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Harry Oberländer
kurz vor der revolution
wurde im kino der tod in venedig zelebriert dem publikum stieg der ozean in die seele vor dem kleinen fenster mit dem gesprungenen glas lag die matratze, der blick ging auf alte kastanien der schreibtisch stand gleich neben der tür der stuhl versperrte den eingang an der wand hing guernica von picasso wir stritten uns um berge von dreckigem geschirr soffen spätabends wodka und andere harte sachen taumelten auf die straße und warteten daß endlich was läuft es war der heiße sommer in amerikas gettos morgens, halb in der nacht raste ich über die autobahn die stechuhr im nacken wie der eiserne gustav hart im nehmen bauten wir autos, kurz vor der revolution nachts träumten wir von fallenden kisten dem zerquetscht werden zwischen waggons oder unter den pressen so kam alles zusammen der krach die hitze die absauganlage lotta continua und rolling stones ravioli aus der büchse und das studium der produktion des relativen mehrwerts
Michael Buselmeier Ein Gedicht ist mir auf den Schreibtisch geflattert, das aus einer (auch meiner) teilweise verschütteten Vergangenheit zu stammen scheint. Es trägt den irritierenden Titel „kurz vor der revolution“ und dürfte, wie Vokabular, Bildlichkeit und Umfeld verraten, um die Mitte der 1970er Jahre entstanden sein. Und da es im Imperfekt von einer historischen Phase erzählt, die das lyrische Ich aktiv mitgestaltet haben will, kann sein Thema eigentlich nur „68 und die Folgen“ lauten und eine „kommende Revolution“ meinen, die nur im Kopf stattfand und allerhöchstens eine Revolte war. Insofern kann der Titel des Gedichts nur ironisch verstanden werden. Oder sollte der Autor allen Ernstes meinen, Luchino Viscontis ebenso mondäner wie todessüchtiger Film „Der Tod in Venedig“ aus dem Jahr 1971 habe das Publikum auf dialektische Weise revolutionär beflügelt? Auch das Zusammenbauen von Autos im Akkord ist, wie die letzte Strophe andeutet, nicht ungefährlich und eher frustrierend als geistig anregend.
In locker und prosanahe gefügten Zeilen wird von einem politisch engagierten Studenten berichtet, der in einer Wohngemeinschaft haust, in einer engen, vergammelten Bude mit einer Matratze unter dem zerbrochenen Fenster und Picassos „Guernica“-Kopie an der Wand. Das Kollektiv („wir“) streitet über den Abwasch, besäuft sich mit Wodka und erwartet einen „heißen sommer“ mit black power wie „in amerikas gettos“. Es handelt sich um junge, spontaneistisch eingestellte Leute, die für die linksradikale Turiner Gruppe „Lotta continua“ und die „Rolling Stones“ schwärmen und sich ein wenig an der marxistischen Mehrwerttheorie abarbeiten, ohne der strengen Marx-Philologie anzuhängen. Doch mit der fünften Strophe scheint es ernst zu werden. Das lyrische Ich muß früh morgens aus den Federn, um – „die stechuhr im nacken“ – in einer Autofabrik zu schuften. Es träumt davon, „von fallenden kisten“ erschlagen oder „zwischen waggons“ zerquetscht zu werden, wird in der Werkshalle von „krach“ und „hitze“ bedrängt. Die vermeintlich kurz bevorstehende Revolution dürften sich der junge Sponti und seine Genossen jedenfalls ganz anders vorgestellt haben - verbunden mit freier Sexualität, Kiffen und einer endlosen Autofahrt in den Süden. Der Dichter Harry Oberländer hat ab 1969 Soziologie in Frankfurt studiert, er wurde in der Folge Mitglied der Sponti-Gruppe „Revolutionärer Kampf“, der auch Joschka Fischer angehörte, und arbeitete in der Redaktion der radikalen Zeitung „Wir wollen alles“ mit. Zusammen ging man, um dem fiktiven „revolutionären Subjekt“, dem Arbeiter, möglichst nahe zu kommen, als Hilfsarbeiter zu Opel nach Rüsselsheim. Die Arbeit war hart und unbequem, die Kontaktbemühungen mit dem Proletariat tendierten zum Scheitern. Nach einem knappen Jahr wandten sich die Genossen wieder ihrem gewohnten Erfahrungsbereich und damit auch dem gedruckten Wort zu, verteilten Flugblätter, kauften und verkauften Bücher im Antiquariat des Karl Marx-Buchladens in der Frankfurter Jordanstraße. Oberländer wurde Journalist, er reiste und lernte viel, schrieb für den Hörfunk, schrieb auch wieder Gedichte wie das hier vorgestellte, das die eigene Sponti-Geschichte reflektiert, in einer offenen, beiläufigen Form, die auch als Befreiung von überkommenen lyrischen Traditionen verstanden wurde. Das politische Alltagsgedicht mit seinem erzählenden, die Schauplätze aneinander reihenden Gestus, seinem Erfahrungsreichtum und seinen sprachlichen Redundanzen mag manchem Textbastler historisch überholt erscheinen. Doch fügte sich Harry Oberländer mit ihm vor rund 40 Jahren unter so erfolgreiche Lyriker wie Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy, Hugo Dittberner, Wolf Wondratschek und Ludwig Fels ein, deren Texte heute fast schon wieder vergessen sind. Ein Grund genug, an sie zu erinnern. Harry Oberländer wurde 1950 in Bad Karlshafen an der Weser geboren. Er hat im Verlag Neue Kritik mitgearbeitet, das Hessische Literaturforum mitbegründet und von 2010 bis 2016 geleitet, war Chefredakteur der Zeitschrift „Der Literaturbote“. 2015 erschien sein bislang letzter Gedichtband „chronos krumlov“ (Edition Faust, Frankfurt). Das vorgestellte Gedicht stammt aus dem Band „ein paar dinge von denen ich weiß“, Karin Kramer Verlag, Berlin 1977. Wir danken Autor und Verlag für die Wiedergabe im Rahmen dieses Gedichtkommentars. Druckansicht
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