poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und
Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Wolfgang Hilbig
Pro domo et mundo

Nun wird es dunkel: du mußt anders werden
die Wasser fließen schneller und ihr kalter Dunst gerinnt
ein schwarzer Tag entsteigt dem tiefer blauen Meer –
und nichts mehr zählen die noch glücklich Heimgekehrten
jetzt zählen die schon lang vergessen und verloren sind.

Und Ströme schießen wie von anderen Gestaden her
aus Felsenwelten ausgebrannt doch nie berührt von Sonnen
es ist ein Fluten das sich nicht mehr wendet:
der Urwellen Anfahrt hat begonnen.

Nun fällt die Nacht: die Zeit die dauernd endet
und dir gebrichts am Wort mit dem du ferner handelst
was gestern licht und wert war ist verschwendet –
und es ist Nacht und Zeit daß du dich wandelst.


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 10

Michael Buselmeier
Nachtgesang


Wolfgang Hilbig war ein Experte der Finsternis. Er kam aus den „schwarzen Wäldern“ Sachsens, dem Braunkohle-Gebiet um Leipzig, hatte schon als Kind die maroden Fabriken der DDR, die durch den Tagebau entstandenen Tümpel und die stinkenden Bäche durchforscht, Staub und Asche geschluckt, noch bevor er sich auf autodidaktischem Weg ans Schreiben machte. Unerklärlich, wie der gelernte Bohrwerksdreher und spätere Heizer, der im sächsischen Prole­tariat unter Sprachlosen aufwuchs, zur großen, unverwechselbaren Sprache seiner Gedichte und Prosa­werke fand. Auch wenn man eine frühe Lektüre Rimbauds, Edgar Allen Poes und der deut­schen Romantiker in Rechnung stellt, bleibt ein unbegreiflicher Rest.

Hilbig hatte ein Wissen von fernen Welten, ein Organ für die Botschaften, die aus den Abgründen unserer Vorgeschichte aufsteigen, ein Gespür für das Zeit- und Grenzenlose dieser scheinbar verlorenen, von Däm­merung befallenen Hohl­räume; für Wüsten und Meere, brennende Steppen. Wie viel davon, schien er zu fragen, ließe sich vom Dichter in kreisender Sprach­bewegung noch erretten? Dieses „mit den Meeren spielende Kind“ (so Franz Fühmann über den jungen Hilbig) kam aus einer von Menschen leeren Vorzeit und ver­suchte – hoch pathe­tisch, in jam­bischen Metren, Rhythmen und Reimen – von den Geheim­nissen unbe­kannter Sterne zu sprechen, von der Bedrohlichkeit der Elemente, den „kata­strophen im tertiär“.

Hilbig liebte die Nacht, er schrieb nachts wie im Rausch und schlief am Tag, er mied die Sonne und fühlte sich „von dem licht betrogen“. Immer wieder hat er in seinen Texten die „Unend­lichkeit“ der jäh einfallenden Nacht und das apo­kalyp­tische Herein­brechen der „Flut“ beschworen – so auch im vorlie­genden Gedicht. Ent­standen 1993, noch in Edenkoben, beschließt es Hilbigs letzten Gedicht­band Bilder vom Erzählen (2001). „Ein schwarzer Tag entsteigt“ dem Meer, Wasser­ströme „schießen“ herbei, und „der Urwellen Anfahrt“ beginnt. Nur die Heere der „schon lang“ Vergessenen, die Toten also, „zählen“ jetzt noch etwas, sie stehen auf aus ihren Gräbern.

Doch diese Weltnacht bietet auch eine Gelegenheit zur Wandlung. Das Rilke-Wort „Du mußt dein Leben ändern“ klingt zweimal an und fasst das Gedicht in eine Art Klammer. In Rilkes berühm­tem Sonett wird die höhere, gleichsam meta­physische Mahnung vom Anblick eines archai­schen Torsos ausgelöst, in Hilbig metrisch strengem Gedicht von der unerbitt­lich nahenden Katastrophe, die selbst diesem poèt maudit zeitweise die Sprache verschlägt: „und dir gebrichts am Wort mit dem du ferner handelst“.

Die Bilder der Frühe sind zugleich solche des Endes; das ursprüngliche Chaos kehrt wieder. Pro domo et mundo ist ein großes, expressives, der Inspiration geschuldetes Gedicht, das den Vergleich mit Versen von Hölderlin, Rimbaud und Georg Heym nicht scheuen muss. Die Sprache ist von biblischer Strenge, ein dunkler Bilderstrom. Welt und Ich stehen gleichermaßen im Fokus, während das Weltende, die Nacht völligen Vergessens naht. Es sei denn, du änderst dein Leben, um ein besseres, unangepasstes zu führen… ein Leben, in dem „das Andere“ der Poesie aufscheint.

Wolfgang Hilbig wurde 1941 im sächsischen Meuselwitz geboren. 1985 reiste er in die Bundesrepublik aus, lebte in Hanau, Nürnberg, Edenkoben und Berlin. Er starb 2007 in Berlin. Das vorgestellte Gedicht stammt aus dem Band Gedichte, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2008.
Wir danken dem S. Fischer Verlag für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Gedichts im Kontext dieses Kommentars.





Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

Weitere Details   
portofrei online   

  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

Weitere Details   
portofrei online   

 


09.10.2011



 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Wolfgang Hilbig
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge