Notate Napules (6). Lunedì, il 15 Aprile 2013. Erst abends aber die Fortsetzung der Purgatorio-Erzählung. Eingeschoben indessen ein drittes Fegefeuer: das Museum Hermann Nitsch, sowie Beschluß des ersten Purgatoriums.
8.15 Uhr:
[Alloggio del Conte, Camera.]
Also es i s t Markt, auch am Montag; dennoch wirkt die Gegend heute weniger qurilig, auch haben nicht alle Läden auf, sind nicht alle Stände aufgebaut, die die meist kleinen Innenquadraten dieser Geschäfte zu einer großen nach draußen verbreiten, sei es besonders der Fisch-, sei es besonders der Schuhhändler und andren jederlei oft technischen Krimskrams', sowie ganze Lawinen von Kitsch; Haushaltswaren zudem, „tutto per la casa“: Töpfe, Espressomaschinchen, Besteck, Putzmittel, vieles nur um wenige Euro, wenn nicht Cents zu haben, solide Handarbeit, sei's der Textilien, sei's der Geräte, die mit einem Zeug gemischt sind, das beim ersten Gebrauch auseinanderfällt. Außerdem die Schmuggelartikel, die Blender und Massen CDs eines umgangenen Urheberrechts – aus China, wie ich hörte. Auch dieses Geschäft kontrolliert „das System“. Es gibt keine Razzien, jedenfalls habe ich niemals eine erlebt, so oft ich auch hierwar, Wen denn schnappte man auch? Ein paar bitterarme Nordafrikaner, Zentralafrikaner, bitterarme Inder, bitterarme Menschen aus Asien, wobei es diese nicht selten zu eigenen Geschäften gebracht haben, aber man weiß nicht, um welchen Preis, zumal die „Systeme“ längst international kooperieren, zu bedienende Bezirke verkaufen oder vermieten. Sowieso steht hinter all den fliegenden Händlern eine Reservearmee harrend bereit, falls jemand ausfällt, seinen Platz einzunehmen. Viel Zeit wird das System nicht aufwenden müssen, vakante Plätze zu besetzen, zumal ein solcher Kleinhändler oft deutlich mehr verdient als der Inhaber kleiner ehrlicher Läden; selbstverständlich ist dieses „mehr“ ausgesprochen relativ.
Wir wissen aus Berlin sehr gut, daß „Mafia“ längst kein süditalienisches Problem mehr ist; das war es wahrscheinlich schon lange nicht mehr, auch wenn die internationalen Märkte aus winzigen Örtchen Kampaniens, Kalabriens und Siziliens kontrolliert werden, bisweilen aus - >>>> Saviano zufolge - engen und dunklen Bunkern unter Häusern und Stallungen; der Herr über die Kapitalströme lebe schon zu allen Zeiten wie im Gefängnis. Der Preis für Macht. Man entscheide sich von Anfang an für ein unglückliches Leben.
Aus diesem Zirkel – daß, wenn man überleben wolle, nichts andres bleibe, als dem System zur Hand zu sein – wollen die jungen Menschen von >>>> La Paranza hinaus; ihre Kooperative zeigt, daß das geht. Ich will heute die „Heilige Meile“ La Sanitàs einmal zur Gänze, und bewußt, abgehen; kennen, die Gassen, „tue“ ich schon. Allerdings ist zu hoffen, daß ich mein Flanieren nicht zahnarztshalber abbrechen muß; heute morgen, als ich erwachte, waren die Schmerzen schon arg, haben sich aber nach dem Caffè auch wieder beruhigt.
Aber verzeihen Sie bitte: Bevor ich weitererzähle, muß ich die „eingefangenen“ O-Töne und auch noch einige Bilder sichern. Übermorgen bereits werde ich zurück nach Berlin fliegen, da beginnt die Zeit jetzt zu rasen. Wahrscheinlich schreibe ich Ihnen erst am Abend wieder.
[Alloggio del Conte, Camera.]
Also es i s t Markt, auch am Montag; dennoch wirkt die Gegend heute weniger qurilig, auch haben nicht alle Läden auf, sind nicht alle Stände aufgebaut, die die meist kleinen Innenquadraten dieser Geschäfte zu einer großen nach draußen verbreiten, sei es besonders der Fisch-, sei es besonders der Schuhhändler und andren jederlei oft technischen Krimskrams', sowie ganze Lawinen von Kitsch; Haushaltswaren zudem, „tutto per la casa“: Töpfe, Espressomaschinchen, Besteck, Putzmittel, vieles nur um wenige Euro, wenn nicht Cents zu haben, solide Handarbeit, sei's der Textilien, sei's der Geräte, die mit einem Zeug gemischt sind, das beim ersten Gebrauch auseinanderfällt. Außerdem die Schmuggelartikel, die Blender und Massen CDs eines umgangenen Urheberrechts – aus China, wie ich hörte. Auch dieses Geschäft kontrolliert „das System“. Es gibt keine Razzien, jedenfalls habe ich niemals eine erlebt, so oft ich auch hierwar, Wen denn schnappte man auch? Ein paar bitterarme Nordafrikaner, Zentralafrikaner, bitterarme Inder, bitterarme Menschen aus Asien, wobei es diese nicht selten zu eigenen Geschäften gebracht haben, aber man weiß nicht, um welchen Preis, zumal die „Systeme“ längst international kooperieren, zu bedienende Bezirke verkaufen oder vermieten. Sowieso steht hinter all den fliegenden Händlern eine Reservearmee harrend bereit, falls jemand ausfällt, seinen Platz einzunehmen. Viel Zeit wird das System nicht aufwenden müssen, vakante Plätze zu besetzen, zumal ein solcher Kleinhändler oft deutlich mehr verdient als der Inhaber kleiner ehrlicher Läden; selbstverständlich ist dieses „mehr“ ausgesprochen relativ.
Wir wissen aus Berlin sehr gut, daß „Mafia“ längst kein süditalienisches Problem mehr ist; das war es wahrscheinlich schon lange nicht mehr, auch wenn die internationalen Märkte aus winzigen Örtchen Kampaniens, Kalabriens und Siziliens kontrolliert werden, bisweilen aus - >>>> Saviano zufolge - engen und dunklen Bunkern unter Häusern und Stallungen; der Herr über die Kapitalströme lebe schon zu allen Zeiten wie im Gefängnis. Der Preis für Macht. Man entscheide sich von Anfang an für ein unglückliches Leben.
Aus diesem Zirkel – daß, wenn man überleben wolle, nichts andres bleibe, als dem System zur Hand zu sein – wollen die jungen Menschen von >>>> La Paranza hinaus; ihre Kooperative zeigt, daß das geht. Ich will heute die „Heilige Meile“ La Sanitàs einmal zur Gänze, und bewußt, abgehen; kennen, die Gassen, „tue“ ich schon. Allerdings ist zu hoffen, daß ich mein Flanieren nicht zahnarztshalber abbrechen muß; heute morgen, als ich erwachte, waren die Schmerzen schon arg, haben sich aber nach dem Caffè auch wieder beruhigt.
Aber verzeihen Sie bitte: Bevor ich weitererzähle, muß ich die „eingefangenen“ O-Töne und auch noch einige Bilder sichern. Übermorgen bereits werde ich zurück nach Berlin fliegen, da beginnt die Zeit jetzt zu rasen. Wahrscheinlich schreibe ich Ihnen erst am Abend wieder.
(Und soeben bringt mir Michele wieder Caffè aufs Zimmer, der heiß und süß zu trinken ist; wer in Mercato/Pendino einen Caffè bestellt, bekommt ihn ungefragt süß, und wer ihn unbestellt bekommt, auch.)
Doch: Zu den Toten gehen:

PURGATORIO I (Fortsetzung)
[18.45 Uhr:
Zwischenspiel >>>> im Kommentar, auch nämlich in eigener Sache.]
PURGATORIO III
Il Museo Nitsch
Wenn zu dieser Stadt ein Museum paßt, dann dieses.

das erst, anders als die andern, im 16. Jahrhundert nach Christus begann. Denken Sie >>>> an die Taube, dessen erstorbener Blick uns folgt. Sie ist, auch wenn wir sie gerne vergiften, des Heiligen, unseres, Geistes Symbol. Und mein Zahnschmerz, immer wieder, pulst los. Ich sage, der Schmerz gehöre zum Leben; irrsinnigerweise, nach diesem Museum erst recht, ist es mir recht, daß er da ist, daß ich also m i t ihm lebe, mich in meiner Lebenswollust gar nicht von ihm stören lasse, sondern ihn integriere. Daß so etwas geht, habe ich zuvor nicht gewußt, ja, daß er die Eindrücke sogar intensiviert, auch und gerade die guten, überwältigenden, momenthaft unfaßbaren, glückhaften. und wie er jeden der Tausende Blicke ins Blau des Golfs und grad auch nach Capri hinüber noch ganz besonders auflädt, in deren Villa San Michele ich einmal gedacht habe, angekommen zu sein, endgültig, meint das und war doch, und ist doch, von einer humanistischen Komik, die ich damals auch gespürt und der ich dann >>>> in meinem vielleicht schönsten Hörstück, das war 2006, sieben Jahre ist es her, den Laut gegeben habe, die Laute und die Klänge -
- allora:
Die Heilige Meile.
La Sanità.
Und weiter zu den Quellen:
Sie erinnern sich: Ich war den Miglio Sancto, ohne schon seinen Begriff zu kennen, hinaufflaniert; ich eile stets, wenn ich flaniere, für andre jedenfalls; für mich selbst geh ich bequem. „Die Menschen sind so langsam“, hat >>>> Gogolin http://albannikolaiherbst.twoday.net/stories/atemlose-verbeugung-vor-peter-h-gogolins-calvinos-hotel/ einmal gestöhnt; zu denen gehöre aber nicht ich. - Ist man über den Corso Duca D'Aosla hinüber, wird die Gegend dörflich – wohlgemerkt: mitten in der Stadt. Und immer noch ist's bis zu via delle Fontanelle ein Stück. Vor mir geht ein junges Touristenpaar, deutlich am Aufzug zu erkennen, aber freundlich im Aussehn, unaufdringlich, ohne Protz, verliebt und interessiert. Ich folge den beiden einfach, orientier mich gar nicht mehr. Dann die kleine Kirche SS Maria de la carmine: zu. Aber ein paar Leute hocken wartend auf den Stufen. Ganz offenbar bin ich richtig, außerdem etwas zu früh. Zeit für einen Caffè, einen Cornetto. Gegenüber ist tatsächlich eine Bar. Ich bestelle mich, setz mich unter die Pergola und notiere:(Aus dem schwarzen Notizbuch:)

13.4., 9.50 Uhr, via Fontanelle, Cimitero.
Parocchia di Maria SS de la Carmine
3/4 h zu früh. Man ist fix hier, wenn man mit Googlemaps geht; es macht richtig Spaß in den Gassen, ist zugleich aber auch ein bißchen beklemmend, weil man immer derart ortbar ist. Andererseits ist das Ifönchen eine Art Stadtführer und als solcher perfekt, auch wenn das, um das Klima einer Stadt zu verstehen, geradezu notwendige SichVerlaufen ausgeschlossen ist. Man sieht, was man sehen möchte, aber nicht oder wenig darüber hinaus. So müssen wir also beides kombinieren: das Schweifende, das Gerichtete, und auch das entspricht dieser Stadt; allen Städten, die es sind, aber dieser hier besonders.
Ich sitz auf der Piazza Cimitero in einer kleinen Pizzeria, die auch Cornetti hat, und trinke am obligaten Plastiktisch, dessen Schwarz längst schon zum aber unterm Staub noch glänzenden Grau geworden, meinen Caffè und sinniere. Vom Alloggio abgesehen, in dem ich arbeite oder, quasi unentwegt, rede, die erste Ruhepause dieser Reise, zu der des nördlichen Sanitàs dörflicher Character überaus paßt. Mit im Rücken spielen zwei Männer, ebenfalls am Plastktisch, aber einem - von Coca Cola – roten, Karten. (Darauf achten, daß der Stil meiner Erzählung dem Porösen der Stadt entspricht: Verschachtelungen. Es ist gefährlich zu trennen, weil das an Neapel vorbeigehen würde, etwas so, wie wenn man sich für eine bestimmte Version des Stadtnamens entschiede. Statt dessen Napule, also, u n d Napoli, Neapel und Partenopolis, ja Paleonopolis - alles beisammen und zugleich: Paleopeia, so ist auch eine Straße in S. Lucia benannt.)
„Amaro“ ist „bitter“, „amare“ ist „lieben“, „amarena“ ist die Weichselkirsche, die mich an eine Clitoris erinnert, wenn sie erregt ist; „amabilità“ ist die Liebenswürdigkeit, „amarezza“ Bitterkeit. Mein kleine Dictionario, schriebe ich Gedichte auf Italienisch, gibt eine Vorlage der Welterkenntnis her, der Gefühle und Getränke. Mein weher Zahn pocht vor sich hin. Sieben Leute warten gegenüber, ein Pärchen ging für Momente verloren. Zu den Kartenspielern hat sich ein Dritter gesellt, der eine orientalisch klingende Canzone deutlich vor sich hinsummt. Hin und wieder kommt ein Büslein an, von der Cavour hoch, C51, die war – momentlang Erleichterung, von Googlemaps nicht erfaßt, worauf, will man eine Verbindung haben, anm - der napoletanische Verkehrsverbund – immer gleich direkt verlinkt. Peccato! und doch: welch Erleichterung... - (Filo 58: Cimitero delle fontanelle, O-Ton.)
Il tuffo giallo napoletano.
Der Cimitero ist tief in den Tuffstein gegraben, höhlen-, ja grottenartig. Man verbrachte, besonders nach den Epidemien, aber auch viele weitere Gebeine, die einst anderswo, vor allem in den Katakomben, begraben worden waren, hierher und schichtete sie sorgsam auf, die Reste völlig anonymer, Tausender Toter. Das ist für den Betrachter, der nicht zur Stadt gehört, makaber, bekommt aber einen anderen Klang und Geschmack, wenn man erfährt, daß einige Gebeine von den Menschen, die hierherkamen, gleichsam „adoptiert“ worden sind. Ja, die Geschichte wird Dichtung, wird literarisch, weil diesen Adoptierten nun Geschichten wirklich erfunden wurden, und an diese Geschichten haben die Menschen danach geglaubt; einigen wurden diese Geschichten als Wahrheit im Traum offenbart. So schuf man sich seine“ Verstorbenen und nahm die Anonymen in die eigene Familie auf. Die in Massengräbern notentsorgten Pest- und Choleratoten der vergangenen Jahrhunderte bekamen eine Geschichte. Also sind sie gewesen. Ganze Skelette wurden zu neuen, wenn auch toten Menschen zusammengestellt: Collagen des Todes, den wir alle gewärtigen.
Nahbei gab es Quellen, daher der Name „Fontanelle“; heute sind sie versiegt. Aber sie verbanden die Welt der Lebenden mit der der Gestorbenen. Denn wir trinken es. Das Wasser als eigentlicher Träger der Eucharistie: welch ein Gedanke! Mit Ausrufezeichen, weil er so konkret ist.
Was mich hier untertage wirklich benahm, war nicht die „Makabrität“, sondern die Ähnlichkeit des Tuffsteins mit dem Material unserer Knochen: wie porös eben auch sie sind und sehen sogar in der Farbe, ohne Sonnenlicht freilich, nahzu gleich aus.
Ich setzte mich, nachdem ich meinen Obolus entrichtet hatte, von der Gruppe aber schnell ab. In Gegenwart von Toten bin ich lieber allein. Der Tod, so allgemein er ist, ist für mich das Privateste, eben w e i l er allgemein ist. Verstehen Sie, was ich meine?
Es werden mir hier zu viel Witze gemacht. Ja, ich versteh das; die Psychoanalyse nennt es „Reaktionsbildung“; eine Art von Abwehr. Wenn man über die aber hinaus ist, wird sie lästig, auch billig, ohne daß die, die mit ihr agieren, dafür gerügt werden könnten. Ob und wie weit wir uns stellen oder nicht, stellen können oder nicht, ist eine Frage unsrer Entwicklung, die wir selbst kaum in der Hand gehabt haben. Wenn ich also beiseitetrat und für mich ging, ist das keine Überhebung.
Purgatorio, man muß es nur ansehn:






*******
Doch: Zu den Toten gehen:
[18.45 Uhr:
Zwischenspiel >>>> im Kommentar, auch nämlich in eigener Sache.]
Il Museo Nitsch
Wenn zu dieser Stadt ein Museum paßt, dann dieses.

So hatte ich es empfunden, schon, als ich das Hinweisschild sah und ihm nun, anfangs mich verirrend, folgte. Nicht einmal Googlemaps wußte im Ifönchen Rat. Man muß auf einen Hügel in einem Hügel, nur Sackgäßchen, dann eine verserpentinte Treppe, die, was ich erst oben sah, obwohl ein böser Schäferhund mich warnte, an einer toten Felswand endete, in der aber lebend zwei Türen. Umgekehrt und zurück. Ein junger Mann halbdreiviertel Wegs, ich frage... - oh je, so er, ich müsse erst mal wieder zur Piazza - er sagte „Piazetta“ - Dante zurück und dann rechts und dann wieder rechts. Die Toledo dort ist belebt, man ahnt nicht recht von den Seiten, den Höhen, den Treppen – zu denen Sie bitte >>>> meinen Kommentar lesen möchten -, aber irgendwie findet man hin, folgt den auch wirklich angebrachten Schildern, rechts wieder, noch mal rechts, dann ein enger langer, langer Zuweg, alles, wie immer in Neapel, durcheinander bewohnt, alles porös, und dann stehen Sie mit einem Mal in einem neu aufs Alte gebauten, eleganten Gebäude mit atelierähnlichen, großen Ateliers ähnlichen Sälen, die über zwei Etagen gehen und in der Sala I den unfaßbarsten Blick auf den Vulkan haben, der sich aus einer Werkstatt vorstellen läßt. So hoch oben das Nest dieses Museums. Und so auf das halbe alte Neapel sieht es hinab.
Und so auch schreibe ich vom dritten Purgatorium, ohne das erste überhaupt beschlossen, geschweige das zweite begonnen zu haben – so sehr türmt sich meine Erzählung wie diese Stadt um sich selbst und verschlingt sich ineinander.
Feuer. Blut. Wasser.
Organe.
Hermann Nitschs Mysterien-Performances, die man, wenn auch aus dem Geist der Happenings, mit sehr großem Recht Rituale nennen muß. Zwei, die er in Neapel, direkt hier zu Füßen dieses Museums durchgeführt hat, das letzte 2009 oder 2010, sind in einer Videoinstallation nachzubetrachten. Aber nicht das fesselt mich. Sondern die enorme Kraft seiner Bilder, auch die der Fotografien, die von den Happenings genommen wurden. Kreuzigungsszenen, als Prozessionen durch die Stadt durchgeführt, moderne Interpretation der Via Dolorosa, gekreuzigt aber eben auch eine Frau, übergossen mit Blut, echtem; es scheint ihr aus dem Mund zu laufen, zwischen die Brüste bis zu den Beinen hinab. Das Geschlecht eines Mannes in Lebern und Nieren gebettet, von in der Performance geschlachteten und ausgeweideten Tieren, dazu immer wieder das Kreuz. Dazu die Insignien der Kirche, furchtbar mit Bacons Bildern der Päpste verwandt. Fassungslos und gepackt seh ich das an, wechsle ein paar Worte mit dem jungen Mann, der das Museum betreut. Er erzählt mir von der Prozession, die er selbst mitgemacht hat, auch von den Protesten die es gab; wie von Blasphemie gesprochen, ja gehetzt worden sei, die allgemeine öffentliche Aufregung dann, die Polizei und alles – dabei ist, was Nitsch hier vollzog, nichts andres als ein Hochamt selbst, das aber nicht abstrahiert, sondern mit dem Leben wirklich umgeht, und mit dem Tod, und also mit beider Organik. - Daß ich dieses sehen durfte, ist ohne jeden Zweifel, ein Höhepunkt meines Neapels in diesem April.
Feuer. Blut. Wasser.
Organe.
Hermann Nitschs Mysterien-Performances, die man, wenn auch aus dem Geist der Happenings, mit sehr großem Recht Rituale nennen muß. Zwei, die er in Neapel, direkt hier zu Füßen dieses Museums durchgeführt hat, das letzte 2009 oder 2010, sind in einer Videoinstallation nachzubetrachten. Aber nicht das fesselt mich. Sondern die enorme Kraft seiner Bilder, auch die der Fotografien, die von den Happenings genommen wurden. Kreuzigungsszenen, als Prozessionen durch die Stadt durchgeführt, moderne Interpretation der Via Dolorosa, gekreuzigt aber eben auch eine Frau, übergossen mit Blut, echtem; es scheint ihr aus dem Mund zu laufen, zwischen die Brüste bis zu den Beinen hinab. Das Geschlecht eines Mannes in Lebern und Nieren gebettet, von in der Performance geschlachteten und ausgeweideten Tieren, dazu immer wieder das Kreuz. Dazu die Insignien der Kirche, furchtbar mit Bacons Bildern der Päpste verwandt. Fassungslos und gepackt seh ich das an, wechsle ein paar Worte mit dem jungen Mann, der das Museum betreut. Er erzählt mir von der Prozession, die er selbst mitgemacht hat, auch von den Protesten die es gab; wie von Blasphemie gesprochen, ja gehetzt worden sei, die allgemeine öffentliche Aufregung dann, die Polizei und alles – dabei ist, was Nitsch hier vollzog, nichts andres als ein Hochamt selbst, das aber nicht abstrahiert, sondern mit dem Leben wirklich umgeht, und mit dem Tod, und also mit beider Organik. - Daß ich dieses sehen durfte, ist ohne jeden Zweifel, ein Höhepunkt meines Neapels in diesem April.
Und über die Treppen unter der Sonne, die Gassenfluchten der Schatten und erhitzten Fluchten der Treppen zurück h i n a b... in ein e r s t e s Purgatorium,
- allora:
Die Heilige Meile.
La Sanità.
Und weiter zu den Quellen:
Sie erinnern sich: Ich war den Miglio Sancto, ohne schon seinen Begriff zu kennen, hinaufflaniert; ich eile stets, wenn ich flaniere, für andre jedenfalls; für mich selbst geh ich bequem. „Die Menschen sind so langsam“, hat >>>> Gogolin http://albannikolaiherbst.twoday.net/stories/atemlose-verbeugung-vor-peter-h-gogolins-calvinos-hotel/ einmal gestöhnt; zu denen gehöre aber nicht ich. - Ist man über den Corso Duca D'Aosla hinüber, wird die Gegend dörflich – wohlgemerkt: mitten in der Stadt. Und immer noch ist's bis zu via delle Fontanelle ein Stück. Vor mir geht ein junges Touristenpaar, deutlich am Aufzug zu erkennen, aber freundlich im Aussehn, unaufdringlich, ohne Protz, verliebt und interessiert. Ich folge den beiden einfach, orientier mich gar nicht mehr. Dann die kleine Kirche SS Maria de la carmine: zu. Aber ein paar Leute hocken wartend auf den Stufen. Ganz offenbar bin ich richtig, außerdem etwas zu früh. Zeit für einen Caffè, einen Cornetto. Gegenüber ist tatsächlich eine Bar. Ich bestelle mich, setz mich unter die Pergola und notiere:
13.4., 9.50 Uhr, via Fontanelle, Cimitero.
Parocchia di Maria SS de la Carmine
3/4 h zu früh. Man ist fix hier, wenn man mit Googlemaps geht; es macht richtig Spaß in den Gassen, ist zugleich aber auch ein bißchen beklemmend, weil man immer derart ortbar ist. Andererseits ist das Ifönchen eine Art Stadtführer und als solcher perfekt, auch wenn das, um das Klima einer Stadt zu verstehen, geradezu notwendige SichVerlaufen ausgeschlossen ist. Man sieht, was man sehen möchte, aber nicht oder wenig darüber hinaus. So müssen wir also beides kombinieren: das Schweifende, das Gerichtete, und auch das entspricht dieser Stadt; allen Städten, die es sind, aber dieser hier besonders.
Ich sitz auf der Piazza Cimitero in einer kleinen Pizzeria, die auch Cornetti hat, und trinke am obligaten Plastiktisch, dessen Schwarz längst schon zum aber unterm Staub noch glänzenden Grau geworden, meinen Caffè und sinniere. Vom Alloggio abgesehen, in dem ich arbeite oder, quasi unentwegt, rede, die erste Ruhepause dieser Reise, zu der des nördlichen Sanitàs dörflicher Character überaus paßt. Mit im Rücken spielen zwei Männer, ebenfalls am Plastktisch, aber einem - von Coca Cola – roten, Karten. (Darauf achten, daß der Stil meiner Erzählung dem Porösen der Stadt entspricht: Verschachtelungen. Es ist gefährlich zu trennen, weil das an Neapel vorbeigehen würde, etwas so, wie wenn man sich für eine bestimmte Version des Stadtnamens entschiede. Statt dessen Napule, also, u n d Napoli, Neapel und Partenopolis, ja Paleonopolis - alles beisammen und zugleich: Paleopeia, so ist auch eine Straße in S. Lucia benannt.)
„Amaro“ ist „bitter“, „amare“ ist „lieben“, „amarena“ ist die Weichselkirsche, die mich an eine Clitoris erinnert, wenn sie erregt ist; „amabilità“ ist die Liebenswürdigkeit, „amarezza“ Bitterkeit. Mein kleine Dictionario, schriebe ich Gedichte auf Italienisch, gibt eine Vorlage der Welterkenntnis her, der Gefühle und Getränke. Mein weher Zahn pocht vor sich hin. Sieben Leute warten gegenüber, ein Pärchen ging für Momente verloren. Zu den Kartenspielern hat sich ein Dritter gesellt, der eine orientalisch klingende Canzone deutlich vor sich hinsummt. Hin und wieder kommt ein Büslein an, von der Cavour hoch, C51, die war – momentlang Erleichterung, von Googlemaps nicht erfaßt, worauf, will man eine Verbindung haben, anm - der napoletanische Verkehrsverbund – immer gleich direkt verlinkt. Peccato! und doch: welch Erleichterung... - (Filo 58: Cimitero delle fontanelle, O-Ton.)
Il tuffo giallo napoletano.
Der Cimitero ist tief in den Tuffstein gegraben, höhlen-, ja grottenartig. Man verbrachte, besonders nach den Epidemien, aber auch viele weitere Gebeine, die einst anderswo, vor allem in den Katakomben, begraben worden waren, hierher und schichtete sie sorgsam auf, die Reste völlig anonymer, Tausender Toter. Das ist für den Betrachter, der nicht zur Stadt gehört, makaber, bekommt aber einen anderen Klang und Geschmack, wenn man erfährt, daß einige Gebeine von den Menschen, die hierherkamen, gleichsam „adoptiert“ worden sind. Ja, die Geschichte wird Dichtung, wird literarisch, weil diesen Adoptierten nun Geschichten wirklich erfunden wurden, und an diese Geschichten haben die Menschen danach geglaubt; einigen wurden diese Geschichten als Wahrheit im Traum offenbart. So schuf man sich seine“ Verstorbenen und nahm die Anonymen in die eigene Familie auf. Die in Massengräbern notentsorgten Pest- und Choleratoten der vergangenen Jahrhunderte bekamen eine Geschichte. Also sind sie gewesen. Ganze Skelette wurden zu neuen, wenn auch toten Menschen zusammengestellt: Collagen des Todes, den wir alle gewärtigen.
Nahbei gab es Quellen, daher der Name „Fontanelle“; heute sind sie versiegt. Aber sie verbanden die Welt der Lebenden mit der der Gestorbenen. Denn wir trinken es. Das Wasser als eigentlicher Träger der Eucharistie: welch ein Gedanke! Mit Ausrufezeichen, weil er so konkret ist.
Was mich hier untertage wirklich benahm, war nicht die „Makabrität“, sondern die Ähnlichkeit des Tuffsteins mit dem Material unserer Knochen: wie porös eben auch sie sind und sehen sogar in der Farbe, ohne Sonnenlicht freilich, nahzu gleich aus.
Ich setzte mich, nachdem ich meinen Obolus entrichtet hatte, von der Gruppe aber schnell ab. In Gegenwart von Toten bin ich lieber allein. Der Tod, so allgemein er ist, ist für mich das Privateste, eben w e i l er allgemein ist. Verstehen Sie, was ich meine?
Es werden mir hier zu viel Witze gemacht. Ja, ich versteh das; die Psychoanalyse nennt es „Reaktionsbildung“; eine Art von Abwehr. Wenn man über die aber hinaus ist, wird sie lästig, auch billig, ohne daß die, die mit ihr agieren, dafür gerügt werden könnten. Ob und wie weit wir uns stellen oder nicht, stellen können oder nicht, ist eine Frage unsrer Entwicklung, die wir selbst kaum in der Hand gehabt haben. Wenn ich also beiseitetrat und für mich ging, ist das keine Überhebung.
Purgatorio, man muß es nur ansehn:
albannikolaiherbst - Montag, 15. April 2013, 22:00- Rubrik: Reisen
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