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Karin Fellner
Eine Zeitfalte weiter
Steppe, gesteppte Gräser, so weit das Auge reicht Spelzen, Spreiten, Knoten und Fellträger im Marsch Witterung, ein Wogen, das mürbe Auf und Ab von Herden, Grannen, Blut und ein Schock Ameisen auf der verblichenen Schulter eines Gnus – das bist du. Gnu also du – durch Gras, mit deinen Nüstern zitterst vorwärts und all die Verwandten, Schwaden summende Schwaden, um eure Krummbuckel. Dir entsteht ein Kehllaut, roh, andre folgen nach langgliedrig, rottönig, auf Trockenerde die Spur im Zischen der Halme. Still. Jetzt hebst du einen Huf. Jetzt drückst du ihn in dies Ufer.
Michael Braun Die lyrische Expedition in die Vorgeschichte des Menschen hatte der „Medizyniker“ Gottfried Benn vor hundert Jahren als süße Regressionsphantasie inszeniert, als Ausflug ins Animalisch-Vegetabilische mit der Tendenz, das Ich im Urschleim aufzulösen: „O dass wir unsere Ururahnen wären. / Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor. / Leben und Tod, Befruchten und Gebären / glitte aus unseren stummen Säften vor./ Ein Algenblatt oder einen Dünenhügel, / vom Wind Geformtes und nach unten schwer. / Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel / wäre zu weit und litte schon zu sehr.“ Das war auch eine zeitliche Rückwärtsbewegung in die Frühgeschichte der Evolution, ein sehnsüchtiger Blick in ein Erdzeitalter, als noch keine Qualen des Bewusstseins zu erleiden waren. Das Gedicht der in München lebenden Lyrikerin Karin Fellner verschiebt die Zeitachse in die andere Richtung - und entfaltet eine poetische Chronologie der erdgeschichtlichen Veränderungen.
Wir werden Zeuge einer langen Wanderungsbewegung, durch Landschaftszonen mit Grasbewuchs, einer Bewegung von Herden durch eine Steppe oder eine Savanne, in der Art von „the Great Migration“, wie sie Antilopen und Gnus in der afrikanischen Savanne über Hunderte von Kilometern vollziehen. Karin Fellners Gedicht ist ganz aus dem Stoff der Naturgeschichte gewebt, aus einer Kombination geografischer, geologischer und botanischer Bezeichnungen konturiert sich das Poetische, das hier um Prozesse der Evolution zu kreisen scheint. „Gesteppte Gräser“, „Spelzen“, „Spreiten“, „Grannen“, „Gras“, „Trockenerde“, „Halme“ – der Text scheint ganz sinnlich und unmittelbar in Naturphänomenen aufzugehen. Hinzu treten Signalwörter mit geologischer oder geophysikalischer Referenz. Der Begriff der „Zeitfalte“, der ja auf eine instabil gewordene Raumzeit-Erfahrung verweist, markiert hier fundamentale Entwicklungen in der Erdgeschichte, die Metamorphosen des kreatürlichen Lebens lange vor dem Auftritt des homo sapiens. Das Gnu, das Huftier, wird hier mit dem Ich identifiziert, eine in der Gegenwartslyrik eher ungewöhnliche Rollenmaske für ein lyrisches Subjekt. Das Ich muss hier noch ganz ohne die Anmaßung der Individualität auskommen, bleibt eingruppiert in ein Kollektiv. Als Schlüsselgedicht der Anthologie „Lyrik im Anthropozän“ (Berlin, Kookbooks 2016) erzählt uns dieses Gedicht von dem langen unruhigen Weg der Kreatur und des Menschen zu sich selbst – bis hin zur Entstehung der Sprache („Dir / entsteht ein Kehllaut“) und des Bewusstseins. In einem begleitenden Essay zur „Anthropozän“-Anthologie spricht Fellner von „einem Bewusstsein der größeren Erdgeschichte, die die Menschenzeit um ein Vielfaches übersteigt“. Den Begriff „Anthropozän“ hatte um das Jahr 2000 ein Atmosphärenforscher und Chemiker erfunden, blitzschnell folgten ihm Interpretationen des „Anthropozäns“ als „kulturellem Konzept“. Gegenüber den spekulativen Theorem des „Anthropozäns“ , das wie bei allen Verlockungsvokabeln schon epidemisch in Kulturdebatten zirkuliert, bewahrt sich das Gedicht von Karin Fellner einen unschätzbaren Vorteil: Es ist ganz aus sinnlichen Details gefügt, aus lauter kleinen Wörterentzündungen, die sich zu einem vibrierenden Text über die Rätsel unserer Evolution gruppieren. Karin Fellner, geboren 1970, studierte Psychologie in Konstanz und Literaturwissenschaft in München, arbeitet als Autorin, Lektorin und Schreibcoach in München. Sie veröffentlichte seit 2005 vier Gedichtbände und wurde u.a. mit dem Förderpreis des Leonce-und-Lena-Preises (2005) und dem Medienpreis beim Lyrikpreis Meran (2012) ausgezeichnet. Das vorliegende Gedicht wurde der Anthologie „All dies hier, Majestät ist deins. Lyrik im Anhtropozän“ (Hg. von Anja Bayer und Daniela Seel, Kookbooks, Berlin 2016) entnommen. Druckansicht
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