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Àxel Sanjosé
Zum Abschied hell,
ein Rinnsal quillt so leis davon
davon heißt jemals, und nicht ich,
was sickert hier, was sickert

von irgendher, von draußen rein,
das Land so leck, die Zunge gelb,
was endet hier nicht Fisch nicht Reh,
was brennt die Naht im Fell.

Der Einsilb kommt mit falber Pracht,
dem immer nur das Letzte war.
Wir stummen leis das erste Lied,
wer sind wir hier


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 41

Michael Braun
Orphische Entfaltung



Von Karl Kraus stammt die schöne Maxime: „Künstler sollten Rätsel schaffen, nicht Lösungen.“ Um diese Arbeitshypothese umzusetzen, vertrauen manche Lyriker auf ein enig­mati­sches Sprechen, das seine Energie aus jener „Tropen- und Rätsel­sprache“ bezieht, die einst dem Romanti­ker Friedrich von Harden­berg alias Novalis als Ideal vor­schwebte. Auf „Rätsel“ in diesem künst­le­ri­schen Sinne tref­fen wir häufig in der sehr ver­schlos­senen, alle Stoffe, Themen, Sub­stan­zen und Motive extrem kon­zen­trie­ren­den Gedicht­sprache Àxel Sanjosés. Für seine Art zu schrei­ben, bemüht die neuere Lite­ratur­geschich­te gerne die Kate­gorie „herme­tisch“. Er bevor­zugt eine poetische Eng­führung der Motive, die sich zum einen an die Sprach­kunst Ste­phane Mallarmés anlehnt, an dessen Verfahren der „orphischen Ent­fal­tung“, wobei es – so Mallarmé – darum geht, in „aus­drücklich gewoll­tem Dunkel das ver­schwie­gene Ding (zu) beschwö­ren mittels an­spie­lender nie direkter Worte.“ Eine zweite Bezugs­figur für Sanjosé ist der fast schon vergessene Günter Eich, von dem er die Neigung zur Ver­kürzung und Ver­knap­pung adop­tiert hat. In seinen Notizen hatte Eich der­einst den Widerstand gegen jegliches Dekor und gegen pseudo-kommuni­kative Gesten ange­kündigt: „Ich bin eher graphisch, schwarz-weiß, bin fürs Weg­lassen, für die Abkürzung, fürs Stenogramm, meine, dass jedes Gedicht zu lang ist, habe nichts für Schmuck übrig und für ma­lende Adjek­tive, kurzum, ich bin gegen das, was man land­läufig poetisch nennt.“
  Àxel Sanjosé hat im August 2013 den sehr schmalen, aber äußerst sub­stan­tiel­len Ge­dicht­band „Anaptyxis“ vor­gelegt, nur 32 Gedichte, an denen er frei­lich über zehn Jahre gear­beitet hat. Die Strenge des Dich­ters gegen sich selbst hat sich gelohnt. In diesem Buch wird man keine Zeile finden, die nur dekorative Funk­tion hat oder ein geläu­figes Meta­phern-Reper­toire be­dienen würde. Diese Ge­dichte haben un­end­lich viele Be­ar­beitungs­stufen durch­laufen, bis sie jenen ge­schlif­fenen Zustand er­reicht haben, jene opak schimmernde Sprach­gestalt, mit der sie nun in „Anaptyxis“ auf Leser warten. Die kryp­tische Titel­fügung „Anaptyxis“ meint einen Pro­zess der „Ent­faltung“ oder „Auf­faltung“ und ver­weist damit nicht nur auf Mallarmés Poe­tik, sondern auch auf sein be­rühm­tes Sonett „Ptyx“.
  Das vorliegende Gedicht produziert bereits durch seine metrische Struktur eine hypno­tische Melodie. Die jambisch strukturierten Verse führen hinein in ein Szenarium des Ab­schieds, des Ver­sickerns und des Leiser­werdens von Ge­räu­schen und Stimmen. Etwas gerät in die Dämmer­zone, etwas geht zu Ende, und wir betrach­ten noch einmal fan­tas­tische Phäno­mene, Traum­fi­guren und hören ein Lied, das so leise ist, das es nicht mehr zu hören ist. Der hier apostrophierte „Einsilb“ mag einen an das geheim­nis­volle Ein­horn denken lassen, das edelste aller Fabel­tie­re. Das fahl­gelbe Fell des „Ein­silbs“ leuch­tet, und ein gelbes Leuchten und Auf­fla­ckern grun­diert das ganze Ge­dicht. Am Ende steht ein faszi­nierendes Para­doxon: „Wir stummen leis das erste Lied / wer sind wir hier“. Stumm­heit und Gesang sind in diesem Vers para­dox vereint. Das lyrische „Wir“ ist in einen Wirbel der Finalität geraten, alle Zeichen stehen auf Abschied. Das Lied, das da tönen soll, bleibt unhörbar. Nur eine Frage nach der exis­tenziel­len Ver­fasst­heit des Spre­chenden bleibt als schwe­bendes Element im Raum des Gedichts – und bleibt ohne Ant­wort.
  Àxel Sanjosé, der in Barcelona aufge­wachsen ist, hat eine Sentenz des kata­lanischen Dichters Salvador Espriu als Motto für seinen Band aus­gewählt: „Das Lied versiegt, / wenn ich versuch, es anzu­stimmen“. Diese Er­fahrung, dass sich Sprache sofort ent­zieht, wenn man ihrer instru­mentell habhaft werden will, bildet das Fundament der Poesie Àxel Sanjosés – für ihre Skepsis und ihre Sprach­musik.

Àxel Sanjosé, 1960 in Barcelona geboren, lebt seit 1978 in München. Er ist haupt­beruf­lich für ein Design- und Kommuni­kations­büro tätig, daneben Lehr­beauf­trag­ter am Institut für Kompa­ratistik und Über­setzer spani­scher und kata­lanischer Poesie. Sein Debüt­buch „Gelegentlich Krähen“ (Verlag Ralf Liebe, Weilerswist) erschien 2004. Das vorliegende Gedicht ist dem Band „Anaptyxis“ (Rimbaud Verlag, Aachen 2013) ent­nommen..

Wir danken Autor und Verlag für die Wiedergabe im Rahmen dieses Gedicht­kom­men­tars.



Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

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Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht    02.05.2014



 

 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Àxel Sanjosé
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge