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Ulrich Zieger
an den vater von sem,
auf den straßen der abgewiesenen liebhaber, nach einem haisommer fliegen über jedem kopf zwei turteltauben, die eine blutet still die andere lauthals, eulen fallen aus astlöchern ob des durchdringenden pfeifens, gartenstühle wurden in die pavillons geschoben, die mitte des platzes bleibt leer dort verdampfen fontänen, man hält sich an zeitungen zeitungen gehen, sie werden am abend gebracht sie verschwinden schon bald, wo die überschlagschaukel sich drehte hing später ein kranhaken, daran hing nichts.
Michael Braun Der Dichter Ulrich Zieger ist ein Liebhaber der Abgeschiedenheit: Sein Lebensweg ist dechiffrierbar als schrittweiser Rückzug in das kontemplative „Gehäus“, das seinem jüngsten Gedichtband den Titel gegeben hat. In Berlin, wo er in den 1980er Jahren in die kreativen, aber politisch doppelbödigen Netzwerke der „Prenzlauer Berg-Connection“ (Adolf Endler) involviert war, hielt es der aus dem sächsischen Döbeln stammende Autor nur zeitweise aus. Einige Jahre engagierte er sich in der unabhängigen Theatergruppe „Zinnober“ und als Mitherausgeber der Independent-Magazine „Schaden“ und „Verwendung“. Sehr früh löste er sich dabei von den szenischen Selbstverliebtheiten der Prenzelberg-Dichter und entwickelte einen eigenständigen, luziden Surrealismus, der die Gegenstände seiner Poesie aus den Koordinaten der Alltagsvernunft befreit und in wundersame Schwebezustände versetzt. Voraussetzung für diese poetische Emanzipation war die Absonderung von den Selbsttäuschungen der Metropolen-Poeten. Sein erster Gedichtband „Neunzehnhundertfünfundsechzig“ (1990), der immerhin mit dem Nicolas Born-Preis ausgezeichnet wurde, kreist in elegischen Sequenzen um eine düstere DDR-Kindheit, in die immer wieder eine unheimliche „Lautlosigkeit“ einbrach. Bereits 1989 ging Zieger nach Zwischenstationen in Berlin und den USA nach Montpellier in Südfrankreich, wo er noch einen Roman und ein Drehbuch für einen Wim Wenders-Film fertig stellte, ehe er 1997 scheinbar endgültig von den Bühnen des Literaturbetriebs verschwand. Als Zeugnis seiner großen poetischen Kunstfertigkeit blieb der 1992 publizierte Band „Große beruhigte Körper“ zurück – ein Versprechen auf eine Dichtkunst von suggestiver Schönheit, die den planen Realismus der Zeitgenossen überwindet. Nach fast fünfzehn Jahren der planvollen Abwesenheit meldet sich Ulrich Zieger mit seinen „Aufwartungen im Gehäus“ zurück. Und seine Beschwörung einer biblischen Urszene, die in der lyrischen Adressierung „an den Vater von Sem“ anklingt, nimmt ein Motiv aus „Große beruhigte Körper“ wieder auf. Dort gibt es ein Gedicht, in dem ein im späten Mittelalter ausgestorbener Vogel, die Dronte, ins Leere fliegt und dabei von einem Engel begleitet wird. Diesen Flug ins Leere scheinen auch die beiden „turteltauben“ des vorliegenden Gedichts zu absolvieren. Dass diese beiden Turteltauben offenbar verletzt und blutig ihren Flug über den Köpfen vollziehen, darf man wohl als apokalyptisches Zeichen verstehen. Denn der „Vater von Sem“, der hier angerufen wird, ist der biblische Noah, der Weltenretter, der laut Überlieferung einige ausgewählte Exemplare seiner Spezies vor der Sintflut bewahrt. Nach dem Bericht im Buch Mose zeugte Noah erst im Alter von fünfhundert Jahren seinen Sohn Sem, der dann mit seinen Brüdern Ham und Japhet die wieder kultivierbare Erde bevölkerte. Ziegers Gedicht changiert zwischen einer phantastischen, traumnahen und einer alltagsrealistischen Darstellungsweise. Das ironisch-expressionistische „Weltende“ des Jakob van Hoddis winkt von ferne herüber. Den einzelnen Gedicht-Abschnitten gemeinsam ist nur die Menschenleere, der fast fotografische Schwenk auf Pavillons und Spielplätze dokumentiert Szenarien der Verlassenheit. Es ist ein Bild des großen Verschwindens, das von Situationen erzählt, die soeben noch von einem regen Alltagsleben zeugten und jetzt nur noch Stummheit verkörpern. Jetzt ist nicht nur „die Mitte des Platzes“ leer – abwesend sind auch jene, die mit großer Entschlossenheit ihr Geschick in die eigenen Hände nehmen wollten: die „abgewiesenen liebhaber“, die Flaneure im Garten, die Zeitungsleser, die schaukelnden Kinder. Die blutigen „turteltauben“ bringen keine Zweige mit, die ein rettendes Eiland anzeigen würden. Am Ende ragt nur noch ein funktionsloser Kranhaken ins Bild. „Man wird mich als schweigsam erinnern“, heißt es in einem anderen Gedicht von Ulrich Zieger, „man wird nichts mehr wissen.“ Ulrich Zieger, geboren 1961 in Döbeln, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Montpellier und Berlin. Sein Gedicht ist dem Band Aufwartungen im Gehäus entnommen, der in der Edition Rugerup (Berlin/Hörby, Schweden 2011) erschienen ist. 01.07.2011 |
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