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Christoph Meckel
Kind
Es zog den Schlüssel aus der Tür. Es warf ihn in die Sonne und er schmolz. Das Haus war leer, fort war das letzte Tier. Es lagen bloß noch ein paar Steine hier und nachts zum Feuermachen etwas Holz. Der Morgen war von Tau und Asche kalt. Es ging auf einem Weg in einen Wald. Der Engel sah es und vergaß es bald.
Michael Buselmeier Glaubt man diesem Gedicht, ist die Kindheit eine Phase vollkommener Einsamkeit, Verlassenheit und Kälte. Es muss nicht Christoph Meckel selbst sein, der das so am eigenen Leib erfahren hat, doch seine fast überhart mit Vater und Mutter abrechnenden Suchbilder legen es nahe. Ich dachte beim ersten Lesen an das Märchen der Großmutter in Georg Büchners Woyzeck, ein Anti-Märchen, das von einem „arm Kind“ erzählt, das verloren umherirrt in einem absolut leeren Welthaus. Der Mond erweist sich als „ein Stück faul Holz“, die Sonne ist „ein verwelkt Sonneblum“, die Erde „ein umgestürzter Hafen“. Wie so oft im Märchen, hat das Kind auch in Meckels Gedicht keinen Namen und kein Geschlecht. Es trägt keine individuellen Züge, heißt auch im Titel einfach nur Kind (ohne bestimmten oder unbestimmten Artikel) und in den anschließenden acht Versen wiederholt „es“. Gleichwohl ist dieses zeitlose, irgendwie magische Wesen nicht nur von Leere, sondern auch von Geheimnis umgeben und darüber hinaus zu entschiedenen Gesten und Handlungen fähig: Es verlässt den Raum, der ihm vielleicht einen Rest von Geborgenheit gab, das leere (Eltern-?)Haus, in dem man immerhin noch „Feuermachen“ konnte. Es zieht den Schlüssel ein letztes Mal aus der Tür und wirft ihn „in die Sonne“. Wie Büchners „arm Kind“ macht es sich auf in eine Welt, die von „Asche kalt“ ist, geht auf „einem“ Weg in „einen“ (anonymen) Wald. Und „der“ Engel, der – wie bei Meckel öfter – am Ende auftaucht, vergisst es „bald“. Selbst auf den Schutzengel ist in dieser entgötterten Welt kein Verlass mehr. Hoffnungszeichen fehlen gänzlich. Es ist die existentialistische Botschaft, die wir von Sartre, Camus, ja schon von Nietzsche kennen, und das Kind steht für den ortlosen Menschen, der heroisch unter einem leeren Himmel ausharrt. Selten hat Meckel in einem Gedicht so knapp und karg, ganz ohne Redundanz die Worte gesetzt. Dieses kleine große Gedicht, das so kühl und plastisch dasteht, zog mich sofort an. Entstanden zwischen 1997 und 2001, eröffnet es die von Lutz Seiler unter dem etwas ausschweifenden Titel Ungefähr ohne Tod im Schatten der Bäume zusammengestellte Auswahl von Meckels Gedichten. Bei den Versen handelt es sich, bis auf den ersten, um fünffüßige Jamben, die mit drei lapidaren Reimen auskommen. Die so entstehende Regelmäßigkeit hat etwas Schicksalhaftes, sie scheint unaufhaltsam dem Nichts zuzustreben, ein strenger Rhythmus, dem sich der Leser nur schwer entziehen kann. Christoph Meckel ist 1935 in Berlin geboren als Sohn des Schriftstellers Eberhard Meckel und vorwiegend in Freiburg aufgewachsen. Er lebt als Schriftsteller und Grafiker in Ötlingen im Markgräflerland, in Berlin und in Südfrankreich. Das vorgestellte Gedicht stammt aus dem Sammelband Ungefähr ohne Tod im Schatten der Bäume, Carl Hanser Verlag, München 2003. 01.02.2013
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