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Hanns Cibulka
Böhmischer Rebstock
In deinem Schatten wurde ich geboren – der Engel, der vor dem Vaterhaus steht, versengte Flügel. Das Flußbett flach, ausgetrocknet, vom Totenacker her verbellt mir ein Hund die Heimkehr ins Dorf. Die Jahre an den Regenmann verkauft, so viel Fremde unter der Zunge, und nur die Toten liegen noch an der alten Stelle. Böhmischer Rebstock, verholzt, die Zeit vermondet, im Traum tut es manchmal noch weh.
Michael Buselmeier
Hanns Cibulka war im Osten Deutschlands ein bekannter, geachteter Dichter und ist es in eingeschränkter Form bis heute geblieben. Eine von Gerhard Wolf 1986 bei Philipp Reclam in Leipzig herausgegebene Auswahl seiner Gedichte erreichte eine für Lyrik ungewöhnlich hohe Auflage von über 30 000 Exemplaren. Nach seinem Tod im Jahr 2004 erschienen mindestens drei weitere Sammelbände. Cibulka war alles andere als ein dem Sozialistischen Realismus verpflichtender Parteibarde, nämlich ein freier, kritischer Geist und ein früher Naturschützer, der häufig in Kirchen las, ein Kenner von Pflanzen und Freund von Tieren, der sich noch im Alter als Rebell verstand und bereits zu DDR-Zeiten erkannte, dass wir „zu einem einfachen, bescheidenen Leben zurückkehren müssen.“
Im verschwenderischen Westen hingegen wusste und weiß man von Hanns Cibulkas Arbeiten nur wenig oder auch gar nichts. Seine einfühlsam-reflektierten Tagebücher und Kurzprosa-Sammlungen sind hier ebenso wenig bekannt wie seine knappen, bildhaften, in freie Rhythmen gefassten Porträt- und Landschaftsgedichte, etwa zu Franz Schuberts „Winterreise“: „Liegengelassen / das im Eiswind / geschriebene Lied.“ Die Beschäftigung mit seinen Beobachtungen, Erzähl-Fragmenten und „Scherben“ ist für jeden wahren Leser inspirierend. Man lernt einen konzentriert arbeitenden Dichter mit offenem Blick für Natur, Geschichte und Mythos kennen. Zeitlebens hatte der 1920 im Mährischen geborene Cibulka einen Sinn für Vergangenes und Vergessenes, für die innere Biographie von Dingen und Menschen. Er hat anrührende Erinnerungsgedichte an die verlorene böhmisch-mährische Kindheitslandschaft geschrieben, an das spröde, „verkarstete Land“, an Silberdistel und Weichselbaum. „Ein halbes Leben / habe ich versucht / deine Landschaften zu entziffern.“ Aus ungewöhnlicher Perspektive, als Wehrmachtsoldat und Kriegsgefangener, lernte Cibulka Italien kennen; besonders das karge Sizilien hat ihn auf Dauer geprägt: das grelle Licht, die klaren Formen, aber auch die Armut der landlosen Bauern. Hier wurzeln Assoziationen an Hölderlins Hyperion, an den sich selbst opfernden Empedokles, an den späten Goethe, an mythische Gestalten wie David, Orpheus und den leidengeübten Odysseus. Cibulka war überzeugt, dass es „ein inneres Bezugssystem zwischen dem Stil eines Schriftstellers und der Landschaft“, in der er geboren wurde und aufgewachsen ist, gibt. Jede Landschaft erzeuge „einen bestimmten Rhythmus“ des Fühlens und des Denkens in uns, der meistens unbewusst bleibe. In seinem Fall haben sich böhmische mit italienischen Elementen verwebt: „Landschaften / trage ich im Blut.“ Ein Weniges dürfte auch Thüringen (etwa die Saalegegend um Dornburg) beigetragen haben. Jahrzehntelang, bis zu seinem Tod, hat der Dichter, zeitweise als Bibliothekar, in Gotha gelebt. Das hier vorgestellte Gedicht über den „Böhmischen Rebstock“ (1962) reiht negative Bilder aneinander, die vom Trauma des Heimatverlusts zeugen und die Erinnerungen des Rückkehrers an das Herkunftsdorf überlagern – eine frostige Landschaft, wie man sie etwa aus Wilhelm Müllers „Winterreise“ kennt: „Auf einen Totenacker / Hat mich mein Weg gebracht.“ Das Flussbett ist ausgetrocknet, ein Hund bellt vom „Totenacker“ her. Existentielle „Fremde“ und Trauer herrschen im Bild des „Regenmanns“ wie des die Geburt überschattenden „Rebstocks“ vor. Die Heimat wird nur als verdorrte wahrgenommen, als mit den Jahren „verholzte“, „vermondete“, also kalte und tote, leergestorbene – eine Gegend, die ohne die ordnende Hand des Weingärtners wie des Landvermessers, beides auch literarisch geprägte Berufe, darben muss. Auch der Engel, der wohl eher symbolisch als real „vor dem Vaterhaus steht“, ist beschädigt, er hat „versengte Flügel“, ein Zeichen für Krieg und Vertreibung. Angesprochen dürfte hier weniger der Schutzengel sein, der in Cibulkas Texten auch als „Blumenengel“ erscheint, sondern der Grab- und Todesengel, der Engel des Jüngsten Gerichts. Hanns Cibulka wurde 1920 im mährischen Tuchmacherstädtchen Jägerndorf geboren. Er starb 2004 in Gotha. Das vorgestellte Gedicht entstammt dem von Heinz Puknus edierten Gedichtband „Wo deine Fragen offen sind“, Edition Muschelkalk, Wartburg Verlag, Weimar 2013. Ursprünglich stand es in Cibulkas erstem Gedichtband „Arioso“ (1962). Druckansicht
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