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Ernst S. Steffen
Man sagt

Man sagt mir,
ich schreie nachts.
Manchmal erwache ich,
weil mein Herz schlägt,
dann höre ich die Nachtigall.
Ich betrachte ein Loch
in meiner Zelle;
vielleicht will eine
Ratte zu mir.
Manchmal habe ich morgens
blutende Knöchel.
Das macht die lange Haft,
sagt der Arzt.
Er verschreibt mir Tabletten.

Er sagt mir,
wenn das vorbei ist,
dann ist alles gut.
Ich muß nach Hause kommen,
dann ist alles gut.
So einfach ist das.
Ich werde am Tor stehen,
und es wird sich öffnen vor mir,
und dann ist alles vorbei
und alles gut.
So einfach ist das.
Ich werde gehen.
So einfach ist das.

  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 62

Michael Buselmeier
Ich möchte mich umbringen können



Das Ich, das hier spricht, in kargen, rhythmisch dichten, auto­biographisch grun­dierten Versen, befindet sich seit längerem, von Angst­träumen bedrängt, in einer Einzel­zelle. Es erwacht manch­mal mit „blu­tenden Knöcheln“, glaubt eine Nachti­gall wahr­zunehmen oder eine Ratte. Der Gefängnis­arzt verschreibt ihm „Ta­blet­ten“ und meint beschwich­tigend, wenn dies hier (also der Knast, das Zucht­haus) „vorbei“ sei, dann sei „alles gut“. Der Gefan­gene müsse nur „nach Hause kom­men“.
  Aber nichts ist „gut“, und ein Zuhause gibt es für einen mehr­fach vorbe­straften Pro­letarier auch nicht. Immer wieder wird er rück­fällig werden. Man könnte in ihm, wie in Büchners Woyzeck, ein Opfer erkennen, auf jeden Fall einen armen Teufel, der keinen Durch­blick und keine wirkliche Chance in dieser Welt hat, nur hilflose, einander aus­schlie­ßende Wünsche: „Ich möchte noch einmal von vorn beginnen. / Ich möchte mich um­bringen können.“
  Der Verfasser dieses eindring­lichen Gedichts, Ernst S. Steffen, hat fast die Hälfte seines kurzen Lebens, nämlich siebzehn Jahre, in Erzie­hungs­heimen und in der Haft zugebracht. Mit­schuldig daran mag sein versoffener Vater gewesen sein, der ihn miss­handelte und schon früh aus dem Haus und zu den Klein­kriminellen und Ver­lierern trieb; ebenso die ver­stummte Mutter und die jungen Mädchen von Heil­bronn, die ihn in seiner Beson­der­heit nicht wahr­nahmen. Zeit­lebens ver­stand sich Steffen als Außen­seiter, als radikal Anderer und Pro­vinz­rebell, voller Ressen­timents gegen­über der ange­passten Mehr­heit, die er wie James Dean in „Jenseits von Eden“ at­tackierte und für sein gestran­detes Leben verant­wortlich machte. Er hasste die Gesell­schaft und ihre „Appa­rate“, fühlte sich ständig unge­recht behandelt, selbst angesichts der zahl­reichen Ein­brüche, Dieb­stähle und Überfälle, für die er fraglos einstehen musste.
  Im Mittelpunkt all seiner Texte, die in zwei Bänden gesammelt vorliegen, steht eine harte Schule, nämlich die Erfah­rung des Zucht­hauses, die der Autor mit Galgen­ironie schildert. „Es geht mir gut, liebe Mutter“, heißt es einmal bitter. „Ich lernte viel im Gefäng­nis.“ Und nach der Ent­lassung könne er ja wieder „ein ganz neues Leben beginnen.“
  1967 schien es tatsächlich so weit zu sein: Steffen wurde auf Bewäh­rung aus dem Zucht­haus in Bruchsal entlassen und erhielt eine Volon­tär­stelle beim Süd­west-Fern­sehen in Baden-Baden. Bereits im Knast hatte er zu schreiben be­gon­nen; 1969 er­schien im renom­mierten Luch­ter­hand Verlag sein Gedicht­band mit dem wenig hoff­nungs­vollen Titel „Lebens­läng­lich auf Raten“, ein viel be­achtetes Debüt. Darin ent­halten waren traurige Liebes­gedichte, ge­reimte Moritaten a la Villon und immer wieder der zer­mür­bende Gefängnis­alltag, aber auch über­ra­schende, surreale Bilder: „Der Himmel schläft mit offenem Mund.“
  Ohnehin hatten Knast-Dichter und deren Bücher in den unruhigen Jahren um 1970 Konjunktur, man denke nur an Burkhard Driest oder Peter-Paul Zahl. Doch selbst unter den Fernseh-Re­dakteuren und Hör­funk­autoren, die ihm, wie allen Ange­hö­rigen von Rand­gruppen, extrem wohlwollten, fühlte sich Ernst Steffen fremd. „Die Reichen und Schönen“ waren eben nicht seine Leute. Er kam einfach mit dem Dasein nicht zurecht, weder im Gefäng­nis noch außerhalb des­selben. Vielleicht war auch seine Pro­duk­tivität im Erlöschen, jedenfalls war er müde geworden. Ende 1970 ver­un­glückte er eines Nachts im Auto auf einer leeren Straße bei Baden-Baden tödlich. Für den Unfall gab es keine Zeugen. „Ich werde gehen“, schrieb er. „So einfach ist das.“

Ernst Siegfried Steffen wurde im Juni 1936 in Heil­bronn geboren und starb im Dezember 1970 in Baden-Baden. Postum erschien sein Buch „Ratten­jagd. Auf­zeich­nungen aus dem Zucht­haus“, Sammlung Luchter­hand 1971. Das vorgestellte Gedicht stammt aus „Lebens­länglich auf Raten“, Darmstadt 1969.

Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     01.02.2016




Band 1
 
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Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Ernst S. Steffenn
Liste
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Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
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  95   Michael Buselmeier
    
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  92   Katrine von Hutten
    
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  83   Christoph Wenzel
    
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An manchen Tagen
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kurz vor der revolution
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Antwort
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Großjean, der aus einem ...
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Tessiner beinhaus. wandbild
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Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
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Elster
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Fremde ohne Souvenir
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  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
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Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
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  29   Jean Krier
    
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Winterreise. Wintersprache
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