poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und
Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Joseph Kopf

Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn.
Ich liebe Dinge, die im Traum geschehn.
Die Rosen lieb ich, die im Garten stehn:
zu blaß, um sie noch einmal so zu sehn.

Ich liebe alles, was im Blühn verdirbt.
Die Kerze lieb ich, die erlischt im Raum.
Das müde Lächeln im Holunderbaum.
Ich lieb das Herz, das ohne Hoffnung stirbt.

Für Egon Mayer


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 99

Michael Braun
Abschiedsstrophen in Permanenz


Für den Schweizer Dichter Joseph Kopf, der sich nur in der Verborgenheit lebendig fühlte, war die Leere ein Refugium. Sie erschien ihm als ein Ort, der nicht wie in der japanischen Zen-Philosophie ein reinigendes Nichts verkörpert, sondern einen Raum der ersehnten Abwesenheit. Auch das Leben des Dichters glich einer richtungslosen Suchbewegung, die immer wieder in der Leere endete.
  In geordneten bürgerlichen Verhältnissen hat es der 1929 in St. Gallen geborene Dichter jedenfalls nie lange ausgehalten. Das Gymnasium brach er noch vor der Matura ab, auch mit einer Banklehre fand er nicht in ein berechenbares Alltagsleben, so dass er zuerst nach Vorarlberg ging, wo er sich in der Landwirtschaft versuchte, anschließend nach Bregenz und Wien, wo er einige Jahre als Bankangestellter arbeitete. In Wien veröffentlichte der Neunzehnjährige 1948 sein erstes schmales Bändchen mit dem bezeichnenden Titel „Nocturne“. Kopfs Domäne in dieser Zeit waren Nachtstücke mit lange ausschwingenden Tönen, in denen die Figurationen der Einsamkeit und das Weltgefühl des Abschieds und der Vergeblichkeit enthalten sind. In den 1960er Jahren ging Kopf für vier Jahre nach Israel, wo er in einer Versuchsfarm am Toten Meer arbeitete und sich mit dem Talmud befasste. Die Wüste erfuhr er hier als Signatur für seine eigene Existenz: „ja, die wüste wird sein wie/ eine rose, die herrlich aufblüht“.
  Nach St. Gallen zurückgekehrt, wird Kopf Gelegenheitsarbeiter: in einer Buchhandlung, einem Reisebüro und einer Hochschulbibliothek findet er ein spärliches Auskommen. In den Stunden des Rückzugs entstehen seine Gedichte, als Traumpfade in ein „blaues niemandsland“.
  Das hier vorliegende Gedicht ist 1955 entstanden. Es sind von Melancholie umwehte Volksliedstrophen in der Tradition des romantischen Lieds, die trotz ihres starken Bekenntnis-Gestus („ich liebe“) fast nur Negationen anzeigen. Denn das Ich, das hier zunächst in Paarreimen und dann in einem umarmenden Reim seine „Liebe“ artikuliert, ergreift Partei für die Leere, die Bezirke des Traums und die Vergänglichkeit. Die Zeichen des Lebendigen sind unmittelbar mit dem Vergehen verbunden, das Blühen wird nur aufgerufen, um zugleich das Verwelken zu feiern. Und auch die Liebe zur illuminierenden Kerze gilt nur dem Modus des Erlöschens, dem erneuten Ausgesetztsein an das Dunkel. Es ist eine Melodie der Schwermut, die Joseph Kopf hier anstimmt, eine Feier des Verfalls und des Todes: Abschiedsstrophen in Permanenz. Und die Hoffnung ist hier kein Blochsches „Prinzip“, sondern wird ausdrücklich verworfen. Dem in Blüte stehenden Holunderbaum wird die Todesahnung eingeschrieben, gilt doch in Schweizer Mythologien der Holunderbaum auch als Tor zum Jenseits: „Das müde Lächeln“, so sagt es Kopfs Exeget, der Schweizer Philosoph Paul Good, im Nachwort zum posthum erschienenen Auswahlband „das müde lächeln im holunderbaum“ (Pendo, Zürich 1989), „ist das Todeslächeln der Dinge.“
  In seinen späteren Gedichten löst sich Kopf aus der romantischen Formensprache und konzentriert sich auf eine immer weiter verknappte Verssprache, auf kristalline Fügungen und eine Metaphorik des Winters. Der Titel seines 1971 erschienenen schmalen Gedichtbuchs „nachruf auf gestrandete fische“ zeugt von einem Bewusstsein der Finalität. Obwohl seine Texte nur in karger Auflage in Mappen und kleinen Heften erschienen waren, bekam er 1973 den Hebel-Preis des Landes Baden-Württemberg zugesprochen. Aus einer seiner dunkelsten Phasen im Herbst des Jahres 1977 befreite ihn der umfangreiche Auswahlband „dem kalten sternwind offen“ (Zollikofer Fachverlag, St. Gallen 1977), der den Dichter noch einmal euphorisierte und ihn aus seiner Schwermut herauszuführen schien. Er war gerade in einer Zustand manischer Produktivität geraten, als er im August 1979 an Herzversagen starb.
  Dass die Erinnerung an diesen außerordentlichen Dichter noch nicht ganz erloschen ist, ist dem Rimbaud Verlag zu verdanken, der 1992 unter dem Titel „nur eine bewegung von licht“ die „Gesammelten Gedichte“ von Joseph Kopf in zwei Bänden vorlegte, herausgegeben und kommentiert von Paul Good. Dazu erschien noch 1998 ein exzellentes Sonderheft der vom Rimbaud-Verleger Bernhard Albers herausgegebenen Zeitschrift „Osiris“, mit luziden Analysen und Interpretationen zu Kopfs Werk.

Joseph Kopf, geboren 1929 in St. Gallen, starb dort 1979. Nach einer Buchhändlerlehre versuchte er sich in diversen Jobs: als Angestellter einer Bank und auch als Mitarbeiter einer Galerie in Wien. Als freier Autor lebte er ab Ende der 1960er Jahre sehr zurückgezogen in St. Gallen, wo er 1979 starb. Das vorliegende Gedicht ist dem Band I der „Gesammelten Gedichte“ Joseph Kopfs entnommen, die unter dem Titel „nur eine bewegung von licht“ im Rimbaud Verlag (Aachen 1992) erschienen sind.

Wir danken für die Wiedergabe im Kontext des Kommentars.

01.03.2019




Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

Weitere Details   
portofrei online   

  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

Weitere Details   
portofrei online   

 


 

 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Joseph Kopf
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge