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Elisabeth Langgässer
Erster Adventssonntag
Erwecke, o Herr, unsre Herzen! (Oratio)

Brich auf, o Welt! Die Himmel fallen
von Fülle berstend, in das Land,
und jäh empor, gleich Meereswallen,
rauscht Volk an Volk gen Jahwes Hand.

Bestürme alles Fleisch, Erwachen!
Und mehre seiner Knechtschaft Qual,
daß Brüllen wie aus Löwenrachen
erschüttre unsres Geistes Saal.

Zerreiße Mauer, Damm und Küste,
ich will nicht Form und nicht Gestalt,
ich treibe hin durch Nacht und Wüste,
ich heiße Feuer! Schwert! Gewalt!


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 6

Michael Buselmeier
Gottespfeile


Im Frühling 1924 erschien, als erste Buchveröffentlichung der jungen katholischen Dichterin Elisabeth Langgässer, Der Wendekreis des Lammes, ein Gedichtzyklus zum Kirchenjahr, begin­nend mit dem ersten Advents­sonntag und endend mit Aller­heiligen. Es handelt sich, so der Unter­titel, um einen „Hymnus der Erlö­sung“, einen feierlichen Lobgesang, der auf die Tradition der vorchristlichen Antike wie auf die christliche Liturgie des Mittelalters zurück­weist. Elisabeth Langgässer wählte jeweils einen Satz aus dem Text der Liturgie des Tages und erschloss im Gedicht dann seine besondere Bedeutung.

Der Satz „Erwecke, o Herr, unsre Herzen!“ aus der Oratio steht über dem Gedicht zum Ersten Advent. Es ist so streng geformt durch Kreuzreim und jambi­sches Metrum, von solcher sprach­lichen Härte und rhyth­mischen Kraft, dass man unwill­kürlich an die Psalter des barocken Mystikers Quirinus Kuhlmann („Triumph! Triumph! Triumph! Wir fahren ein …“) oder auch an Verse Stefan Georges („Euch all trifft tod. Schon eure zahl ist frevel.“) denkt. Offen­sicht­lich ist die „Erweckung der Herzen“ für die Dichterin kein sanfter Erfahrungs­prozess, wie noch für die von ihr bewun­derte Annette von Droste-Hülshoff, die ebenfalls ein Gedicht auf den Ersten Advent geschrieben hat: „Du bist so mild, / So reich an Duldung, edler Held…“ – sie erfolgt vielmehr mit äußerster Radikalität, als Apokalypse. Himmel und Erde umarmen sich nicht, um eins zu werden, sondern es „fallen“ die Himmel „berstend“ in das Land, und ein unerbitt­licher Gott „zerreißt“ Mauern und Dämme. Auch der erlö­sungs­bedürftige Mensch ist nur auf­glühendes und dahin­sterbendes „Fleisch“, um dessen vermehrte „Qual“ ein ekstatisches Ich bittet, das sich selber im letzten Vers hoch­fahrend und schneidend abstrakt als „Feuer! Schwert! Gewalt!“ definiert.

Der Gott, der hier angerufen wird, ist ein archaischer und schreck­licher Herrscher, dem man sich nur blind unter­werfen kann. In diesem Zyklus geht es nicht selten gewaltsam zu nach Art des Alten Testaments, obwohl doch eigentlich Christi Geburt, Tod und Auferstehung, also auch seine Menschen­liebe das Thema ist. Elisabeth Langgässer war eine christ­liche Fundamen­talis­tin mit kriegerischem Voka­bular, die ihre Gedichte als Gottespfeile verstand. In ihr Christus­bild spielt auch der Gott Dionysos hinein mit einer tief ernsten und fast orgiastischen Inbrunst. Nietzsches Ecce homo-Pathos ist da nicht fern: „Licht wird alles, was ich fasse, / Kohle alles, was ich lasse: / Flamme bin ich sicherlich!“

Ihre steile Sprach­gestik, abseits von jedem Alltag, ihre barocke Ausdrucks­fülle und ihr fundamen­taler Katho­lizismus dürften die Gründe sein, weshalb diese kompro­miss­lose Dichterin rund 60 Jahre nach ihrem frühen Tod so gut wie vergessen ist. Auch die umfang­reiche Langgässer-Biographie Sonja Hilzingers aus dem Jahr 2009 konnte daran wenig ändern. Die Vorstel­lung, dem Gang der Heils­ge­schichte ausge­liefert zu sein und eine Puppe in Gottes Hand, passt nicht mehr in unsere Zeit eines aufge­klärten Humanis­mus, die jedoch zugleich beliebig, substanz­arm und form­los erscheint.

Elisabeth Langgässer wurde 1899 im rheinhessischen Alzey geboren; sie starb nach längeren Aufenthalten in Darmstadt und Berlin 1950 in Karlsruhe. Postum erhielt sie den Georg Büchner-Preis. Das vorgestellte Gedicht stammt aus ihrem Band Gedichte, Hamburg 1959.






Band 1
 
  Band 3  
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03.06.2011



 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Elisabeth Langgässer
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Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
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Zum Andenken an den Kater Nero
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Die Bahn einer Meeresschildkröte
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An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
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Neunundzwanzigster Februar
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Nach Mattheuer
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Gottesgedicht, unberuhigt
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sobald die Stadt ...
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Dritter unvollständiger Versuch
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Felsenmeer
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Böhmischer Rebstock
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