Die Wustrower Lust (1).
(…) ich langweile mich bei ihm; und wenn wir sonntags geruhsam Arm in Arm spazierengehen, dann merke ich, daß mein Blick.unwillkürlich in der Menge umherschweift und nach anderen Gesichtern, anderen Physiognomien Ausschau hält. Ich ertappe mich bei dem Gedanken: Der da, der mit der niedrigen Stirn, der gebogenen Nase und dem breiten, hin und wieder zuckenden Kinn, würde der mir eine Ohrfeige geben? Oder der andere da, der mit dem hageren, bleichen, ausgemergelten Gesicht, dem lippenlosen Mund, der schmalen Nase und den stahlgrauen Augen, würde der mir ganz langsam den Arm umdrehen, bis mir vor Schmerz die Sinne schwinden? Fast, als erriete er meine Gedanken, spüre ich ab und zu an meinem Arm, daß sich seine mächtigen Muskeln (er ist stark, bärenstark, er trainiert dauernd, auf dem Sportplatz, im Schwimmbad, auf der Havel) erregt straffen. Sie ziehen sich zusammen, als wollten sie mir sagen: Wir sind da, gib acht, wir sind wirklich da. Aber ich bin nahe daran, die Achseln zu zucken: Ach, da wäre was anderes vonnöten als ein paar gestraffte Muskeln.
Kurz und gut, eines Tages fahren wir mit dem Wagen nach Wustrow, er am Steuer, in Pullover, Blue jeans, Schnürschuhen, mit Bart und Jesushaar. Nun sind wir auf der Promenade am Meer. Die Ostsee ist stürmisch, dunkelgrün, und von den glasigen, gekräuselten Brandungswellen reißt der Sturm Schaumfetzen und trägt sie davon; zwischen den einzelnen Wogen weite, leere Flächen wie Seifenschaum, gesprenkelt mit weißen Ringen, die sich ausdehnen und zerfließen wie die Maserung in einem schillernden Gewebe. Wir bleiben im Auto sitzen und rauchen schweigend. Dann steigt in mir, weniger vom Kopf als vom Leib her, ein heftiger, unwiderstehlicher Drang zum Widerspruch auf. Ich sage: „Schön, das Meer, was? So ruhig, so blau, so heiter.“
Er sagt eine Weile nichts, dann erwidert er: „Das Meer ist nicht ruhig, und es ist nicht blau. Es ist grün.“
„Nein, es ist ruhig und blau.“
„Willst du mich auf den Arm nehmen? Es ist grün und bewegt.“
In diesem Augenblick wende ich mich um, als wollte ich ihm heftig widersprechen, und da hebt er unversehens die Hand und verpaßt mir eine Ohrfeige. Nicht sehr kräftig, das stimmt schon, gewissermaßen eine gefederte Ohrfeige, eine yon denen, die es sich auf halbem Wege anders überlegen und sich fast zurückziehen; aber immerhin eine Ohrfeige. Ich hebe ebenfalls die Hand und knalle ihm eine, aber mit der ganzen Wucht, die meine schwache, zarte Frauenhand aufbringen kann. Nun stürzt er sich auf mich und versucht, mich von neuem zu ohrfeigen. Mit beiden Händen schütze ich mich, wende den Kopf hierhin und dorthin, weiche in dem engen Innenraum des Wagens aus, doch am Ende gelingt es ihm, zwei Ohrfeigen bei mir zu landen, eine auf die Wange, allerdings von der noch zögernden und zurückhaltenden Sorte. Ich überlege rasch, wie ich ihn dazu bringen könnte, mir richtige Ohrfeigen zu versetzen; und schließlich sage ich mir, daß ich ihn kratzen muß. Ich habe schmale, spitze, messerscharfe Fingernägel, lange rote Nägel an den Spitzen schlanker und durchgeistigter schneeweißer Finger. Mit diesen Nägeln greife ich an und bringe ihm tiefe Kratzer bei, von den Schläfen bis hinunter zum Hals. Ich spüre, wie die Nägel die Haut und vielleicht auch etwas Fleisch wegreißen, und denke: So, das war geschafft. Diesmal ist es wirklich ernsthaft geschafft. Er schlägt mich nicht, er wirft sich auf mich und versucht, mich zu beißen, wie ein wildes Tier, das keine Hände benutzen kann, weil es keine hat. Zuerst beißt er mich ins Kinn, und zwar kräftig, und zerfetzt mit den Zähnen die zarte Haut; dann erwischt er mich, als ich ihm die Faust in den Magen stoße, an den Haaren, und nach einem vergeblichen Versuch, nach dem Jochbein zu schnappen (eine seltsame Stelle!), gelingt ihm ein gräßlicher Biß ins Ohr, als wollte er es mir abtrennen. Vor Schmerz, voller Lust schreie ich auf. Im selben Augenblick werden die beiden Autotüren aufgerissen, Leute greifen ein, zerren uns hinaus, und im Nu sind wir beide von entsetzten Menschen umringt. Ich bin zerzaust und außer Atem, mein Kinn und mein Ohr bluten, ich bin glücklich. Er aber, dieser Dummkopf, dieser Blödian, dieser Idiot, er weint!
(…)
Kurz und gut, eines Tages fahren wir mit dem Wagen nach Wustrow, er am Steuer, in Pullover, Blue jeans, Schnürschuhen, mit Bart und Jesushaar. Nun sind wir auf der Promenade am Meer. Die Ostsee ist stürmisch, dunkelgrün, und von den glasigen, gekräuselten Brandungswellen reißt der Sturm Schaumfetzen und trägt sie davon; zwischen den einzelnen Wogen weite, leere Flächen wie Seifenschaum, gesprenkelt mit weißen Ringen, die sich ausdehnen und zerfließen wie die Maserung in einem schillernden Gewebe. Wir bleiben im Auto sitzen und rauchen schweigend. Dann steigt in mir, weniger vom Kopf als vom Leib her, ein heftiger, unwiderstehlicher Drang zum Widerspruch auf. Ich sage: „Schön, das Meer, was? So ruhig, so blau, so heiter.“
Er sagt eine Weile nichts, dann erwidert er: „Das Meer ist nicht ruhig, und es ist nicht blau. Es ist grün.“
„Nein, es ist ruhig und blau.“
„Willst du mich auf den Arm nehmen? Es ist grün und bewegt.“
In diesem Augenblick wende ich mich um, als wollte ich ihm heftig widersprechen, und da hebt er unversehens die Hand und verpaßt mir eine Ohrfeige. Nicht sehr kräftig, das stimmt schon, gewissermaßen eine gefederte Ohrfeige, eine yon denen, die es sich auf halbem Wege anders überlegen und sich fast zurückziehen; aber immerhin eine Ohrfeige. Ich hebe ebenfalls die Hand und knalle ihm eine, aber mit der ganzen Wucht, die meine schwache, zarte Frauenhand aufbringen kann. Nun stürzt er sich auf mich und versucht, mich von neuem zu ohrfeigen. Mit beiden Händen schütze ich mich, wende den Kopf hierhin und dorthin, weiche in dem engen Innenraum des Wagens aus, doch am Ende gelingt es ihm, zwei Ohrfeigen bei mir zu landen, eine auf die Wange, allerdings von der noch zögernden und zurückhaltenden Sorte. Ich überlege rasch, wie ich ihn dazu bringen könnte, mir richtige Ohrfeigen zu versetzen; und schließlich sage ich mir, daß ich ihn kratzen muß. Ich habe schmale, spitze, messerscharfe Fingernägel, lange rote Nägel an den Spitzen schlanker und durchgeistigter schneeweißer Finger. Mit diesen Nägeln greife ich an und bringe ihm tiefe Kratzer bei, von den Schläfen bis hinunter zum Hals. Ich spüre, wie die Nägel die Haut und vielleicht auch etwas Fleisch wegreißen, und denke: So, das war geschafft. Diesmal ist es wirklich ernsthaft geschafft. Er schlägt mich nicht, er wirft sich auf mich und versucht, mich zu beißen, wie ein wildes Tier, das keine Hände benutzen kann, weil es keine hat. Zuerst beißt er mich ins Kinn, und zwar kräftig, und zerfetzt mit den Zähnen die zarte Haut; dann erwischt er mich, als ich ihm die Faust in den Magen stoße, an den Haaren, und nach einem vergeblichen Versuch, nach dem Jochbein zu schnappen (eine seltsame Stelle!), gelingt ihm ein gräßlicher Biß ins Ohr, als wollte er es mir abtrennen. Vor Schmerz, voller Lust schreie ich auf. Im selben Augenblick werden die beiden Autotüren aufgerissen, Leute greifen ein, zerren uns hinaus, und im Nu sind wir beide von entsetzten Menschen umringt. Ich bin zerzaust und außer Atem, mein Kinn und mein Ohr bluten, ich bin glücklich. Er aber, dieser Dummkopf, dieser Blödian, dieser Idiot, er weint!
(…)
albannikolaiherbst - Sonntag, 3. Juli 2011, 16:31- Rubrik: Texte
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