter grelle Wortwahl und das drängende jambische Metrum legen es nahe. Das Gedicht wirkt fremd zwischen all den virtuos ins Surreale gedrechselten Texten im jüngsten Jahrbuch der Lyrik, es steht aber auch in Koneffkes eher heiter gestimmtem lyrischen Werk, wo Witz, Ironie und Phantasie dominieren („Gelbes Dienstrad wie es hoch durch die Luft schoß“), einzigartig da. Es thematisiert sozusagen den Ernstfall, der das poetische Spiel durchschlägt, der Avantgarde entsagt und an die seelische Substanz rührt, es spricht – mit einem gewissen Pathos und also auch einem hohen Risiko – vom großen Schock, den der „kalte“ Körper des Kindes und sein „Schweigen“ auslösten. Ein weher Ton kommt auf angesichts des Verlusts, eine Wundheit, eine Dringlichkeit, und man ahnt: das Berichtete könnte Vers um Vers so geschehen sein. Mit diesem namenlosen Kind sind zugleich alle Kinder-Hoffnungen gestorben. Jan Koneffke hat das dem toten Kind in der Oktobernacht gewidmete Gedicht nicht mit lässiger Routine zu Papier gebracht, er hat sich Zeit genommen und sich gequält. Und er hat, um das Erlebte zu objektivieren, ähnlich wie die Expressionisten zu vertrauten lyrischen Formen gegriffen, zum fünffüßigen Jambus und zum Endreim. Sie fügen das Geschehene zu einem späten, ritualhaft strengen Abschiedspoem. Mit starken Bildern beschwört der Dichter die Abgelegenheit und Gottverlassenheit von Ort, Raum und Zeit. Der Himmel ist ein nachtschwarzer Schlund, den die „teilnahmslos“ glimmenden Sterne in einen „Totenampelwald“ verwandeln. In der letzten Strophe, die den Beginn der ersten wiederaufnimmt, taucht auch dieser „grausame“ Himmel, „der sich im Eisen drehte stumm und blind“, noch einmal auf. Ähnlich wie bei Georg Büchner (im Märchen der Großmutter im Woyzeck), wie auch bei Jean Paul (in der Rede des toten Christus) ist er gnadenlos leer und tot, und das Weltgebäude kreist immerfort sinnlos in sich selber, ohne sich um die Bedürfnisse und Wünsche der kleinen Menschentiere nur für einen Moment zu kümmern. Jan Koneffke wurde 1960 in Darmstadt geboren. Er studierte Philosophie und Germanistik in Berlin, schreibt Gedichte, Romane und Erzählungen, lebt abwechselnd in Bukarest und in Wien. Das vorgestellte Gedicht findet sich im Jahrbuch der Lyrik 2013, Deutsche Verlags- 03.08.2013
|
![]() |
Gedichte, kommentiert
|
|
poetenladen | Blumenstraße 25 | 04155 Leipzig | Germany
|
virtueller raum für dichtung
|
![]() |