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Tristan Marquardt
nachts, ich laufe nach hause nach draußen. boden hat ohren, wo meine sohlen sind. hören, wie es um mich bestellt ist. horchen, aufs leiseste laut. großes ja, mit dem finger in die luft getippt, zu sagen, ja, dieser außenraum ist mein innenleben. und nächtlich geisterfahrer, die kaffee trinken als ihr einziges, trauriges zitat. zu sagen, ja, ich habe straßen gesehen, alpen aus haar. porsche und büsche, erwachsenes gras. ihr nicht gehen, nichts sehen. meine augen auf ihnen wie die aussicht auf eine sechste jahreszeit. ferne war da, ferne als maßeinheit. schüler war da, lehrer. zu sagen, wer krank ist, wird vom sinn des lebens nicht geheilt. sanft die kuhle meiner hand auf seine stirn zu legen, dieses gratis gefühl, fantasielos und warm. mich zu erwischen in kontemplation. was war es gleich, dass die mücken verharrten im flug für eine sekunde, tags, als die zeichen zu scheiden mein auftrag nicht war. dass ich ging und ich geh. zu sagen, schatz, heute nacht ist ein großes passieren, es feiern die mücken ein bisschen am see. und immer herzschlag, wenn eine streife, und meine hände in die höhe schnellen, als sei es, der last einer jahr- hunderteschweren schönheit etwas entgegen zu halten. gewissheit vielleicht, häuser stünden nicht. sind stehen geblieben. oder zweifel, ob jedes fenster aus künftigen scherben besteht. dann sagen, ja, ich weiß nicht, welches spiel hier gespielt wird. ich weiß nur, es steht 1:0.
Michael Braun
„Der bisherige Mensch ist zu Ende, Biologie, Soziologie, Familie, Theologie, alles Prothesenträger.“ Die finalistische Ansage Gottfried Benns, die er 1950 in seine Bekenntnisschrift „Doppelleben“ schmuggelte, könnte das Motto bilden für die Unternehmungen des erfindungsreichen Dichters, Mediävisten, Literaturveranstalters, Kollektiv-Gründers und DJs Tristan Marquardt (geb. 1987). Er ist sicher der kreativste Kopf einer Gruppe junger Lyriker, die sich von den traditionellen Produktions- und Rezeptionsweisen der lyrischen Moderne, auch in ihren postavantgardistischen Ausläufern, emanzipieren will. Tristan Marquardt, der gerade an einer mediävistischen Dissertation arbeitet, hat einiges auf den Weg gebracht: Er war Mitgründer des sogenannten Lyrikkollektivs G13, initiierte diverse Lyrik-Veranstaltungsreihen, sucht nach Synergien in der Blogosphäre der jungen Lyrik-Community – und entfachte zuletzt eine erhitzte Debatte über die Anforderungen an eine zeitgemäße Lyrik-Kritik. Sein erstmals in der Literaturzeitschrift EDIT (Heft 65/2014) veröffentlichtes Gedicht entfaltet eine Poetik der Kontemplation als eine Art alltagsweltliches Floating durch eine Innenwelt, die sich an den Bewusstseinsreizen des „Außenraums“ auflädt. Da ist zunächst die große Weltbejahung eines Flaneur-Subjekts, das die Erfahrung von Nähe und Ferne vereinen, sich mit wachen Sinnen eine gesteigerte Wahrnehmung erobern will, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu synthetisieren sucht in einer rauschhaften Präsenz. Dieses Weltgefühl wird hier subtil umgesetzt in eine schöne Fließbewegung der Verse. Dass dabei ein feinfühliges Formbewusstsein am Werk ist, zeigt schon das Spiel mit dem Repertoire lyrischer Rhetoriken. Die direkte Invokation eines Du („zu sagen, schatz, heute nacht ist ein großes passieren“), die lockere Verflechtung von Antonymen („dieser / außenraum ist mein innenleben“, „aufs leiseste/ laut“) und der demonstrative Gebrauch von Assonanzen („alpen aus haar“, „boden hat ohren“) und Homophonien gehören zu den ältesten Suggestionstechniken der Dichtung überhaupt. Der Autor hat offensichtlich ein Vergnügen daran, die erhabenen Töne immer wieder durch beiläufig Eingestreutes zu konterkarieren, die Pathos-Anklänge auszuhebeln durch Kalauer oder Simplizitäten („ich weiß nur, es steht 1:0“). Es soll letztlich in der Schwebe gehalten werden, „welches Spiel hier gespielt wird“ – ob nun die gravitätische Feierlichkeit oder das entspannte Parlando hier das Sagen hat. Der nächtliche Flaneur arbeitet an der Aufhebung der Differenzen, am Ineinanderfließen der Gegensätze. Nicht „Unterschiedenes ist gut“ (Hölderlin), sondern die Aufhebung der Differenz der Zeichen, die erst den Eintritt in die „Ununterschiedlichkeit“ (Rainald Goetz) der Erfahrungen mit sich und den Anderen ermöglicht. Das Gedicht präsentiert sich als Existenzsignatur – aus ironischer Halbdistanz. Es zieht uns hinein in die Beschleunigung der Herzfrequenz, so wird der erlösende Moment, „das große Passieren“ herbeigesehnt. In diesem poetischen Prozess wird das Alte abgeworfen: die „Last einer jahrhunderteschweren Schönheit“. So entsteht eine imaginierte Biografie in poetischer Abbreviatur, die auch das existenzielle Antriebsmoment jedweden Dichtens festhält: „hören, wie es um mich bestellt ist.“ Zur Entdeckung des Textes hat auch Gerhard Falkner beigetragen, der in einer Rundfunk-Reihe („Dichter empfehlen Gedichte“) dem Marquardt-Gedicht bescheinigte, deutlich zu machen, „was die Sprache im Innersten zusammenhält“.
Tristan Marquardt, geboren 1987 in Göttingen, lebt als Lyriker, Literaturveranstalter und als Übersetzer aus dem Mittelhochdeutschen in München und Zürich. Sein Debüt „das amortisiert sich nicht“ erschien 2013 bei kookbooks (Berlin). Im Herbst 2017 ediert er gemeinsam mit Jan Wagner im Hanser Verlag eine umfassende Anthologie mit poetischen Neuübersetzungen der Minnesang-Dichtung. Das vorliegende Gedicht ist ein Teil des Zyklus „tag- und nachtlieder“, der in Heft 65 der Literaturzeitschrift EDIT erschienen ist. Druckansicht
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