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Sascha Kokot
sobald die Stadt zur Ruhe gekommen ist
kann ich die Tiere noch hören
ihre verhaltenen Rufe und Krallen
alte Streunpfade entlangwetzen
wo sich der Unrat verfängt und wüst modert
gruben sie die letzten unversiegelten Flächen auf
ihr Bau muss bis weit unter unsere Kellergewölbe reichen
sich in Hecken hinter Zäunen zwischen Gleisbetten öffnen
früher sah ich sie dort vereinzelt verschwinden
jetzt finden sich nur noch die Spuren ihrer Jagd
oder eine Losung als Hinweis auf das Grollen
das seit einiger Zeit in den Mauern zu spüren ist
und in meinen Träumen anschwillt

  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 80

Michael Buselmeier
Wie Schwemmholz



Unsere Welt ist voll von unheimlichen Winkeln und verkommenen Gassen, wo immer man genauer hinschaut. Nicht nur in den endlos wuchernden Slums und Ghettos der Großstädte, auch in kleineren Orten des ehemaligen Ostblocks sieht es häufig noch so aus. Das Morbide ist auf vielfältige Weise anziehend, so wie es etwa die marode DDR in ihrer Spätphase für westliche Voyeure war, die auf den krummen gepflasterten Wegen und in den wackligen Häusern Erfurts oder Naumburgs die kargen Jahre des Nachkriegs und damit die eigene, von Armut und Aufbruch bestimmte Kindheit wiederzufinden meinten, eine poetisch leicht verklärte Zeit der Ruinen und der leeren, mit „Unrat“ überhäuften Grundstücke, auf denen man noch abenteuerlich spielen konnte.
  Das vorgestellte Gedicht ist, wie fast immer bei Sascha Kokot, ohne Titel und sprachlich einfach gefasst; eine (oft hilfreiche) Gliederung durch Strophen, Metren, Reime und selbst durch Satzzeichen fehlt. Es beginnt damit, dass „die Stadt zur Ruhe gekommen ist“ – zweifellos eine andere Ruhe, als die in Eichendorffs „Abend“-Versen gemeinte: „Schweigt der Menschen laute Lust: / Rauscht die Erde wie in Träumen“. Der alltägliche Industrie-, Bau- und Autolärm dürfte langsam abgeklungen sein; dafür sind nun bedrohliche Laute von Tieren zu hören, die „ihre verhaltenen Rufe und Krallen / alte Streunpfade entlangwetzen“ (wobei die Ungleiches kombinierende Prägung „Rufe und Krallen“ eine bei Sascha Kokot beliebte rhetorische Figur darstellt; ähnlich heißt es an anderer Stelle: „Haken und Wurzeln schlagen“).
  Doch welche Art Tiere sind hier an der Arbeit, bemüht, ihre unsichtbaren Bauten und Gänge wie Spione bis unter die „Kellergewölbe“ und zwischen die „Gleisbetten“ voranzutreiben – handelt es sich um eher lautlose Wesen wie Ratten, Wühlmäuse, Kaninchen? Vielleicht um Echsen? Oder sollten größere Raubtiere in Frage kommen, von deren unterirdischer Anwesenheit wir kaum etwas ahnen, die aber eine latente Gefahr darstellen? In einem anderen Gedicht Kokots sind die Raubkatzen tatsächlich zurückgekehrt: „es leben Löwen im Untergrund“, heißt es dort, „sie durchschreiten die alten Schächte“, „wetzen die Krallen an der Grubensicherung“. Dass die Tiere im vorliegenden Text nicht genau identifiziert werden, scheint ihre agentenhafte Gefährlichkeit eher zu steigern. Auch die zurückgelassenen „Spuren ihrer Jagd“, die sich hier und da finden – Knochenreste, Blutflecken, Federn, vielleicht sogar Abhörprotokolle? – bleiben irritierend undeutlich. Besonders unheimlich aber wirkt „das Grollen / das seit einiger Zeit in den Mauern zu spüren ist“ und in den Träumen der verschreckten Bewohner „anschwillt“.
  Kokot scheint solche apokalyptisch illuminierten Szenerien zu goutieren: „noch lauern die Unwetter im Hochland“, heißt es einmal. Die dem Einzelnen begegnende Natur oder Landschaft ist ungastlich, roh, gelegentlich auch tückisch: „Baumgruppen“, die „im Moor ankern“, „tarnen sich“ als „Wald“ und verleiten so die Kinder, sich ihnen zu nähern. Und „hinter den Gärten“, also im Rücken der zivilisierten Welt, existieren noch alte Zechen und kaputte Berg- und Betonwerke; „Fallen“ sind ausgelegt, heißt es, vermutlich Überbleibsel der untergegangenen DDR, die für den in Leipzig lebenden Autor noch ähnlich real zu sein scheinen, wie sie es für den mehr als vierzig Jahre älteren Wolfgang Hilbig aus dem nahen Meuselwitz waren, der hier im Braunkohlegebiet seine poetische Landschaft gefunden hatte: „Und bald gehört die Stadt den Stimmen unbekannter Sterne.“ Draußen wird es nicht mehr hell, und auch in uns nehmen „Winterkälte“, „Dämmerung“ und „Schweigen“ zu, solange, bis wir nicht mehr sichtbar sind. Dass Hilbigs höllische Gegenden mit ihren unruhigen Erd- und Himmelsbewegungen, aus denen die Menschen (wie „Schwemmholz“) tendenziell verschwunden sind, auch Sascha Kokot inspiriert haben, ist unverkennbar und hier keineswegs als Vorwurf gemeint. Einen besseren Lehrmeister (und Formkünstler!) gibt es kaum, obwohl Hilbig alles andere als ein Vorbild sein wollte.

Sascha Kokot wurde 1982 in Osterburg in der Altmark (Sachsen-Anhalt) geboren und lebt seit Jahren in Leipzig. Das vorgestellte Gedicht wurde dem „Jahrbuch der Lyrik“ 2017 entnommen. Von Kokot erschienen die Gedichtbände „Rodung“ (2013) und „Ferner“ (2017), beide in der Edition Azur in Dresden.

Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     01.08.2017




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