![]() |
![]() |
poeten | ![]() |
loslesen | ![]() |
gegenlesen | ![]() |
kritik | ![]() |
tendenz | ![]() |
news | ![]() |
links | ![]() |
info | ![]() |
verlag | ![]() |
poet | ![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
Ernst S. Steffen
Man sagt
Man sagt mir, ich schreie nachts. Manchmal erwache ich, weil mein Herz schlägt, dann höre ich die Nachtigall. Ich betrachte ein Loch in meiner Zelle; vielleicht will eine Ratte zu mir. Manchmal habe ich morgens blutende Knöchel. Das macht die lange Haft, sagt der Arzt. Er verschreibt mir Tabletten. Er sagt mir, wenn das vorbei ist, dann ist alles gut. Ich muß nach Hause kommen, dann ist alles gut. So einfach ist das. Ich werde am Tor stehen, und es wird sich öffnen vor mir, und dann ist alles vorbei und alles gut. So einfach ist das. Ich werde gehen. So einfach ist das.
Michael Buselmeier Das Ich, das hier spricht, in kargen, rhythmisch dichten, autobiographisch grundierten Versen, befindet sich seit längerem, von Angstträumen bedrängt, in einer Einzelzelle. Es erwacht manchmal mit „blutenden Knöcheln“, glaubt eine Nachtigall wahrzunehmen oder eine Ratte. Der Gefängnisarzt verschreibt ihm „Tabletten“ und meint beschwichtigend, wenn dies hier (also der Knast, das Zuchthaus) „vorbei“ sei, dann sei „alles gut“. Der Gefangene müsse nur „nach Hause kommen“. Aber nichts ist „gut“, und ein Zuhause gibt es für einen mehrfach vorbestraften Proletarier auch nicht. Immer wieder wird er rückfällig werden. Man könnte in ihm, wie in Büchners Woyzeck, ein Opfer erkennen, auf jeden Fall einen armen Teufel, der keinen Durchblick und keine wirkliche Chance in dieser Welt hat, nur hilflose, einander ausschließende Wünsche: „Ich möchte noch einmal von vorn beginnen. / Ich möchte mich umbringen können.“ Der Verfasser dieses eindringlichen Gedichts, Ernst S. Steffen, hat fast die Hälfte seines kurzen Lebens, nämlich siebzehn Jahre, in Erziehungsheimen und in der Haft zugebracht. Mitschuldig daran mag sein versoffener Vater gewesen sein, der ihn misshandelte und schon früh aus dem Haus und zu den Kleinkriminellen und Verlierern trieb; ebenso die verstummte Mutter und die jungen Mädchen von Heilbronn, die ihn in seiner Besonderheit nicht wahrnahmen. Zeitlebens verstand sich Steffen als Außenseiter, als radikal Anderer und Provinzrebell, voller Ressentiments gegenüber der angepassten Mehrheit, die er wie James Dean in „Jenseits von Eden“ attackierte und für sein gestrandetes Leben verantwortlich machte. Er hasste die Gesellschaft und ihre „Apparate“, fühlte sich ständig ungerecht behandelt, selbst angesichts der zahlreichen Einbrüche, Diebstähle und Überfälle, für die er fraglos einstehen musste. Im Mittelpunkt all seiner Texte, die in zwei Bänden gesammelt vorliegen, steht eine harte Schule, nämlich die Erfahrung des Zuchthauses, die der Autor mit Galgenironie schildert. „Es geht mir gut, liebe Mutter“, heißt es einmal bitter. „Ich lernte viel im Gefängnis.“ Und nach der Entlassung könne er ja wieder „ein ganz neues Leben beginnen.“ 1967 schien es tatsächlich so weit zu sein: Steffen wurde auf Bewährung aus dem Zuchthaus in Bruchsal entlassen und erhielt eine Volontärstelle beim Südwest-Fernsehen in Baden-Baden. Bereits im Knast hatte er zu schreiben begonnen; 1969 erschien im renommierten Luchterhand Verlag sein Gedichtband mit dem wenig hoffnungsvollen Titel „Lebenslänglich auf Raten“, ein viel beachtetes Debüt. Darin enthalten waren traurige Liebesgedichte, gereimte Moritaten a la Villon und immer wieder der zermürbende Gefängnisalltag, aber auch überraschende, surreale Bilder: „Der Himmel schläft mit offenem Mund.“ Ohnehin hatten Knast-Dichter und deren Bücher in den unruhigen Jahren um 1970 Konjunktur, man denke nur an Burkhard Driest oder Peter-Paul Zahl. Doch selbst unter den Fernseh-Redakteuren und Hörfunkautoren, die ihm, wie allen Angehörigen von Randgruppen, extrem wohlwollten, fühlte sich Ernst Steffen fremd. „Die Reichen und Schönen“ waren eben nicht seine Leute. Er kam einfach mit dem Dasein nicht zurecht, weder im Gefängnis noch außerhalb desselben. Vielleicht war auch seine Produktivität im Erlöschen, jedenfalls war er müde geworden. Ende 1970 verunglückte er eines Nachts im Auto auf einer leeren Straße bei Baden-Baden tödlich. Für den Unfall gab es keine Zeugen. „Ich werde gehen“, schrieb er. „So einfach ist das.“ Ernst Siegfried Steffen wurde im Juni 1936 in Heilbronn geboren und starb im Dezember 1970 in Baden-Baden. Postum erschien sein Buch „Rattenjagd. Aufzeichnungen aus dem Zuchthaus“, Sammlung Luchterhand 1971. Das vorgestellte Gedicht stammt aus „Lebenslänglich auf Raten“, Darmstadt 1969. Druckansicht
|
![]() |
Gedichte, kommentiert
|
|
poetenladen | Blumenstraße 25 | 04155 Leipzig | Germany
|
virtueller raum für dichtung
|
![]() |