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Karin Fellner
Eine Zeitfalte weiter

Steppe, gesteppte Gräser, so weit das Auge reicht
Spelzen, Spreiten, Knoten und Fellträger im Marsch
Witterung, ein Wogen, das mürbe Auf und Ab
von Herden, Grannen, Blut
und ein Schock Ameisen auf
der verblichenen Schulter
eines Gnus – das bist du.

Gnu also du – durch Gras, mit deinen Nüstern zitterst
vorwärts und all die Verwandten, Schwaden
summende Schwaden, um eure Krummbuckel. Dir
entsteht ein Kehllaut, roh, andre folgen nach
langgliedrig, rottönig, auf Trockenerde die Spur
im Zischen der Halme. Still.
Jetzt hebst du einen Huf.
Jetzt drückst du ihn in dies Ufer.

  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 73

Michael Braun
Das Gedicht im Anthropozän?



Die lyrische Expedition in die Vorgeschichte des Menschen hatte der „Medizyniker“ Gottfried Benn vor hundert Jahren als süße Regressionsphantasie inszeniert, als Ausflug ins Animalisch-Vegetabilische mit der Tendenz, das Ich im Urschleim aufzulösen: „O dass wir unsere Ururahnen wären. / Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor. / Leben und Tod, Befruchten und Gebären / glitte aus unseren stummen Säften vor./ Ein Algenblatt oder einen Dünenhügel, / vom Wind Geformtes und nach unten schwer. / Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel / wäre zu weit und litte schon zu sehr.“ Das war auch eine zeitliche Rückwärtsbewegung in die Frühgeschichte der Evolution, ein sehnsüchtiger Blick in ein Erdzeitalter, als noch keine Qualen des Bewusstseins zu erleiden waren. Das Gedicht der in München lebenden Lyrikerin Karin Fellner verschiebt die Zeitachse in die andere Richtung - und entfaltet eine poetische Chronologie der erdgeschichtlichen Veränderungen.
  Wir werden Zeuge einer langen Wanderungsbewegung, durch Landschaftszonen mit Grasbewuchs, einer Bewegung von Herden durch eine Steppe oder eine Savanne, in der Art von „the Great Migration“, wie sie Antilopen und Gnus in der afrikanischen Savanne über Hunderte von Kilometern vollziehen. Karin Fellners Gedicht ist ganz aus dem Stoff der Naturgeschichte gewebt, aus einer Kombination geografischer, geologischer und botanischer Bezeichnungen konturiert sich das Poetische, das hier um Prozesse der Evolution zu kreisen scheint. „Gesteppte Gräser“, „Spelzen“, „Spreiten“, „Grannen“, „Gras“, „Trockenerde“, „Halme“ – der Text scheint ganz sinnlich und unmittelbar in Naturphänomenen aufzugehen. Hinzu treten Signalwörter mit geologischer oder geophysikalischer Referenz. Der Begriff der „Zeitfalte“, der ja auf eine instabil gewordene Raumzeit-Erfahrung verweist, markiert hier fundamentale Entwicklungen in der Erdgeschichte, die Metamorphosen des kreatürlichen Lebens lange vor dem Auftritt des homo sapiens. Das Gnu, das Huftier, wird hier mit dem Ich identifiziert, eine in der Gegenwartslyrik eher ungewöhnliche Rollenmaske für ein lyrisches Subjekt. Das Ich muss hier noch ganz ohne die Anmaßung der Individualität auskommen, bleibt eingruppiert in ein Kollektiv. Als Schlüsselgedicht der Anthologie „Lyrik im Anthropozän“ (Berlin, Kookbooks 2016) erzählt uns dieses Gedicht von dem langen unruhigen Weg der Kreatur und des Menschen zu sich selbst – bis hin zur Entstehung der Sprache („Dir / entsteht ein Kehllaut“) und des Bewusstseins. In einem begleitenden Essay zur „Anthropozän“-Anthologie spricht Fellner von „einem Bewusstsein der größeren Erdgeschichte, die die Menschenzeit um ein Vielfaches übersteigt“. Den Begriff „Anthropozän“ hatte um das Jahr 2000 ein Atmosphärenforscher und Chemiker erfunden, blitzschnell folgten ihm Interpretationen des „Anthropozäns“ als „kulturellem Konzept“. Gegenüber den spekulativen Theorem des „Anthropozäns“ , das wie bei allen Verlockungsvokabeln schon epidemisch in Kulturdebatten zirkuliert, bewahrt sich das Gedicht von Karin Fellner einen unschätzbaren Vorteil: Es ist ganz aus sinnlichen Details gefügt, aus lauter kleinen Wörterentzündungen, die sich zu einem vibrierenden Text über die Rätsel unserer Evolution gruppieren.

Karin Fellner, geboren 1970, studierte Psychologie in Konstanz und Literaturwissenschaft in München, arbeitet als Autorin, Lektorin und Schreibcoach in München. Sie veröffentlichte seit 2005 vier Gedichtbände und wurde u.a. mit dem Förderpreis des Leonce-und-Lena-Preises (2005) und dem Medienpreis beim Lyrikpreis Meran (2012) ausgezeichnet. Das vorliegende Gedicht wurde der Anthologie „All dies hier, Majestät ist deins. Lyrik im Anhtropozän“ (Hg. von Anja Bayer und Daniela Seel, Kookbooks, Berlin 2016) entnommen.

Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     01.01.2017




Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
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Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Karin Fellner
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
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  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
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krähen
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Uraniafalter
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Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
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Vom Flüchtigschönen
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grauwacke
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Kinderjuni
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Die Hoffnungsstufen
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Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
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Edoms Nacht
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Belegte Brotzeit
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Allein
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muxmäuschen
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Auf sommerlichem Friedhof
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verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
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die roten schuhe
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Pro domo et mundo
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die möglichkeit einer verwechslung ...
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     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
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  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
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     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge