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Wulf Kirsten
die rückkehr der wölfe
nachts schweifte sie gern auf laubgepolsterten waldpfaden, getarnt mit dürrem astwerk und störrischen stolperwurzeln, querweltein von dorf zu dorf, furchtlos und leichten schritts, wo vormals von abdächigen wiesen heufuder vierspännig wankten, schwere kaltblüter, straff gespannte ketten im geschirr, wenn es sein mußte, krochen die pferde auf knien über die felsrippen, von wagenrädern blank geraspelt - jetzt pfeift der waldkauz sich eins über der schlucht schaurigen lauts, im Regenbachtal stöbern neuerdings die waschbären, um Großenhain, heißt es, hat man schon die wölfe heulen gehört.
Michael Buselmeier Der Wolf ist wieder zurück, verkünden beinah täglich die Medien. Seit nun fast zwei Jahrzehnten schweifen diese Raubtiere wieder als Einzelgänger, paarweise oder in Rudeln durch unsere Wälder, vor allem im Osten Deutschlands. Von bis zu 600 Eindringlingen ist die Rede, Tendenz steigend. Die ersten Wölfe wanderten aus Polen in die Lausitz ein. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts galten sie als ausgerottet. Naturschützer rufen ihnen ein herzliches „Willkommen!“ zu, Landwirte fürchten um ihre Schaf- und Rinderherden und errichten elektrisch geladene Wolfszäune. Abschießen dürfen sie die Räuber nicht, denn sie stehen unter Naturschutz. Der Wolf sei eine menschliche Projektion, liest man, wobei der Wunsch nach Wildnis und die Angst vor ihr sich die Waage halten. Spätestens seit dem 15. Jahrhundert gilt er in Mitteleuropa als Bösewicht, wie er etwa in den Volksmärchen der Brüder Grimm fortlebt, und wird verfolgt. Als Werwolf ist er ein Schreckbild existentieller Bedrohung. Die Gefahr, die heute von ihm ausgeht, dürfte gering sein; als pures Vorurteil lassen sich die Urängste der Landbewohner freilich nicht abtun. Wulf Kirstens Gedicht „die rückkehr der wölfe“ ist auf das Jahr 2008 datiert. Damals scheint es, jedenfalls in der Gegend um Meißen, wo sich das im Text erwähnte Dorf Großenhain befindet, also in Kirstens Herkunftslandschaft, noch ziemlich ruhig gewesen zu sein. Die Wölfe waren nicht mehr als ein Gerücht: „um Großenhain, heißt es, hat man / schon die wölfe heulen gehört“, lauten die beiden Schlusszeilen. Das Gedicht gliedert sich rhythmisch wie thematisch in drei fast gleich lange Teile zu sechs beziehungsweise sieben Versen, wobei die beiden ersten „Strophen“ von längst vergangenen Geschehnissen erzählen: zunächst von einer weiblichen Figur, vermutlich einer einsamen Wölfin, die nachts geisterhaft „querweltein“ durch die Dörfer schweifte, „furchtlos und leichten schritts“ – ein Angstmacher sieht anders aus. Teil zwei hält ein grandioses Bild aus Kirstens kleinbäuerlicher Kindheit fest: Man meint die „schweren kaltblüter“ vor sich zu sehen, wie sie die „heufuder“ bergauf zogen und dabei sogar „auf knien“ über die „von wagenrädern blank geraspelten Felsrippen“ krochen. Die kräftig verkeilte, geballte Sprache passt genau dazu. Erst mit der dritten „Strophe“ ist das Gedicht in der Gegenwart angelangt. „jetzt“, heißt es, „pfeift der waldkauz / sich eins“ (wie schon immer), doch es gibt auch Ungewöhnliches zu vermelden. Nicht nur von heulenden Wölfen ist gerüchteweise die Rede, „im Regenbachtal / stöbern neuerdings die waschbären“. Auch sie sind lästige Einwanderer (aus Nordamerika), zwar possierlich anzusehen mit ihren schwarzen Gesichtsmasken, doch zugleich bissige Allesfresser und Winterschläfer, die sich im Gebälk älterer Häuser einnisten und von dort nur schwer zu vertreiben sind. Auch sie, melden die Medien, sind im Vormarsch. Den Mittelpunkt von Wulf Kirstens poetischer Welt nimmt die sächsische Heimatgegend ein, die schwere „erde bei Meißen“, eine Landschaft, die der Dichter – „armer / karsthänse nachfahr“ – früh in sich aufgenommen hat und seither bewahrt, darunter Ausgrabungsstücke, das „alte klapprige dorf“, wie es „ziegel um ziegel / im mahltrichter verschwindet“, zusammen mit den nächsten Dingen des Alltags, die man anfassen und riechen kann. Dieser Fakten- und Wörtersammler schleppt Versunkenes heran, verschwunden geglaubte Tiere tauchen auf, vergessene Wörter werden wiederbelebt, im vorgestellten Gedicht etwa „abdächige wiesen“, „heufuder“ und „kaltblüter“. Auch aufmunternde Neologismen wie „querweltein“ sind zu entdecken. Wulf Kirsten, wurde 1934 in Klipphausen (Kreis Meißen) als Sohn eines Steinmetzen und Kleinbauern geboren. Er lebt seit vielen Jahren in Weimar, zunächst als Verlagslektor, seit 1987 als freier Schriftsteller. Das vorgestellte Gedicht wurde dem Wulf Kirsten gewidmeten „Poesiealbum 4“ entnommen, das in zweiter Auflage 2009 im Märkischen Verlag Wilhelmshorst erschienen ist. 2012 publizierte Kirsten den Gedichtband „fliehende ansicht“ im S. Fischer Verlag, Frankfurt. Das vorgestellte Gedicht ist auch darin enthalten. Druckansicht
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