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Walle Sayer
Vom Flüchtigschönen


Damit du damit
die Luftpumpe befestigen konntest
an der abgebrochenen Halterung,

trat eins der Mädchen vor,
das seit Kindergartenzeiten
lehnte an der Mauerwange,

schüttelte Helligkeit
aus ihrem Haar und gab
dir den blauen Zopfgummi,

als sei, was sie dir reichte,
nichts als ein blauer
Zopfgummi.


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 36

Michael Buselmeier
Blauer Zopfgummi



Eigentlich ein ganz profaner Vorgang; eine Kindheits­erinnerung, die bis in die Gegen­wart nach­wirkt. Der Junge möchte seine Luft­pumpe am Fahrradrahmen befes­tigen, und das Mäd­chen, das er schon seit dem Kinder­garten im Sinn trägt, nimmt aus ihrem Haar einen Zopf­gummi und gibt ihn dem Freund. Doch die Dinge des Alltags sind mehr als sie auf den ersten Blick zu sein vorgeben; selbst die beiden Kinder schei­nen sich in Märchen­figu­ren zu ver­wandeln. Der Dichter ver­steht es, die Span­nung zu inten­sivieren, den Augen­blick der Übergabe magisch zu verlängern. Das Mäd­chen „schüttelt Hellig­keit / aus ihrem Haar“, und der triviale „blaue Zopfgummi“ leuchtet im Auge des Jungen in einer Weise auf, die jede Nütz­lich­keits­erwägung trans­zen­diert – als Blaue Blume und Liebes­zeichen.
  Dinggedichte dieser Art, knapp und pointiert, gleichwohl reimlos, bestehend aus vier drei­zei­ligen, gut verständlichen, dem Leser zuge­wandten Strophen, gab es auch in den 70er Jahren, geschrieben von ameri­kanischen Pop-Lyrikern wie Frank O'Hara und deutschen All­tags­poeten wie Rolf Dieter Brinkmann – mit dem ent­schei­denden Unter­schied: Sie hätten wohl schlicht­weg „Blauer Zopfgummi“ über das Gedicht gesetzt, während der 1960 nach­geborene Walle Sayer, die Szene pathe­tisch über­höhend, vom „Flüchtigschönen“ spricht, womit er die magischen Schluss­verse vorbereitet.
  Ich fühlte mich beim Lesen der Gedichte Walle Sayers an Peter Handke erinnert, den Groß­meister der Ge­nauig­keit, an die „drei Wunderdinge“ vor allem, die Gregor Keuschnig im Roman „Die Stunde der wahren Emp­fin­dung“ (1975) in einem Pariser Sand­kasten entdeckt: eine Spiegelscherbe, ein Kastanienblatt, eine Kinder­zopf­spange. Sie anschauend, erlebt Keuschnig jenen utopischen Moment, in dem er mit sich und der Welt identisch ist.
  Der scheue (Sprach-)Beobachter Walle Sayer hat die von ihm ebenso beschaulich wie eng geschil­derte schwäbische Provinz nie wirk­lich verlassen, während Handke früh sein Kärntner Bauern­dorf mit der weiten Welt vertauschte und doch im Herzen ein Stück weit zu Hause geblieben ist. Die Heimat ist der allgegenwärtige Ort der Erin­nerungen, die bei Sayer leise und minutiös daher­kommen, in Form von Aufzäh­lungen, in changie­renden Winzig­keiten, die leicht übersehen werden, mit der präzisen Unge­nauig­keit, die allein der Poesie eigen ist. Es gibt in dieser freund­lich milden Wort-Land­schaft zwar Hinter­gründe, Ge­heim­nisse und jede Menge Wider­sprüche („Rehe, das Streusalz / von der Straße leckend“), doch keine höllischen Abstürze, keine jähen Dunkelheiten, auch kaum einen Reflex auf die poli­tisch-sozialen und die media­len Welt­verhält­nisse. Eher ein ländliches Handwerker-Idyll, von Ruhe, Kontem­plation, ge­legent­lich auch von Melancholie überformt.
  Aber man findet bei Walle Sayer menschenleere Gegenden und schmerzhafte Dissonanzen (etwa Sterben und Tod im Altersheim), die sich härterer Bilder bedienen müssen, um das drän­gende Allerwelts-Unheil einfließen zu lassen ins scheinbar harmlose und bieder­meier­liche Werk. Als kleines Beispiel mag der Dreizeiler „Weckton“ dienen: „Katzentapser und wie es auf Müll­tonnen schneit. / Fern werden Nacht­tresore geleert und Kummerkästen. / Dumpf fliegt ein Spatz gegen die Scheibe.“ Der jähe Schlag des Vogels gegen das nächtliche Fenster ist ein zutiefst beunruhigendes Erlebnis, das auch das zuvor Wahrgenommene unheimlich, zumindest fragwürdig erscheinen lässt: Spuren hungriger (?) Katzen auf den Mülltonnen, von Gangstern (?) geleerte Nacht­tresore und Kummerkästen, denen wir allzu leichtfertig unser privates Leid anvertrauen.

Walle Sayer kam 1960 in Bierlingen, Kreis Tübingen zur Welt. Er lebt seit langem als Erzähler und Lyriker in Horb-Dettingen. Das vorgestellte Gedicht entstammt dem Band „Strohhalm, Stützbalken“, erschienen im Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2013.



Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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03.12.2013



 

 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Walle Sayer
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
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krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
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Uraniafalter
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Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
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Blume mit Geruch
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Rosa Meinung
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Edoms Nacht
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Belegte Brotzeit
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     Lass rauschen Lied ...
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     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
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