Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

e   Marlboro. Prosastücke, Postskriptum Hannover 1981   Die Verwirrung des Gemüts. Roman, List München 1983    Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger. Lamento/Roman, Herodot Göttingen 1986; Ausgabe Zweiter Hand: Dielmann 2000   Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2001   Wolpertinger oder Das Blau. Roman, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2000   Eine Sizilische Reise, Fantastischer Bericht, Diemann Frankfurtmain 1995, dtv München 1997   Der Arndt-Komplex. Novellen, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1997   Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1998 (Erster Band der Anderswelt-Trilogie)   In New York. Manhattan Roman, Schöffling Frankfurtmain 2000   Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin Verlag Berlin 2001 (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie)   Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, Schreibheft Essen 2002   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Bis Okt. 2017 verboten)   Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Poetische Features, Elfenbein Berlin 2004   Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen, tisch7 Köln 2005   Dem Nahsten Orient/Très Proche Orient. Liebesgedichte, deutsch und französisch, Dielmann Frankfurtmain 2007    Meere. Roman, Letzte Fassung. Gesamtabdruck bei Volltext, Wien 2007.

Meere. Roman, „Persische Fassung“, Dielmann Frankfurtmain 2007    Aeolia.Gesang. Gedichtzyklus, mit den Stromboli-Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage ohne ISBN, Galerie Jesse Bielefeld 2008   Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen, Manutius Heidelberg 2008   Der Engel Ordnungen. Gedichte. Dielmann Frankfurtmain 2009   Selzers Singen. Phantastische Geschichten, Kulturmaschinen Berlin 2010   Azreds Buch. Geschichten und Fiktionen, Kulturmaschinen Berlin 2010   Das bleibende Thier. Bamberger Elegien, Elfenbein Verlag Berlin 2011   Die Fenster von Sainte Chapelle. Reiseerzählung, Kulturmaschinen Berlin 2011   Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks Bern 2011   Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I, Kulturmaschinen Berlin 2012   Isabella Maria Vergana. Erzählung. Verlag Die Dschungel in der Kindle-Edition Berlin 2013   Der Gräfenberg-Club. Sonderausgabe. Literaturquickie Hamburg 2013   Argo.Anderswelt. Epischer Roman, Elfenbein Berlin 2013 (Dritter Band der Anderswelt-Trilogie)   James Joyce: Giacomo Joyce. Mit den Übertragungen von Helmut Schulze und Alban Nikolai Herbst, etkBooks Bern 2013    Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman. mare 2015.   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Seit Okt. 2017 wieder frei)
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Geschichten

In das Land geschritten.

Ich habe mich entfernt, bin in das Land geschritten, worin die Krähen Himmel säen. Ben öffnete die Wolken, und ich fiel an seiner Hand. Sein Gesicht entzweit, lag ihm meines auf der Schulter.
Nicht weit von uns fingen die Krähen Nasen in ihren Schnäbeln, indessen mir die Ohren zweier vorsintflutlicher Tiere wuchsen, die niemals einen Namen hatten. Diesen Segeln hielt Ben die Leinen so gestrafft, daß wir scharfe Fahrt aufnahmen.
Dem Wind war zu trauen, Pilze sprossen aus den Samen der Krähen. Es ging unfaßbar plötzlich, immer wieder wichen wir ihnen aus, indem Ben rechts oder links an den Leitleinen zog, auf daß ich je nachdem den Kopf wenden mußte.
Wir surften über die Kämme, es kostete gar keine Kraft. Ich war das Medium seiner Sehnsucht und weich wie eine Schwalbe, bevor sie die Krähe verschlang. Das Blut, in einzelnen, wunderbar konturierten Tropfen, betupfte den Himmel bis zum Horizont, aus dem das Kleid der Schöpfung wurde, in dem wir beide hinabrauschten.
Aber ach Ben! Weshalb ließest Du mich landen? Weshalb denn meine Brüste an die Kufen deines kleinen Flugzeuges legen, da du zum Wasser rittst? Momentlang spürte ich Furcht. Doch mein Schoß, in dem dein Wille steckte, hob meinen Leib überm Kreuz an. Wir glitten leicht in die Dünung. So zerfiel ich unter dir. Schmal, Ben, schmal! Aber so weit auch und frei.
Wie ich mich dehnte, war ich das Wasser selbst, damit du in ihm schwammst. Dafür bin ich gemacht. Ich war deine Luft, war dir Essenz wie aller, die mich atmen. Ihr seid mir die Form, die mich schützt, wenn ich ins Innere tauche.
Gib mir noch einen Schluck. Bitte! Dann werd ich dir Mantel und Heim.
Nutz mich, doch gib mir, ich weiß von den Sternen. Mein Blut ist ein nährendes Netz. Denn ich bin die Flüsse der Erde. Ich bin das Meer, und sieh, wie es leckt, die Pfütze von diesem Tisch leckt. Aber halte die Leinen, damit ich nicht stürze. Da ich so tanz zuleib.
Und dann laß mich schlafen, Freund, ach schlafen: wie ich müde bin.

„Das Schwarze Museum ODER Die Rache der Chassée.“ Aus der Ersten Fassung.

(...)
Hinter vorgehaltenen Händen lief bald um, der Vertrag mit Frau Chassée werde nicht verlängert, sondern unmittelbar nach Eröffnung des Neuen Museums aufgekündigt werden. Sogar von einer fristlosen Kündigung war die Rede, die man so kurz vor der Eröffnung des Neubaus aber wohl nicht wagte. Daß sich, wie durchsichtig auch immer, irgend eine arbeitsrechtliche Verfehlung hätte finden lassen, steht erfahrungshalber außer Frage. Aber der Schaden für die Stadt wäre zu groß gewesen – ein selbst für Frankfurter Verhältnisse furchtbares Eigentor, bei dem eine möglicherweise gerichtlich erstrittene Wiedergutmachung, etwa in Form eines Schmerzensgeldes, noch das geringste Übel gewesen wäre. In jedem Fall war offenbar, daß der Magistrat mit Madame Chassée jemanden eingekauft hatte, deren selbst von Gegnern des KKMs anerkannte Bedeutung für die Durchsetzung dieses neuen Museums ideal genug war, um die hinter dem Projekt eigentlich stehenden Interessen in genau dem Schatten zu verbergen, den der Ruf dieser Frau ihnen warf. Und daß man ihn nach der Eröffnung, hätte die Mohrin ihre Schuldigkeit nur erst getan, billig überblenden wollte. Ihr selbst blieb nichts, als das auszuhalten.
So etwas ist nicht leicht. Ich nahm daher an, daß sie sich wenigstens symbolisch zur Wehr setzen wollte, als sie zur Eröffnung den eigentlichen Haupteingang des KKMs verschließen ließ, der zum Park, also nach hinten hinausging, um die Besucher nunmehr auf der Mainseite zu empfangen. Da es dort aber keinen Uferweg mehr gab, über den sich dieser Eingang erreichen ließ, wurden wir gezwungen – auch die Parteigrößen, die Vertreter der Kirchen und der Industrie; alledie nämlich kamen – , uns auf dem Fluß übersetzen zu lassen. Dazu pendelten eigens zwei Fähren, die aber kaum je zwanzig Leute faßten, allein weil der drübige Anleger so schmal war. Auf der rechten Mainkaiseite aber drängten sich die Leute trotz der Hitze fast übers ganze Ufer von der Untermainkaibrücke bis zum Eisernen Steg und nach hinten in die Innenstadt hinauf. So spielte zu meiner völligen Überraschung das Wetter gar keine Rolle. Alle erhofften sich den satten Skandal, in dem sich die angestauten Aggressionen endlich entladen könnten. Sogar Fahrzeuge nicht nur des Hessischen Rundfunk standen die Promenade entlang, nein, auch die anderer ARD-Anstalten, des ZDFs und einiger Privatsender. Kameras und riesige Leuchtanlagen wurden aufgebaut, egal wie sonnengleißend der Fluß sowieso reflektierte. Gleichsam vermeinte man, noch durch das wogende Reden und Rufen die Filmspulen schnurren zu hören.
Natürlich war das Unfug, kein Mensch filmt mehr auf Zelluloid.
„Um Gottes willen!“ rief Consuelo aus, als wir endlich einen Parkplatz gefunden hatten und bis in die untere Karmelitergasse vorgedrungen waren. „Du willst dich da wirklich reindrängen?“
Über der Szenerie lag etwas überaus Altes, quasi Urvorzeitiges, von dem auch ich nicht ahnte, wie zutiefst venerisch es war. Überdies waren die meisten Besucher in schwarzer Garderobe erschienen. Man konnte den Eindruck einer ungeheuren Beerdigung haben. Und Stunden würden vergehen, bis wir endlich drüben wären. Dennoch, ja, ich wollte mich reindrängen. So sehr sog die dunkle Front des Museums mich wie alle anderen an, als wären wir der Gravitationskraft eines Schwarzes Loches zu nahe gekommen.
Dabei wirkte das fensterlose Gebäude gar nicht viel größer als die anrainenden Museumsvillen links von ihm. Also schien irgendein optischer architektonischer Trick, den ich nicht durchschaute, die ungemeine Attraktion zuwegezubringen. Um so absurder kamen mir die den Schaumainkai nach Osten hinauf errichteten Büdchen vor, die Kunsthandwerkstände, dazwischen die aufgepumpten Wülste einer überdimensionierten, orange leuchtenden Hüpfburg. Hunderte Luftballons stiegen dort auf. Kinderschreie, Bratwurstduft. Und daran direkt der weltallschwarze Quader des kosmischen Museums. Als schnitte er ein ganzes Stück Wirklichkeit aus der Stadt einfach heraus.
(...)

„Studie in Endbraun“: Aus der Ersten Fassung.

(...)

Und vor zwei Stunden schwammen zwei Fische aus dem Fischbild heraus, kleine blaugrüne Fische. Ich saß in dem alten Sessel, den Monsieur Clarens hat uns hochwuchten lassen, nicht er selbst tat's, sondern Philippe, ein Junge aus der Nachbarschaft. Mara brachte ihn neulich mit, er half ihr mit den Tüten. Als ich ihm ins Gesicht sah, protestierte ich nicht, wurde nicht wütend, machte der Frau keine Vorhaltungen. Denn so tief die Augen in den Höhlen! tief wie in unsrem Verschlag. Dabei ist er keine elf oder zwölf Jahre alt. Dennoch trägt sein Gesicht die Züge eines sehr alten Mannes. Der Junge blieb auch nur kurz. Man muß hoffen, daß er sich draußen über uns nicht verplappert.
Und dann sah ich, wie die beiden Fische, die sehr ruhig, sogar ein wenig neugierig durch den ganzen Raum schwammen, einfach weiterschwammen: erst zum Tisch, dann durch eine Stuhllehne zur Kommode, auf der die flache zweiflammige Kochstelle steht und wo sich noch immer Geschirr stapelt, von dort wiederum zu Maras Arbeitstischchen mit den Kunstharzen und Acrylen bei den rohen Bechern und Tellern. Ohne mich rühren zu können, sah ich ihnen zu. Es war, als würden die Fischklein alles beschnuppern, was ihnen und ihrem Element unbekannt war, bevor sie nicht nur aufstiegen, sondern abermals die Richtung wechselten, um zu der Wolldecke hinzuschwimmen, die dämpfungshalber und gegen den Luftzug vor die Lattentür gehängt ist, hinter der es hinaus und hinunter in die Freiheit geht und in der plötzlich, die Decke mit einer Hand zur Seite raffend, der Junge wieder stand. Ich hatte ihn nicht kommen hören. Auch war er alleine gekommen, Mara war nicht bei ihm.
Er stand nur da und sah mich an. Ich konnte mich immer noch nicht rühren.
Hallo, sagte er, und die beiden Fische schwammen in eines seiner Augen hinein, das linke.

(...)

ANH, Studie in Endbraun (auf Bilder >>>> Felix Nußbaums)

Leipzigs Freitagsankunft.


D o r t mehr davon.

Die Löwin auf dem Bett. Die Fenster von Sainte Chapelle, aus der Überarbeitung zum Buch (1). Les Secrets de Paris (12).

„Woher kann der Gräfin wissen, wo wir sind?” fragte ich, als wir wieder auf dem Zimmer waren.
Die Löwin hatte sofort eine Erklärung zur Hand.
„Die SIM-Card. Man kann sowas orten.”
Eine Privatperson konnte das auch? Wie kommt man an so ein Equipment? Wer, um GöttinsWillen, war Le Duchesse ?
Ich brauchte fast eine Stunde, um das Unwohlsein loszuwerden. Durch meinen Kopf jagten die doch nur wenigen Informationen, über die ich verfügte, vor allem die mysteriösen Andeutungen des Profis. Immerhin arbeitete er für die Regierung; aus den Kontakten solcher Kreise war sicher auch der zum Gräfin hervorgegangen. Hatte mein Freund mir etwas verschwiegen, das mit Literatur gar nichts zu tun hat? Momenthaft fürchtete ich ein politisches Netz, wischte den Gedanken, nein: drückte ihn weg.
Prunier aber nahm die Sache nicht ernst, sondern amüsierte sich drüber. War auch fasziniert von ihrer, wie er das ausdrückte, geheimnisvollen Poetik. „Nein wirklich, Herr Herbst! Welch ein Auftrag! Da sage noch jemand, daß die Romantik perdu sei! Ich beneide Sie, glauben Sie mir!”
„Und mich beneiden Sie nicht?” fragte die Löwin, hingestreckt auf das Bett und wie die Salonière süffisant, die für jeden Gast Freund und die Gönnerin ist. Sie hatte die rechte Vordertatze über die linke gelegt, der Kopf ruhte auf den Unterarmen, und in der rechten Hinterpfote spielten ihre Krallen. Sie hätte nur noch mit der zitternden Quaste ihres sehnigen Schwanzes auf den Bettbezug schlagen müssen. Dieses Bild erstand derart deutlich in mir, daß schließlich auch ich lachen mußte und die Anspannung vorübergehend von mir abfiel.
Aber sie reiste ja morgen schon wieder weg, die Geliebte. Die mitten im liegenden Übersprung einschlief. Ich aber bliebe hier. Nein, nicht auch noch Trübsal blasen. Besser, die nächste Flasche Cidre öffnen. Es waren schon einige davon; eine nach der anderen orderten wir die gekühlten Die-Fenster-von-Sainte-ChapelleFlaschen per Zimmertelefon beim Empfang. Zweimal kam die hübsche Algerierin sie uns bringen. Danach erschien immer ein Kellner. Die ausgetrunkenen Flaschen stellten wir neben die Tür zum leeren Cremant.

>>>> Les Secrets de Paris 13
Les Secrets de Paris 1-11 <<<<


ANH, Sämtliche Erzählungen. Band II, Azreds Buch, Kulturmaschinen Berlin. Überarbeitung (4): Von Gräbern und von Moden, Auszug.

(...)
In Wien ging es los, auf dem Zentralfriedhof nämlich, gleich da, wo Curd Jürgens begraben liegt, als kurz vor dem Totensonntag letzten Jahres eine beauftragte Firma eine Holzwand mit einem Plakat affichierte, worauf verschiedene, indessen wohlgekleidete Skeletts sich an den Fingerknochen hielten. Im Tode sind wir alle gleich. Das stand darüber. Und darunter: United Colors of Benetton. Irgend ein Witzbold, einer von der unge­pflegten Sorte, die mit Sprühflaschen und neuerdings auch über Friedhöfe geistert, hatte rechts unten graffititiert: Ein einziges Europa. Das war, wie sich zeigte, voller Voraussicht.
Es erregte auch keinen Verdruß. Als vielmehr am 22. November die, so André Heller, mit dem Zirkus unter dem Herzen hinauswallfahrteten, um ihre Verwandten in Robert Stolz eingegangen zu finden und gelbe Blümchen auf endlichen Heimstätten niederzulegen, da konnten sie was staunen! Das Drängeln vor der Plakatwand hatte für mich, bei aller spürbaren Freude, etwas Bedrohliches; deshalb hielt ich mich abseits. Doch meine Arg war grundlos: Manche Leute klatschten sogar, der Gebärden gab es vertrackte. Sprechen tat niemand, aber die Augen! Wie zuversichtlich, wie kindlich aufgerissen sie schauten! Irgendwo fiedelten Gei­gen, die Amseln krakeelten, so aßen die Leute den türkischen Honig. Man fühlte sich wohl und an Dante erinnert:
Die Mode, die herabstieg mit der Kunde
Von jenem jahrelang ersehnten Frieden
Der uns erschloß den lang verbo­tenen Himmel,
Die war vor unseren Augen so wahrhaftig,
Dort fotografet und mit sol­cher Milde
Daß es nicht schien, es sei ein Bild, das schweiget

(Göttl. Komödie, II, 10. Gesang,34 ff).
In der Tat ließ sich bei einiger Versenkung die Impression ge­winnen, einem still-naiven, grenzüberschreitenden Tanz zuzuschauen. Selbst ich, ein Skeptiker, konnte mich des Gefühles nicht mehr erwehren, den Gipfel eines werberlichen Läuterungsberges erklommen zu haben. Erstmals sei hier, dachte ich, ein Abbild unserer Welt und Abwelt gelungen, das Anspruch und Wirklich­keit in Deckung bringt. Was nutzt das Lamentieren über die Ungerechtigkeit und Kürze unseres Lebens zu anderem, denn es noch weiter abzukürzen? Hier hatte jemand menschlich verstanden, hier war ein Realist des Product Placings am Werke gewesen, und ich bezweifelte nicht, es werde ihn der Heilige Geist mit steigendem Umsatz besegnen.
Am Montag frühmorgens, so las ich am Dienstag im Hotel in der Zeitung, hätten, v o r den Öffnungszeiten bereits, vor der Wiener Filiale Schlangen gestanden. Man habe den lieben, langen und folgenden Tag mit den Produkten nicht nachkommen können. Ja Nachtschicht sei einzulegen gewesen, zu deren spätester Zeit die abgerissensten Gestalten, und zwar in düsteren Faschingskostümen, die Geschäftsräumlichkeiten erstürmt hätten, um an sich zu raffen, was ging.
Wie wunderlich aber das Bild, das sich nachzüglichen Besuchern, die das Plakat noch nicht zu se­hen bekommen hatten, dann auf dem Zentralfriedhof bot! Nämlich lagen auf den Gräbern statt sterbender Blumen Blusen, Leggins, Tücher, Joppen, vor allem aber Strümpfe, und in den Nekropolen steckten sie, halb in rostige Türen gequetscht, halb aus den Mahnplatten lugend, die Strümpfe und Schals und wiederum Strümpfe. Franz Schreker soll sich ein Bustier heimgeholt, Johann Strauss einen chiffonbesetzten knallroten Rock ergattert haben, Beethoven eine Pudelmütze mit "Greenpeace"-Emblem. Über das Totenhaus des Präsidenten des Verwaltungsrates der k.k. Priv. Lemberg-Czernowitz-Jassy-Eisenbahn seien gestreut gewesen Tutus wie Tütüs. Und das nachlässige, ärmliche Holzschildchen für Alexander Zemlinsky habe sich an einem goldbordierten Büstenhalter erwärmt. Das gesamte riesige Areal des Friedhofs soll ausgesehen haben wie eine vom Monsun verwüstete, doch friedlichst in neuem spätherbstlichen Sonnenlicht trocknende Kleiderfabrik.
Man schickte nach Gendarmen.
Die kamen, starrten, lachten. Sie zuckten die Achseln und fuhren tatütend wie­der davon. "Iis holt kolt, dera Tod," sollen sie geäußert haben. (...)



„Azreds Buch", Geschichten und Fiktionen,
wird im Herbst 2010 erscheinen.
Selzers-Singen-Titel-kleinErster Band, Selzers Singen <<<<

ANH, Sämtliche Erzählungen. Band II, Azreds Buch, Kulturmaschinen Berlin. Überarbeitung (3): Eine Richtigstellung. Von Javier Otárola. Der Anfang.

Die größte Leistung auf dem Gebiet der Fiktion ist die Erfindung unseres Ichs. Sie kommt der Anstrengung Neugeborener gleich, ihre Lunge aufzublasen, wobei man, als Mensch und zunehmend japsend, dann weiterblasen muß, nur um schließlich doch zu kollabieren. Daran ändert auch das Gepuste der Mitmenschen, allesamt Kurzatmer, nichts, die um die Bildung unseres Ichs solange mitkeuchen, bis wir gemeinsam ins Nichts zurückgefächelt sind. Nur wenigen gelingt es überhaupt und den wenigsten zu Lebzeiten, an Pneuma und Pneumatik derart zu pumpen oder pumpen zu lassen, daß sie, wie einen Platonismus, nicht etwa das Spiegelbild ihrer empirischen Person schaffen, sondern etwas, das ganz gleichberechtigt zu der Realität noch hinzukommt. Marino brachte es bekanntlich dazu, am Vorabend seines Todes. Jorge Luis Borges, sein Schöpfer, hat es bereits zuvor dazu gebracht: So sei ihm gratuliert, der er kein Ende findet.
Allerdings weiß ich nicht, wo er und als wer er sich dort zur Zeit aufhält. Doch will er an seiner unter dem Pseudonym James Woodall erschienenen Autobiographie gewiß nicht so viele Jahre gearbeitet haben, ohne die Vorführung seiner Redoute auch zu genießen. „Ein Ziel dieses Buches ist es, Licht in das Dunkel von Borges’ Leben zu bringen“, heißt es am Ende der einleitenden Rollenprosa, „bis zu dem Augenblick“ (hier die entscheidende Stelle: ) „in dem er im Alter von ungefähr vierzig Jahren für immer das Universum der Fiktion veränderte und – wie er es wohl ausgedrückt hätte - die Fiktionen des Universums“. Diesen Witz eines Zweiten Konjunktivs kann nur begreifen, wer den Woodall-Satz als Borges-Satz liest: das ist unverkleidet borges’sche Humor. „Seht ihr’s nicht, wie ich lebe?“ ruft uns mokant seine weiter so lebensfrische Sterblichkeit zu.
Aber es gibt Indizien, die deutlicher sind: Nicht bloß seinen spöttelnden Starrsinn, der ihm gar keine Wahl läßt, als an der berühmten Drohung festzuhalten, nicht eher zu sterben, als bis man ihm den LiteraturNobelpreis zuerkennen werde. Ein Mann wie Borges hält sein Wort. Sondern das unter dem durchsichtigen Pseudonym Herbert Ashe vor zwei Jahren erschienene Bändchen Alusiónes sowie Quilos‘ El Barrio del Tigre Azul sind gleichsam brüllende Zaunpfähle. Der in Borges‘ Werk wirkenden Ironie entspricht dabei völlig, daß wir in tiefstem Herzen längst die Wahrheit kennen. Nur in den Kopf will sie, als Tatsache, nicht. Nicht in jenen der Schwedischen Akademie, nicht in unsren. Wir können nicht glauben. Und Aufklärung erfaßt den Sachverhalt nicht.
(...)
[Mit freundlicher Genehmigung von La Nación, Buenos Aires,
23. August 1999. Aus dem Spanischen von Ramón Roger Hüon.]



„Azreds Buch, Geschichten und Fiktionen”
wird im Herbst 2010 erscheinen.
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ANH, Sämtliche Erzählungen. Band II, Azreds Buch, Kulturmaschinen Berlin. Überarbeitung (2): DER SCHUT. Auszug.

(...)
Durch den Hain kieselte Gelächter von den Wein- und Cocktailgläsern her, mit denen Liebespärchen zum flirtenden Eifer der Zikaden klirrten. Das ging dem Schut etwas nah, der, seit er wieder nachsann, nicht mehr schwitzte. Er war in die Nacht wie ein Ausrufezeichen auf einen ermatteten Spiegel gemalt. Die Pinie reflektierte seinen hölzernen Duft auf wisperndes Gebüsch, und das warme Dop­pelrohr roch nach Spuren von Schwarzpulver. Ein Satz lag dem Schut im Ma­gen. Er hatte das Gefühl, es beule den wie jenes schoßhundskleine meta­phorische Ungetüm, von dem er gehört hatte, der Philosoph führe es abends gern gassi, zu späterer Stunde, bevor er am Dorfplatz einen letzten Pastice zu sich nahm. Angeleint ziehe er das Tier über die Dorfstraße hinter sich her.
Es war nicht schwer, sich beide vorzustellen. Des Alten etwas gehässiges, doch auch philantropisches Lächeln, dazu der wehrbereite Blick aus dem gesenk­ten Kopf hinauf, worauf die eine der beiden Brillen gesetzt, die er stets trug und oft im Reden wechselte, bis sich die Haltebändel verwirrten. Und der Oktopus in einer Kunststoffhaut, in der ihn Meerwasser kühlte und am Leben erhielt, den Anus gen Himmel, den Schnabel zur Mutter. Die zweite hintere Seite. Natur sei, so der Satz, was man erkennen könne, ohne es anerkennen zu müssen: sei ein fortschreitend künstlicher Ausschnitt der Welt. Dem zu widersprechen, war der Schut hergekommen, und um das Tier zu töten. Kunst sei vielmehr, wollte er sagen, ein aus der Natur herausge­nommener Ausschnitt: sei Interpretation und eine, je mehr sie voranschritt, Krankheit, die die Entfremdung chronifiziere. So kam er, der Schut, um der Unmöglichkeit zu begegnen.
Er hatte gelitten und war nicht bereit, es neuerlich zu tun. Er kam im Auftrag der Empirie. Wenn man die störte, schlug sie zu. Wie er so verborgen im Nachtglanz mit einem Zeigefinger an der Baumrinde kratzte, demütigte ihn bereits, daß er überhaupt und wieder dachte. Als Folge, dachte er, des Kunstgriffs in Welt.
Dem Schut war übel. Schienenbeinaufwärts saugte die Kunst. Er ließ Platon herabgleiten, einen Bolzen im geschmierten Rohr der Hand, faßte am Schutzring des Auslösers nach, pfiff tonlos, kauerte sich zu Füßen der Pinie. Da sprang der Faber in den Lu­dens zurück und fluchte.
„Bilderwichser!”
Der Neologismus machte ihn lachen, flüsternd setzte er nach „Quale seduzione!”
Die Warterei war zermürbend. Die synkopische Gewalt des inneren Widerspruchs, dachte er, sei eine der Folgen des äußeren zwischen Söldner und Besol­der. Wahre, gute und schöne Taten, dachte er, sind Werke des schöpferischen Dialogs zwischen Lehnsherrn und Jäger: sie berechtigten zu der Hoffnung, es fielen nicht alle Aktionen dem emportauchenden Universum der puren Einbildungskraft zum Opfer. Auch darauf wäre der Philosoph anzusprechen, käme er denn die sandige Straße noch entlanggeschritten: klein und kompakt, ein bißchen zu nervös für sein Alter, doch eben deshalb bereit, alles immer umzukehren, wenn er’s für denkbar hielt: sein ganzer Körper war eine manngewordene Inversion des Bilderverbots.
„Ich werde Sie Aaron nennen”, sagte der Schut und trat aus dem Schatten auf ihn zu.
Der Alte stoppte und zog an der Leine, die den latexnen Raumanzug des Mollusken zugleich mit Sauerstoff versorgte. Das Tier kam langsam und ein bißchen wabernd hinter dem Philosophen einhergewatschelt. Jetzt wollte es die Überraschungssekunde nutzen und versuchte, sich gen Büsche fortzuwinden.
„Kant, bei Fuß!”
Der Molluske gehorchte. Doch sah das ziemlich ironisch aus, wie er die Radula zeigte.
(...)


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ANH, Sämtliche Erzählungen. Band II, Azreds Buch, Kulturmaschinen Berlin. Überarbeitung (1): IM TAL DER TEMPEL. Auszug.

Von drüben drang lautes Lachen herüber, Geschrei, es waren Rufe. Man hörte auch den schrillen Krawall von Carretti. Anlieferer vielleicht für das Hotel, für die Gaststätte oder die Geschäfte am nahen Meer. Arndt fing an, Käse und Salami sorgsam ins Ölpapier wieder einzuschlagen, führte einmal die Fingerspitzen an die Nase, schnupperte, sagte: „Ich mag diesen Geruch. Er ist organisch. Er ist nicht sauber wie die Abstraktion. Man hat mir gerade ein Angebot unterbreitet. Lybien. Aber ich weiß noch nicht, ob ich annehmen werde.”
„Lybien?”
„Ich bin nicht parteiisch. Das Geld muß in angemessenem Verhältnis zum Risiko stehen. Und zum Aufwand. Bei Regierungen stimmt das meistens, außerdem ist man besser gecovert. Aus Waffenschiebereien halte ich mich raus, es sei denn, sie laufen in Brüssel über die Bücher.”
„Brüssel?”
„Bruxelles, wenn Sie wollen. Über Belgien gehen die Waffengeschäfte. Auch die illegalen.”
„Was wolln Sie mir erzählen?!”
„Ich erzähle Ihnen nichts. Selbstverständlich.” Er zuckte mit den Schultern. „Auch von Genscher sage ich nichts Es kann aber sein, daß ich von Zeit zu Zeit nach Deutschland muß. Finde ich bei Ihnen dann eine Couch?” Dabei sah er mich nicht an, sondern plazierte die Nahrungsmittel sorgsam in den Beutel zurück. Sah dann doch her: „Noch einen Schluck?”
Er goß zwei nächste Fingerbreit nach, verploppte den Schlauch und knöpfte das weiche, hängende Ding in den Riemen. Es gluckste.
„Lybien ist nicht gut”, sagte er. „Ich mag mich ideologisch nicht einspannen lassen. Europäer abzuschießen, muß eine Frage der Nahrungsmittel bleiben. Ich bin da ein bißchen gefährdet. Zu viel Engagement, zu wenig Distanz, wenn es um Europa geht. Es gibt bei Ihnen kaum mehr Bauern, nur noch den Landwirt mit Diplom. Äcker als Fließband, wenn Sie verstehen. Keiner setzt sich mehr an den Rain, um zu atmen.”


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eyes wide shut

In der Halle des Amsterdamer Bahnhofs hatte ich sie zum ersten Mal gesehen. Scheinbar ziellos irrte sie herum zwischen Kiosken und Obstläden, vorbei an Fahrkartenschaltern und Schließfächern. Ihr leichter grauer Mantel war exquisit geschnitten, ihre schwarzen Lederhosen hatten Fransen an den Außennähten. Sie trug hochhackige schwarze Schuhe, und über ihrem Fußrist spannten sich zwei schmale, überkreuz laufende Riemen, die in einem silbernen Knopf dicht am Knöchel endeten. Mir war, als hätte ich das Klacken ihrer Schuhe gehört, lange bevor ich sie gesehen hatte, obwohl es dazu sicher zu laut war in der Halle. Ihr Gang hatte etwas zugleich Hilfloses und Souveränes, wie der einer Wahnsinnigen. Ich folgte ihr. An einem Zeitungsstand blieb sie stehen, klappte einen ovalen Taschenspiegel auf und schminkt sich die Lippen. Ihr schön geschnittener Mund teilte sich in einen himmlisch leicht gekerbten Bogen und ein weiches geschwungenes Kissen aus dunklem Rot, dazwischen das Blitzen der Zähne noch weißer als weiß. Dann schloss sie die Lippen, rollte sie langsam von innen nach außen, tupfte mit der Spitze ihres kleinen Fingers die Mundwinkel ab, warf einen letzten Kontrollblick auf diesen frisch erblühten Mund, probte ein fast unmerkliches Lächeln - und sieht mich im Spiegel, wie ich ihr zusehe. Ihr langer stolzer Blick zwang mich regelgerecht ihr ultrananosekundenkurz zuzulächeln.
Dann drehte sich langsam um und schaute mich an. Das schwarze Haar verdeckte die Hälfte ihres Madonnengesichts. Sie strich es mit zwei Fingern zur Seite. Es war als ob ihre Augen erst in diesem Moment erwachten, ungewöhnlich große, dunkle, leicht hervortretende Augen. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund hatte ich das Gefühl, dass diese Frau mit meiner Vergangenheit in Verbindung stand, mit dieser Art von Vergangenheit, von der ich bisher nicht die geringste Ahnung gehabt hatte. Unbestreitbar war, dass sich in diesem Augenblick so etwas wie ein Keil schob zwischen sie, wie sie jetzt - und wie sie damals war, bevor sie mich zum ersten Mal in ihrem Schminkspiegel gesehen hatte. Mit einer schwungvollen Bewegung des Kopfes drehte sie sich um und ging weiter. Jedes Mal wenn sie die Richtung änderte, stockte sie, als ob sie nicht wüsste wohin. Plötzlich machte sie halt, verschränkte die Arme vor der Brust, ohne sich umzudrehen. Dabei scharrte sie nervös mit dem rechten Fuß. Diese Haltung, in der sie da stand und darauf wartete, dass ich sie ansprach, jagte mir einen Angstschauer über den Rücken - als ob plötzlich eine Artenschranke niedergerissen worden wäre. Später als ich ihr von dieser Ahnung erzählte, war sie mit keinem Wort darauf eingegangen.
»Du musst nicht erklären, warum du mir nachgelaufen bist«, sagte sie und
warf einen Blick über ihre Schulter, als ob sie fürchtete, beobachtet zu werden.
»Aber jetzt, wo wir schon dabei sind, kannst du mich auch zu einem Drink einladen.«

Als wir aus der Halle in den strömenden Regen Amsterdams hinaustraten, war ich froh, dass diese Frau so überlegen mit mir umging. Sie gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Immer wenn ich die Initiative ergriffen hatte, war alles schief gegangen. Ich war definitiv ein Mann, der sich gerne ansprechen ließ. Solchen Gedanken nachhängend öffnete ich ihr die Tür zu einem Coffee-shop.

Das Gespräch nahm eine so professionelle Wendung, dass ich mir sicher war, es mit einer Prostituierten zu tun zu haben. Ich dachte schon darüber nach, wie ich sie nach dem Preis fragen sollte - da sagte sie:
»Übrigens, ich nehme kein Geld. Wenn du mir das Glas Wein bezahlst, sind wir quitt. Nur sollten wir nicht mehr allzu viel Zeit verlieren - wenn man bedenkt, was alles hätte dazuwischen kommen können...«

Sie war höchstens fünfundzwanzig, vielleicht auch etwas jünger. Ihre großen dunkelbraunen Augen wichen, wenn sie mich direkt anschaute, leicht zurück. Es lag etwas Panisches in ihnen; eine Angst vor etwas, das längst aus der Wirklichkeit verschwunden war, von dem aber noch eine Spiegelung in der Luft zu hängen schien, eine Spur, ein Dunst, wie der von Blut. Und sie scheute davor zurück.

Als sie die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss, glaubte ich einen Augenblick lang, so etwas wie Stallgeruch in der Nase zu haben. Sie warf ihren Mantel über einen Stuhl und setzte sich auf das Bett. Das Messinggestell zirpte leise. Die Träger ihres schwarzen BHs zeichneten sich unter ihrer weißen Bluse ab.
»Setz dich«, sagte sie und knöpfte sich auf, »ich möchte ein Bad nehmen. Ich bin solange herumgelaufen bis ich dich endlich gefunden habe, dass mir die Knochen weh tun.«
Das Wort Knochen irritierte mich; wenn sie wenigstens Bones gesagt hätte - aber das hätte es auch nicht viel besser gemacht. Fang jetzt bloß nicht damit an, dachte ich: eben konntest du´s kaum abwarten - und jetzt nimmst du ein Bad. Aber warum eigentlich nicht ? Und ich dachte an die warme duftende Haut, die ich küssen würde, falls ihr in der Zwischenzeit nicht noch etwas anderes einfallen würde.
»Im Kühlschrank ist Scotch, bedien Dich«, rief sie aus dem Badezimmer,
- und bring mir auch ein Glas mit, ohne Eis, bitte.« Ich hörte das Wasser in die Wanne rauschen.

Die Wohnung war groß, hohe Zimmer, eine breite Fensterfront. Draußen zitterten die eben aufgeschossenen Magnolienblüten im Regen. Nichts an der Einrichtung ließ auf irgendeine besondere Tätigkeit schließen. Abgesehen von dem zerwühlten Bett mit hellgrauem Satinbezug und ein paar verstreuten Kleidungsstücken machte diese Wohnung den Eindruck, möbliert gemietet worden zu sein. Da war kein Fernseher, kein Computer, nicht mal ein Radio. Im Flur standen sechs oder sieben Paar Schuhe, elegante italienische Modelle. Ich legte mich aufs Bett und vergrub mein Gesicht in den Kissen. Wieder hatte ich den Eindruck von Stallgeruch, aber auch von einem herben unbekannten Parfüm.

Als ich ins Badezimmer kam ließ ich vor Schreck beinahe die Gläser fallen. Das Wasser in der Wanne war blutrot - und da lag sie, regungslos und lebendig.
»Der letzte Schrei«, sagte sie, »La Sange de Centaure, von YSL.«
»Welche Fluggesellschaft ist das ?«, fragte ich und gab ihr das Glas.
»Ich hätte dich warnen sollen... Setz dich hierher, setz dich«, sagte sie und richtete sich ein wenig auf, wie um mir Platz zu machen: »Und jetzt schau mich an.«
Ich setzte mich auf den Rand der Wanne und schaute sie an. Ich tauchte meinen Arm ohne das Hemd zurückzukrempeln ins Wasser und hob ihr Knie an meine Lippen. Mein Daumen und Zeigefinger berührten sich, als ich ihre Fessel umspannte: diese Frau war genauso wie ich sie mir wünschte. Ich küsste ihren Fußrist, strich mit der Hand über ihre Kniekehle - und kippte dabei ihr Glas um, das sie auf dem Wannenrand abgestellt hatte. Weich ausrollend landete es auf ihrem weißen Bauch und blieb wie eine Amphore auf dem Grund des Meeres liegen. Whisky schlierte um ihren Nabel. In der Stille glaubte ich etwas zu hören, das wie entferntes Trommeln auf moosigem Boden klang.

Es war schon fast dunkel, als wir ins Schlafzimmer kamen. Sie hatte sich einen schwarzen Kimono angezogen. Den Kopf auf die Hand gestützt zeigte sich ihre Ungeduld nur in einem kaum merklichen Vibrieren ihrer Zehen. Mit einer tierhaft-fließenden Bewegung lehnte sie sich zurück, den Kopf auf dem Kissen seitwärts geneigt, den Blick auf mich gerichtet, und auf ihren Lippen formte sich im Halbdunkel ein geisterhaftes Lächeln. Dann schlug sie den Kimono auf und streckte sich mir mit leicht vorgewölbtem Bauch entgegen.

Ein harter Schlag gegen mein Knie schreckte mich auf. Strahlen der Morgensonne fielen auf das Bett. Ihre Umrisse regten sich träge. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, das Laken zurückzuschlagen. Und da sah ich: den Torso einer Zentaurin, ganz unbehaart, mit vier Brüsten und einem in der Sonne honiggelb leuchtenden Schweif. Sie wendete den Kopf und schaute mich an. In ihrem Blick war nichts Panisches mehr. Ich musste lächeln weil ich mir absolut sicher war zu träumen. Sie schüttelte nur leicht den Kopf, richtete sich auf und stieg aus dem Bett. Das sauber beschnittene Horn ihrer Hufe war wie trüber Bernstein und klackte leise auf den Dielen.
»Du bist nicht der erste«, sagte sie, »der mich so sieht. Kaum einer kann es fassen, dass ich nur ihm so erscheine. Draußen sehe ich aus wie eine ganz normale Frau. Du hast mich ja gesehen.«
»Ja«, sagte ich.
»Alle drehten sie durch«, sagte sie, »und rennen weg. Einer sprang sogar aus dem Fenster.«
»Zum Glück wohnst du Parterre«, sagte ich.
Sie ging durchs Zimmer und zeigte sich mir in ihrer vollen Pracht, und der Anblick dieser Pferdefrau mit den schaukelnden Brüsten und den mächtigen Flanken entriss mir gegen meinen Willen ein tiefes Stöhnen.
»Ich bin sehr froh«, sagte sie, »dass du so gelassen reagierst. Ich kanns nun mal nicht ändern. Du bist der erste, seit langer, langer Zeit...«
»Ja«, sagte ich, »das Gefühl hatte ich auch.«
»Wenn du wüsstest, wie glücklich mich das macht,« sagte sie und scharrte mit einem ihrer Vorderhufe.
»Das Glück ist ganz meinerseits«, sagte ich und versuchte mich zu erinnern, wie viel wir geraucht hatten am Abend zuvor. Sie ging ans Fenster und schaute hinaus. Man musste sie sehen können von draußen, wenigstens ihren vorderen Teil. Dabei schlug sie sich mit dem Schweif auf den Rücken und ich konnte ihr Geschlechtsteil sehen. In diesem Moment ließ sie eine Ladung Pferdeäpfel fallen. Sie stand ein paar Sekunden vollkommen starr. Dann drehte sie sich um. Sie war errötet.
»Entschuldige, bitte«, sagte sie, »aber diesen Teil von mir kann ich nicht - kontrollieren.«
»Was machen wir heute ?« fragte ich, um ihr darüber hinwegzuhelfen.
»Schlage vor, wir machen einen Spaziergang durch den Vondelpark. Dort gibt es manchmal berittene Polizei.«
Ich konnte das Klacken hören, als sie über die Fliesen des Badezimmers ging.
Das Glück ist ein Witz, dachte ich, aber ein ernster.
 



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