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Oskar Loerke
Ans Meer
Der Nebel reißt, der albisch kroch Aus meinem Blut zum Totenfeld: Ein Morgen scheint ins Wolkenloch Hoch auf die Welt. Das Leben kommt von weitem her. Und es geschieht, was einst geschah? Mit ihrer Wäsche fährt ans Meer Nausikaa. Ein Weg weist nach Byzanz und Rom, Für mich betritt ihn der Barbar. Im Stein verwittert schon am Dom Sein Mund, sein Haar. Doch wann bin ich? Der Morgen währt, Ein Rauschen ruft, ein Meer ist nah – Ans Meer mit ihrer Wäsche fährt Nausikaa.
Michael Buselmeier Gegen Schluss seines Essays Nausikaa imaginiert der Pfälzer Dichter Werner Laubscher das Frühjahr 1945, das Kriegsende und seine Gefangennahme bei Remagen. Der Siebzehnjährige und andere Kindersoldaten haben ihre Gasmasken und Stahlhelme weggeworfen. Nach regnerischen Tagen „kam die Sonne aus einem Wolkenloch hervor.“ Sie stehen im Kreis, haben die Arme einander um die Schultern gelegt, um sich gegenseitig auf den Beinen zu halten, und plötzlich spricht ein etwas Älterer ein paar Verse, „kühl wie ein Wasser und ein Wind.“ Er rezitiert Oskar Loerkes Gedicht Ans Meer. Es klingt in den Ohren der demoralisierten Jungen, die es noch nie gehört haben, zugleich fern und seltsam vertraut, wie eine Verheißung auf eine bessere Zukunft: „Der Nebel reißt, der albisch kroch / Aus meinem Blut zum Totenfeld.“ Neun Jahre später wird das erste Heft des ersten Jahrgangs der von Walter Höllerer und Hans Bender herausgegebenen Literaturzeitschrift Akzente mit eben diesem Gedicht eröffnet. Günter Eich, der ursprünglich an Benders Stelle als Mitherausgeber vorgesehen war, hatte es ausgewählt. Da die für die Entwicklung der deutschen Nachkriegsliteratur so bedeutsamen Akzente ohne eine Vorrede erschienen, wuchs den Versen Loerkes 1954 naturgemäß etwas Programmatisches zu, nämlich die Erwartung eines neuen, „ins Wolkenloch“ scheinenden literarischen Aufbruchs. Oskar Loerkes Gedicht Ans Meer wurde zuerst in dem Band Atem der Erde (1930) veröffentlicht. Man muss es einfach nur hören, seinen suggestiven Ton, den ganz eigenen Rhythmus, die Kreuzreime. Eine Stimme spricht, ja sie springt mich unmittelbar an, noch bevor ich den Text als ganzen verstehe. Was anfangs vielleicht dunkel erscheint, gewinnt bei genauerem Nach-Lesen Klarheit und Tiefe, ohne sich eins zu eins auflösen zu lassen. Dieses große mythische Gedicht weiß sein Geheimnis zu bewahren. Nausikaa, die Tochter des Phäaken-Königs Alkinoos, die im sechsten Gesang der Odyssee den nackten, schiffbrüchigen Helden am Ufer des Meeres vorfindet und bekleidet, steht als Chiffre für das Rettende, das selbst im Chaos der neuzeitlichen Welt, im „albisch“ kriechenden Nebel überdauert – ein Zufluchtsbild. Aus Loerkes, aber auch aus Laubschers und Eichs Sicht verkörpert sie „das Leben“, das „von weitem“ kommt, aus mythischer Vorzeit, und sich ständig wiederholt und erneuert: „Und es geschieht, was einst geschah.“ Das Rettende erscheint als schlichter „Morgen“ im „Wolkenloch“, während Machtzentren wie Byzanz und Rom und auch die Dome der Christenheit untergegangen oder verwittert sind. „Doch wann bin ich?“ lautet die sehr direkte Frage zu Beginn der vierten Strophe. Auch wer? Und wo? Du bist dort, könnte die Antwort heißen, wo du im zeitlosen Licht „ein Rauschen“ hörst, die Nähe des Meeres spürst und weißt: „Ans Meer mit ihrer Wäsche fährt / Nausikaa.“ Dort, wo das lyrische Ich in der als ewig gleich erfahrenen Natur des Meeres (oder in anderen Gedichten Loerkes: des Waldes) verankert und zu Hause ist. In dem Sinn waren Oskar Loerke wie auch sein Freund Wilhelm Lehmann „Naturmystiker“, ein etwas unzeitgemäßer Begriff, gegen den aber, zumal bei Lyrikern dieser Generation und dieser Bildkraft, nichts einzuwenden sein dürfte. Wer hätte heute, da sie und ihr Werk weithin vergessen erscheinen, die Stirn, ihnen „falsches Bewusstsein“ vorzuwerfen? Oskar Loerke wurde 1884 in Jungen in Westpreußen geboren. Ab 1903 lebte er in Berlin, seit 1917 war er als Lektor beim S. Fischer Verlag tätig, schrieb neben Prosa und Gedichten auch Essays und Rezensionen. Er starb 1941 in Berlin. Zu Loerkes Lebzeiten erschienen sieben meist zyklisch angelegte Gedichtbände, von Wanderschaft (1911) bis Der Wald der Welt (1936). Das vorgestellte Gedicht stammt aus Sämtliche Gedichte, hrsg. von Uwe Pörksen und Wolfgang Menzel, zwei Bände, Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 01.06.2013
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