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Carolin Callies
wackersteine im wams (aufbewahrungsverhältnisse)


das tieferreingraben & das härterrauswachsen:
der leib war ein brett & ist plötzlich ein wams
& ich nähe mir drahtkörbe ein

oder schubladen:
ist das dein gefäß für den letzten rest froschlaich,
den du hast auftreiben können?

was ich dich in tüten trüge
(als trüge ich kastanien),
ist als arbeit anzusehen.

ich trag ab jetzt pferdewagen im bauch
& bin ein behältnis & füll mich mit steinen
& schäle die rinden & wühle in mägen anderer rum.

  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 59

Michael Braun
Körpergeschichten



Der Körper des modernen Menschen ist ein Schlacht­feld. Wir model­lieren und opti­mieren den Leib nach Belieben, unter­ziehen ihn unter­schied­lichs­ten Verfahren der Täto­wierung, der kosme­tischen Operation oder Trans­plan­tation oder gar der ge­schlecht­lichen Trans­formation. Die Dichterin Carolin Callies zeigt uns in ihrem Debütbuch „fünf sinne & nur ein besteck­kasten“ den Körper als fremdes Objekt, das sich in unab­lässiger Ver­wand­lung befindet und mani­puliert wird. „der körper ist ein ge­schichten­band“, heißt das aller­erste Gedicht des Buches – und in den folgenden Gedichten schaut das lyrische Subjekt meist auf eine versehrte Körper­lich­keit, auf den malträ­tierten Leib. Und wenn dann die Geschichten vom Körper erzählt werden, dann sind es oft unerfreuliche Geschichten. Denn der Körper er­scheint nicht in schöner Propor­tion, in Ganzheit oder Harmonie, sondern im Stadium des Zerfalls.
  Im ersten Teil ihres Buches dominieren die sarkas­tischen Beschrei­bungen somatischen Unheils. Die werden in einem burles­ken Ton vorge­tragen, so dass die Bilder beschä­digter Leib­lich­keit nicht als finste­res Endspiel, sondern als groteske Komödie daher­kommen. Viele Gedichte oszil­lieren zwischen harter Des­illusio­nie­rungs-Poesie und frivoler Leichtig­keit und leis­ten sich die kalauernde Verab­schiedung erotischer Illu­sionen. Die Bilder nicht nur von roman­tischer Liebe, sondern auch von körper­licher Unver­sehrt­heit werden lässig weg­gewischt; was bleibt, sind Verun­sicherungen.
  Callies´ Gedichte auf ein ästhetisches Schock­prinzip fest­legen zu wollen, wäre jedoch verfehlt. Die motivisch weniger spekta­kulären Texte des Bandes greifen die alten Themen, Motive und Stil­lagen der Poesie auf. An ver­steckten Stellen kommt auch eine religiöse Dimen­sion ins Spiel – nämlich der grau­sam traktierte, mit Nägeln malträ­tierte Leib des Gekreu­zigten. Eine Reihe von Gedichten inte­griert und ver­wandelt ein­schlä­gige Märchen-Motive. „wacker­steine im wams“ erscheint in diesem Zusammen­hang als eine verstörende Körper­geschichte, in der Phan­tasien der Inkor­poration durch­gespielt werden. Die uner­hörten Bege­ben­heiten und Teile des vo­kabu­lären Materials („wackersteine“, „wams“) refe­rieren auf Grimms Märchen vom „Wolf und die sieben jungen Geißlein“. Im Märchen ist es die Geißen­mutter, die dem bösen Wolf, der sechs Geiß­lein ver­schlungen hat, mit Nähzeug den Bauch öffnet und den Geißlein damit das Leben rettet. Darauf­hin werden Steine in den Bauch des Wolfs ein­genäht. Diese schlichte Dicho­tomie von Gut und Böse wird von Carolin Callies auf­gehoben. Denn in ihrem Gedicht ist es das Subjekt selbst, das mit großer Ent­schlossen­heit den Leib in ein „behältnis“ verwandelt und dem Körper Phan­tasien der Ein­ver­leibung und Deforma­tion widmet. All diese Prozesse der Inkorporation können auch als ver­spiegelte Re­flexionen auf schmerz­hafte Geburts­vorgänge gelesen werden. Der „frosch­laich“, der ein bestimmtes Stadium der Meta­morphose durchläuft, und die drastischen Zeichen der Verhär­tung und Strapazierung des Bauches, verweisen auf elementare Trans­formationen, die sich im Körper des Subjekts vollziehen. Am Ende erlangt das Ich, das zuvor der Schauplatz schmerz­hafter Körper­prozesse war, wieder die Herrschaft über das eigene Handeln. Und es folgt die trotzige Ankün­digung, nun selbst „in mägen anderer herum­zuwühlen“. Eine aggres­siver Befreiungs­akt – der das fort­gesetzte Trak­tieren des Körpers mit ein­schließt. Das dezi­dierte Inter­esse an „auf­bewahrungs­ver­hält­nissen“ und am Sor­tieren von Gegenständen in „schachteln“ und anderen „behält­nissen“ ist auch in anderen Gedichten von Callies zu beobachten. Das ist auch ein Resultat ihrer lite­ratur­wissen­schaft­lichen Studien zu Fragen des Sor­tierens und Verwahrens von Dingen. Diese burleske, mit Obszö­nitäten koket­tierende Poesie – sie tor­pediert unsere Hoffnungen auf körper­liche Unver­sehrt­heit.

Carolin Callies, geboren 1980 in Mannheim, durchlief eine Aus­bildung zur Verlags­buch­händlerin beim Suhrkamp Verlag und studierte anschlie­ßend Ger­manistik und Medien­wis­sen­schaften in Mann­heim. Sie arbeitet als Lite­ratur­verans­talterin und als Le­sungs­organi­sato­rin beim Verlag Schöff­ling & Co. Das Gedicht ist ihrem Debüt „fünf sinne & nur ein besteck­kasten“ (Schöff­ling & Co, 2015) ent­nommen.

Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     02.11.2015




Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

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Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Carolin Callies
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge