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POETIKzurMUSIK
Für alle, die sich für hochkarätige Opern- und Konzertberichte interessieren, die nicht den gewohnten musikjournalistischen Sprachformeln folgen, sei Blog "Lautsplitter" empfohlen - so geht es doch auch, - oder viel besser ...
Gabriele Helbig - Dienstag, 7. August 2012, 10:09- Rubrik: POETIKzurMUSIK
[Geschrieben für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Dort unter dem Titel „Einbruch in den Stall der elitären Hühner“
am 2. 6. 2012 erschienen.]  Mauricio Kagel, der vor vier Jahren verstarb, zählt mit Hans Werner Henze, Helmut Lachenmann und Karlheinz Stockhausen zu den wichtigsten Komponisten der Neuen Musik vor der Generation Wolfgang Rihms. Er war zugleich einer der vielseitigsten, auch und gerade Musikdenker, dabei durchaus nicht immer geliebt, denn er hing dem Materialfetischismus nicht auf eine Weise an, wie es die mächtige Darmstädter Schule unbedingt wollte und deshalb jede Nichtbeachtung mit Verstoßung bestrafte. Zudem war er immer ein bißchen Clown, clownesk oft seine Aufführungspraxis, so daß er sich im Nachhinein nicht recht zur Heiligsprechung eignet. Daß die meisten seiner Kompositionen von ihren Ausführenden Aktionen fordern, verweigert sich allerdings den Verdinglichungsprozessen der Kulturindustrie sehr viel mehr und löst damit eine der Forderungen Theodor Adornos grundlegender ein, des Philosophen der Neuen Musik, als eine pur reproduzierbare Partitur das leisten könnte. Immer gibt es einen bei Kagel meist eminenten Unterschied zwischen dem aufgeführten Werk und seiner hergestellten Aufnahme, selbst dann, wenn sie ein Mitschnitt ist. Es ist ein bißchen so, als wollte Kagels Musik - in beiderlei Sinn - der Ergreifung wiederstehen, indem das Auge zur Ergriffenheit des Ohrs in spöttische, bisweilen auch alberne Distanz gerückt wird. Ohne daß aber Ergriffenheit vermieden würde, wie es kompositorisch besonders der seriellen Schule angelegen war, der schon der Wohlklang an sich für reaktionär galt. Es gibt bei Kagel durchaus, neben ausgedehnten meditativen Phasen, ein Pathos des großen tief hinab- und weit hinaufgreifenden Raums - zu denken besonders an seine herzschnürend beklemmende Sankt-Bach-Passion, an die Lieder-Oper „Aus Deutschland“ sowie an das „Chorbuch“, das in diesen Tagen bei Winter & Winter herausgekommen ist. Das kleine feine Münchener Label hat sich mit seinen die Genregrenzen nicht nur überschreitenden, sondern die Genres in sich amalgamierenden Produktionen unterdessen einen ausgesprochen exklusiven Namen gemacht.
Mauricio Kagels Chorbuch besteht eigentlich aus 53 Stücken, von denen leider nur sechzehn auf dieser Scheibe zu hören sind; das ist ein wenig schade. Denn die, wie Kagel sie nennt, nicht-linearen Transpositionen, eine seiner speziellen Formen der Variation, sind von ziemlich unmittelbarer Kraft, die hier allerdings vor allem eine der Trauer ist und des Abschiednehmens. Wenn da gebrochen ein „Es ist genug“ ertönt, geht einem das freilich auch deshalb ans Herz, weil diese CD Mauricio Kagels letzte ist. So klingt vieles wie eine sehr viel resignativere Lebensbilanz als angemessen, zumal der Komponist selbst mitsingt. Tatsächlich aber wurden die Stücke dreißig Jahre vor Kagels Tod geschrieben und können als allerdings je eigenständige Vorarbeiten zu seiner Sankt-Bach-Passion verstanden werden. Anders indessen als Bach wurden Kagel bis zu seinem Tod gleichermaßen Ehrungen wie eine ständige öffentliche Aufmerksamkeit zuteil; sein Leben ist gewiß keines in Verschwundenheit gewesen, auch wenn er den elitären, bisweilen sich selbst sakralisierenden Betrieb vermittels burlesker Blasphemien immer wieder aufgescheucht hat, so einbrach in den kleinen Stall der elitären Hühner, die anbetungshalber in ihrem materialfixierten Yoga erstarrten, das man heute ein Tai Chi der Neuen Musik nennen könnte.
Doch wie Kagel dieses Scheinsakrale immer wieder profanierte und dem Sakralen zugleich sein bewegendes Klangrecht ließ, so umgekehrt erhob er Geschehen des Alltags und der Biographie. Davon zeugt die zweite Komposition auf dieser CD, die „Inventions d‘Adolphe Sax“, dem Erfinder nicht nur des nach ihm benannten Instruments, sondern auch Veränderers vieler anderer Instrumente wie insgesamt einem der rührigsten technischen Bastler und Neuerer des vorvergangenen Jahrhunderts. Dabei ist Kagels Begriff der Invention hier in doppeltem Sinn zu verstehen: sowohl als semantisches Sprachspiel („Die Erfindungen des Adolph Sax“), wie musikformal. Auch das kommt nicht ohne Komik daher, etwa wenn gleich zu Anfang über einer aufsteigenden Saxophonlinie ausgerufen, ausgehaucht wird: „Ah/oh! Les Saxophones!“ Eingebaut sind hier - atmosphärische, nicht tatsächliche - Zitate, wobei Kagel in Saxens Biographie immer wieder Elemente des ihm so angelegenen Situationstheaters findet. Das gibt der Musik ein ausgesprochen Erzählerisches, ja Dramatisches, das obendrein von einem ironischen Swing durchzogen wird. So tänzeln wir von Lebensbild zu Lebensbild weiter.
Kagel komponierte das Stück drei Jahre vor seinem Tod; es dürfte sein letztes vollendetes sein. Die Inventionen wurden für den Nederlands Kamerkoor und das Rascher Saxophone Quartett geschrieben, die sie auch in aller nur denkbaren Leichtfüßigkeit und mit jenem Scharlatanhaften („Bravo!“Flüstern, „Bravissimo!“Hauchen - überm quarrend ratschenden Schlagwerk) interpretieren, von dem Helmut Krausser einmal schrieb, es g e h ö r e zu einem jeden Genie.
Mauricio Kagel
Chorbuch
Les Inventions d‘Adolphe Sax
Nederlands Kamerkoor, Rascher Saxophone Quartett
Music Edition Winter & Winter CD Nr. 910 191-2
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albannikolaiherbst - Sonntag, 10. Juni 2012, 11:00- Rubrik: POETIKzurMUSIK
Lieber >>>> Herr G.,
(…) ... zumal, wie Sie wissen werden, ich mich nur selten an journalistische Regeln halte, wenn ich über etwas schreibe. Ich bin de facto auch kein Journalist, sondern Schriftsteller; vieles von dem, was ich zur Musik schreibe, sind deshalb eher poetische Miniaturen zu nennen als wirkliche Kritiken. Das führt immer wieder zu Problemen, aber ich rücke davon nicht ab, da ich jede Kritik zugleich immer auch als eigene literarische Arbeit verstehe, nämlich als künstlerische Positionierung innerhalb der - soweit es sie denn noch gibt - ästhetischen Diskussion. Es ist ganz gut, das zu wissen.
Das erklärt Ihnen sicher auch, weshalb ich Interviews nicht mache. Es gab zweimal Ausnahmen, aber da war ich mit den anderen Künstlern so vertraut, daß wir tatsächlich ein Gespräch führen konnten, bei dem nicht einer den anderen fragte und nicht nur der andere Auskunft gab, etwa seinerzeit mit >>>> Lothar Zagrosek.
Herzlich
ANH
albannikolaiherbst - Dienstag, 15. Mai 2012, 17:46- Rubrik: POETIKzurMUSIK
[Geschrieben für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Dort auf der Schallplattenseite erschienen am 14.4.2012.
Hier mit dem ursprünglichen Ende.] 
Auf jeden Fall werden Sie Ohren machen! Was diese Compactdisc aus den Lautsprechern tönen lässt, ist von einer so dynamischen, dabei klarsten, wiewohl farbsatten Intensität, dass von einer Referenzaufnahme gesprochen werden muss. Eine künstlerische Meisterleistung der Tontechnik; Herbert Frühbauer und den Münchener msm-Studios ist sie zu danken. Wir waren dergleichen damals, zu LP-Zeiten, von der Deutschen Grammophon gewöhnt, von der Decca und EMI Electrola, die aber heutzutage gern dem regredierten mp3-Ohr eine schnelle Rechnung stellen.
Um so höher ist das kleine Schweizer Label Tudor zu achten, das diese Aufnahme ermöglicht hat: Die Bamberger Symphoniker unter Leitung von Sebastian Weigle haben von dem Braunschweider Komponisten >>>> Hans Sommer die Sappho-Gesänge op.6 sowie die Orchesterlieder nach Goethe und eines nach Felix Dahn von Hans Sommer eingespielt. Die wunderbare Mezzosopranistin Elisabeth Kulman singt, und der Bariton Bo Skovhus intoniert derartig intensiv, dass es an den Deklamationsstil des späten Fischer-Dieskaus erinnert. In dem Lied „Symbolum“ lässt Skovhus seine Stimme fast unmerklich – doch man bekommt dabei Gänsehaut – durch jeden einzelnen Ton wie durch eine Fläche gleiten. Geradezu halluzinativ ist das. Doch verführt dies zugleich dazu, ganz wie es auch technische Realisierung tut, sich in den Klängen nur zu baden. Sind diese Lieder solch ein Vertrauen wert?
Zunächst: Hans Sommer, er lebte von 1837 bis 1922, hat seine spätromantisch schwelgende Klangwelt meisterlich instrumentiert. Das fällt schon ganz zu Anfang auf. Da ist viel Einfluss von Richard Wagner mit herauszuhören, auch von Richard Strauss. Doch ebenso ist Robert Schumann in diesen Kompositionen präsent. Daraus lässt sich eine Suppe schon kochen, eklektizistisch, die schmeckt.
Ein Problem sind, leider, die Texte der sechs Sappho-Lieder. Deretwegen hatte ich mir dieses Album eigentlich besorgt. Dafür kann der Komponist freilich nichts, daß ich, fällt Sapphos Name, immer Luigi Dallapicollas magischen „Cinque frammenti di saffo“ im Ohr habe, in den Nachdichtungen von Salvatore Quasimodo – eine der schönsten Musiken, die ich überhaupt kenne. Man möchte davon gerne mehr. Doch Carmen Sylvas Verse, von Hans Sommer vertont, ernüchtern, weil diese Dichterin mehr mit den Tränendrüsen schrieb als mit einem Federhalter: „Die Lieder verhallen,/die Liebe vergeht,/ Vom Schicksal getragen,/ Die Welle wird Erz,/ Eh‘ die Liebe besteht“ und so weiter. Um über solche Dürftigkeiten möglichst satt hinwegzukommen, werden sie von Sommer orchestral aufgedonnert. Dabei wünschte man sich so sehr, dass er Zeilen wie sein volksliedhaft tönendes „Ich singe der Kraft, die die Erde erhält“ in ihrer schönen Melodik einfach belassen würde. Statt dessen will Sommer noch und noch „Vier Letzte Lieder“ schreiben.
Anders die Goethe-Vertonungen. Hier ist Sommers Klangphantasie in die Feinheiten der Gedichte (weil es sie eben gibt!) eingelassen, muss ihnen nur nachspüren und darf das, weil auf sie Verlass ist. Deshalb gelingen ihm wirkliche Wunderbarkeiten, etwa „An den Mond“, worin man zu den Worten „Fließe, fließe, lieber Fluß!“ tatsächlich das Wasser durch die Bläser springen hört. Und wie berückend singt in „Des Harfners Gesang“ die Flöte! Leider gibt Sommer auch hier seiner Neigung zur Redundanz nach, als müsste er, indem er Endverse wiederholt, etwas noch betonen, das seinen Glanz ganz aus sich selbst holt.
Die Vertonungen der kurzen Gedichte sind darum die nachdrücklichsten, sie wirken nach mehrmaligem Zuhören um so stärker, besonders der fraglose Höhepunkt des Goethe-Zyklus‘, nämlich das berühmte „Wanderers Nachtlied“. Damit schließt die CD. Wie hier die beiden Endverse vertont sind, das werden Sie nicht wieder vergessen: derart ganz geht das „balde...“ in den schweigenden Wald ein. Nur die Harfe, am Ende, hätte Sommer sich sparen können. Erwartungen, die billig sind, soll man nicht bedienen. *******Hans Sommer
>>>> Sapphos Gesänge
Goethe-Lieder <<<<
Elisabeth Kulman, Bo Skovhus.
Bamberger Symphoniker, Sebastian Weigle.
2012 Tudor Recording, Zürich, 7178.
15,99 Euro.

albannikolaiherbst - Sonntag, 13. Mai 2012, 10:20- Rubrik: POETIKzurMUSIK
[Geschrieben für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Dort erschienen am 28. 12. 2011.]  Lange hat Frank Martin gebraucht, um seinen magischen Personalstil zu finden. Der erfaßt auch „Uneingeweihte“ - am schnellstens wahrscheinlich in seiner unheimlichen Vertonung von Rilkes Cornet, vor allem mit Marjana Lipovsek unter Lothar Zagrosek, sowie Dietrich Fischer-Dieskaus Interpretation der Monologe Prosperos aus Frank Martins einziger, 1956 in Wien uraufgeführter Oper nach Shakespeares „Der Sturm“ in Schlegels Nachdichtung. Jahrzehntelang war diese Aufnahme der einzig mögliche Kontakt zu dem Stück.
So ist es eine kleine Sensation, daß das englische Label Hyperion nunmehr eine Gesamteinspielung der Oper vorgelegt hat, und zwar nach dem Mitschnitt einer konzertanten Aufführung im Concertgebouw Amsterdam. Zwar reicht Robert Holls Interpretation des Prosperos an Fischer-Dieskaus, für den die Partie einst geschrieben wurde, intensive Deklamatorik nicht ganz heran, da kann er so wundervoll singen, wie er nur will – aber endlich erschließt sich der gesamte Kosmos, zumal wenn man das der Cassette beigegebene Libretto mitliest. Da will man‘s am liebsten auswendig wissen, um der musikalischen Führung in einer Direktheit folgen zu können, die den Genuß - und den Schrecken - erst vollkommen macht. Das ist vor allem bei den Partien Ariels, des Luftgeistes, wichtig, dessen Klang-Erscheinung Frank Martin dem Chor schrieb; ihm galt schon früh eine seiner Lieben und, wie dem Klang des Cembalos, Vorlieben. Dieses ertönt auch in Martins Instrumentalwerken immer wieder und übernimmt gern die Führung, wenigstens eine, an der sich auch unkomplizierte Hörer schnell orientieren. Martin nahm damit etwas vorweg, was erst zwanzig/dreißig Jahre später in postmodernen Kompositionen, etwa bei Schnittke, Mode wurde. Und der zitathafte Einsatz des Saxophons für den tumben Caliban und das burleske Spiel mit Couplets ist von koketter Raffinesse. Überhaupt scheint heute ein Podium gebreitet zu sein, auf dem nicht nur Martin, sondern auch Komponisten wie Hindemith und Schoeck ihre Renaissance erwarten könnte. Jener klingt in dem Sturm bisweilen auf, klingt herüber, möchte ich schreiben: aus einer Zeit, die für die E-Musik kompositorisch die vielleicht jemals freiste gewesen, als zwar das Gerüst der überkommenen Tonalität brüchig geworden, aber noch stand: ich meine die zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Davon werden auch nicht-ausgebildete Musikliebhaber soghaft berückt. Bis in den Rausch kann das gehen – bei Martin etwa in den Zauberszenen der Oper, wenn alles nur noch flirrt und schillert und doch so unstet wie das Meer Debussys ist. Ergreifend dann der Epilog, worin der menschenliebe Alte auf seine Kunst verzichtet und sich den Elementen, ihrer Willkür, freien Willens wieder aussetzt. Spätestens hier, wie nach dem zweiten Hören insgesamt, wird ein jederman erfaßt sein, der Ohren für die Schönheit hat und das Tragödische nicht abwehrt.
Robert Holl, James Gilchrist, Christine Buffle, Marcel Beekman
Netherlands Radio Philhamonic Orchestra
Thierry Fischer
Hyperion , DDD, 2010
>>>> bestellen.

albannikolaiherbst - Montag, 27. Februar 2012, 06:44- Rubrik: POETIKzurMUSIK
Wir müssen davon ausgehen, daß viele Menschen sterben, ohne je auch nur Monteverdi verstanden zu haben, Dieser sinnlose Tod überall.
Hermannstein bei Helmut Krausser, >>>> UC, 450.
Was ich ergänze: ohne ihn je gehört zu haben. Was bitterer, nämlich tragisch ist.
albannikolaiherbst - Freitag, 28. Oktober 2011, 16:05- Rubrik: POETIKzurMUSIK
[Geschrieben für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Dort erschienen am 8. Oktober 2011 in Bilder & Zeiten.
Hier in der ursprünglichen, für den 18. September
vorgesehenen Fassung.]
Wenn man den persönlichen Schrecken überwunden
und Kunst daraus gemacht hat,
dann wird es Botschaft.
Allan Pettersson.
Wie man plötzlich mitsingen kann, ja muß... wie uns die Unabdingbarkeit – eine, die nicht nur mit den Ohren und im Geist, sondern vom gesamten Leib gespürt wird – erst mittreibt, mitreißt, und dann halten wir ganz plötzlich ein, erschauernd, und weinen; wie wir umstrickt, umflossen werden von einer Musik, die zum höchsten Ausdruck gehört, dem wir jemals begegnet, die aber dennoch fremd bleibt, weil sie sich niemals gemein macht, auch mit uns nicht, sich aber auch nicht vor uns verschließt, sondern deren Glühen jeden, der sich hingibt, rauschend wie rauschhaft ergreift, gerade weil, spüren wir, hier einer war, der sich nicht beirren ließ, sondern aussang, was da singen wollte, egal, ob vornehm oder zeitgemäß oder ob er die Macht besaß, es durchzusetzen, da mochte ihn die Polyarthritis noch so sehr, bis ins fast völlige Starrsein, verkrüppelt haben, den schließlich alten Mann, da mochte er noch so gemieden sein, der insistierende Querkopf, schroff nach wie vor zu keinem Kompromiß bereit, sondern in dem unglaublich schönen Gesang der Geige im zweiten Violinkonzert, einem der bewegendsten, den das letzte Jahrhundert überhaupt hörte, bis in den letzten Takt seiner Sinfonien der Tonalität verschrieben wie Schostakowitsch, nur daß sie nicht die Rechtfertigung durch Stalinzwänge hatten, sondern allein Entscheidung eines unbequemen Sonderlings, wie Hölderlin, waren, gegen die Moden und Betriebe, das Klangmaterial ganz Spätromantik, doch in den harschen Mitteln der Moderne bis in die Auflösung – und Überführung, einer moralischen – mancher Modernen hinein, was einem keine Freunde macht und kein soziales Netz mächtiger Kumpel bereitet, sondern auf nichts als intensivsten Ausdruck bedacht und diesem Ausdruck verfallen und gegen manche Schlammwerferei selbst auch, und ungerechte, Batzen geworfen, untheoretisch, ohne Ideologie, die man teilte, wenn in den Anfängen zwar, der zweiten Sinfonie, Fernklangsanklänge der nachgelassenen Zehnten - Mahlers nämlich, in dessen Todesjahr er zur Welt kam - erinnerungsfern zu hören sind und immer wieder, bis zur späten Sechzehnten, die sogerühmten „Inseln” eines harmonischen Ausruhns wagnerscher unendlicher Melodien, eines Komponierens, hätte Nietzsche auch ihn gerügt, in Akkorden, viel mehr aber Geste, doch Gesten wie Themen behandelt mit einem schweren Akzent auf der Durchführung, ein ganz eigener Raum, der bei allem Vorwärtspreschen schmerzhaft nicht vom Fleck kommt, einem Kinde gleich, das wütend aufstampft mit dem Fuß, wieder und wieder, wie immer es ihm auch ums Ohr höhnt, und nach jeder Sinfonie nahm er den Strom wieder auf, den ewigen, der keinen Pragmatismus kennt, ein von seinem Tod erst unterbrochenes, ein abgebrochenes work in progress, wie des Paulus Böhmers Kaddish ist, eines ihm ähnlichen, indes noch lebenden Berserkers, bitter vor erlittenem Unrecht, aber eben nicht, wie wohlfeil selbst der einige Zeit lang begeisterte Manfred Trojahn dann meinte, der eine große Aufnahme der Sechsten des Mannes in die Welt gebracht hat, „des Selbstmitleids voll“, wie wenn zudem, wer so sehr mit Krankheit geschlagen, ein Selbstmitleid nicht haben dürfe, sondern man habe sich, je mehr gequält, um so weiser zu befrieden, als wäre das Leiden ein Makel, über das die Deckchen des Abstrakten zu hängen seien oder des Absurden, anstelle ihm strahlende Kraft ins Konkrete zu geben, in ein überindividuiertes aber, wie diese riesige Musik tut und wehrt nicht ab mit erklügelten Formen, sondern, der erschreckten Herkunft verpflichtet, dieser Armseligkeit unterm brutalen Zugriff eines saufenden Vaters, hält am Anblick des Kummers fest, der preisgegebenen Mutter, der es nicht zu helfen weiß, das Kind, wie auch den Elenden nicht all der Stockholmer andren aus den kalten und klammen Quartieren, nicht da und nicht später, und dennoch sieht es nicht weg, nicht das Kind, die Musik nicht und nicht der Mann, nein, er beruhigt sich nicht, aber träumt, manchmal, von einem Frieden, der sich dodekaphonisch nicht ausdrücken ließe, nicht der Geist über Wassern, darum ist die Klangwelt Schönbergs tabu, darum auch Webern und das Verstummen und sind es Leibowitzens Lehren, seines Lehrers in Paris, darum die seriellen Schulen, die sich ent-erden in der fleischlosen Vergötzung ihrer Mathematik und der gegenseitigen Zuschustereien von Auftrag und Preislied im selbstgewissen Wissen, was „progressiv” sei mitsamt der Denunziation des Gefühls als sentimental oder, wenn es noch schlimmer kommt, als Kitsch, doch ehrt man die Beatles ob ihres Erfolgs und um nicht den Zug zu verpassen, wenngleich er doch lange schon weg ist, und gesteht dem U, es genießend, zu, was man dem E versagt: genießen zu lassen, der kathartischen Umstände so peinsam eingedenk wie hart in der Haltung selbsternannter Eliten gegen die Hörer, die akzeptiert sind einzig als Jünger, nicht aber als Begeisterte, Beseelte, so daß er schon nicht unrecht hatte, als er die Neue Musik inhuman nannte, was seine Akzeptanz endgültig demontierte und den schwerkranken Mann weiter isolierte, ohne daß er doch zum Verstummen gebracht worden wäre, nur die Inseln der Ruhe gingen zunehmend unter, gegen die Deiche schlug das wütige Meer seiner Neunten, um dem Land das Geschenk einer Siebten wieder wegzuentreißen, deren himmlische Höhen schon daran gewesen, ihn erfahren zu lassen, was ihm, derart ungehört das Rufen, versagt blieb bis ans Ende, den wirklichen, den kanonisierenden Erfolg in der Liebe eines Publikums, das endlich weiß, wer er ist, und ihn rühmt wie am Ende Palestrinas diesen das Volk auf der Gasse, so daß er hätte melancholisch leise, doch friedlich zu einem Sohn, hätt er denn einen gehabt, sagen können: „So spring, mein Junge, freue dich” und „Spring dich wacker aus” - um wirklich einen Frieden zu machen mit sich und der Welt, als er hinüberging vor nunmehr einunddreißig Jahren: Gustav Allan Pettersson. Morgen, am Montag, wäre er einhundert Jahre alt geworden. Am 19. September 1911 in der schwedischen Församling Västra Ryd wurde er geboren, in Stockholms Ärmstenviertel Södermalm wuchs er auf und blieb er, bei den Armen, leben. Er hinterließ uns neben Liedern und ein wenig Kammermusik siebzehn Sinfonien, die ihres gleichen Klangs nicht eine einzge zweite haben, drei Streicher- und zwei Geigenkonzerte, sowie ein Konzert für die Bratsche, die sein eigenes Instrument gewesen, und aus der heraus, wie mitten aus dem Orchester, er seine Musik schrieb – nämlich nicht am Klavier. Nein, guter Dinge war er nicht und war kein letzter Stein an einem Deiner tausend Ringe, sondern er rang bis auf das Totenbett. Es wird Zeit, ihm posthum zu erstatten, was ihm verweigert worden ist: Achtung und Ergriffensein. Dies für das Werk. Und Liebe. Die für den Menschen ist in seiner Not. Zeit ist’s für irgend eines neuen Karajans, Bernsteins oder Kleibers exemplarischen Zyklus, um ihn aus der Provinz herauszuheben und seine Sinfonien den großen Podien unsrer Welt auf immer einzuschreiben.
Empfehlungen:
>>>> Allan Pettersson, Sinfonien Nr. 1 & 2, Norrköping SO, Christian Lindberg
>>>> Allan Pettersson, Violinkonzert Nr. 2, Ida Handel, Schwedisches RSO, Herbert Blomstedt
>>>> Allan Pettersson, Sinfonie Nr. 6, DSO Berlin, Manfred Trojahn

albannikolaiherbst - Dienstag, 18. Oktober 2011, 09:25- Rubrik: POETIKzurMUSIK
 [Geschrieben für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Dort leicht verändert erschienen am 16. September 2010.
Hier die Originalfassung.]
Es beginnt mit dem Ende einer Platte: wenn der Tonabnehmer fast schon ans Etikett schrammt: ein Spiel mit dem Wind, durch den una vela!, ein Segel!, gerufen wird: wozu die Trommel nicht ohne Drohung leise dem Ende von Verdis Otello zumarschiert, aus deren Themen >>>> Dieter Ilg seine neue CD improvisiert hat: bereits während des Studiums sei er von jener berühmten Kontrabaßstelle aus Akt IV derart gefangen worden, daß er sie fortan, bis heute, vor jedem Üben spielte: so etwas brennt sich ein und will hinaus, auch wenn das Wesen des Jazz’ spontanes Entstehen und Vergehen ist, das den Einfall meint und nicht das konservierte Melos: es wären andernfalls Variationen über Themen oder, im Freejazz, Themenmomente, ja um den einzelnen Ton: dort werden Jazz und Neue Musik bisweilen eines: hier dringt der Jazz in Verdis späte Trauermusik ein: etwa wie der Baß das Marschmotiv von Jagos Inaffia fugola! beginnt, wie Rainer Böhms Klavier dies repetierend aufnimmt, bis das Stück in des Schlagzeugers Patrice Herals geradezu stampfenden, elektronisch verrülpsenden Vokalrap übergeht, woraus unmittelbar zärtlich eine Klavierlinie, A questa tua, aufsteigt, beschlossen vom Amen, meinte man, doch läuft der Baß auf den erschauernd vergeblichen Kuß hinaus, un’altro, un’altro: wie immer wieder das Klavier ins Schlagzeug-Accompagnato gebettet ist, das entspricht den Parlandi, zu denen des alten Verdis Arien wurden, vollkommen: ein leises, flüsterndes Gespräch: alzandosi e fissando una plaga del cielo stellato, doch wir, von Dieter Ilg, hören das Nachtrauschen der Stadt, das das Klavier beschließt: wer den im Netz frei zugänglichen Klavierauszug nicht mitlesen mag, sollte bisweilen, über einen zweiten Player, parallel den Verdi hören, leicht verschoben in Ilgs Meditationen gemischt: Sie werden Ohren machen, denn nicht nur gewinnt das Trio auch leichter geschürzten Musen etwas ab, das Verdis drängenden, unabwendbaren Schmelz an die standards pragmatisch-ironischerer Bedürfnisse eines coolen Jazz-Publikums anpaßt, sondern wie leidenschaftlich bohrend wiederum, inaffia l’ugola, „abgegangen” wird, ganz plötzlich aus der Sanglichkeit, das ist nicht nur mitreißend, sondern auch ergreifend: wenn sich, Otello war ein Schwarzer, Ilgs lange Schluß-Improvisation vor Abdullah Ibrahims legendären Good News from Africa verneigt, bis der Tonabnehmer in kurz dahingehauchtem, rauhen Rhythmus fast schon ans Etikett schrammt. Verdis Musik aber selbst? Ich empfehle Ihnen aus dem Jahr 1996 >>>> Otello in Barcelona unter Alexander Rahbari.
albannikolaiherbst - Montag, 20. September 2010, 12:58- Rubrik: POETIKzurMUSIK
albannikolaiherbst - Sonntag, 7. Februar 2010, 17:30- Rubrik: POETIKzurMUSIK
albannikolaiherbst - Dienstag, 28. April 2009, 14:32- Rubrik: POETIKzurMUSIK
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Für Adrian Ranjit Singh v. Ribbentrop,
meinen Sohn.
Herbst & Deters Fiktionäre:
Achtung Archive!
DIE DSCHUNGEL. ANDERSWELT wird im Rahmen eines Projektes der Universität Innsbruck beforscht und über >>>> DILIMAG, sowie durch das >>>> deutsche literatur archiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht. Mitschreiber Der Dschungel erklären, indem sie sie mitschreiben, ihr Einverständnis.
NEU ERSCHIENEN
Wieder da - nach 14 Jahren des Verbots:
Kontakt ANH:
fiktionaere AT gmx DOT de
E R E I G N I S S E :
# IN DER DINGLICHEN REALITÄT:
Wien
Donnerstag, 30. November 2017
CHAMBER MUSIC
Vorstellung der neuen Nachdichtungen
VERLAGSABEND >>>> ARCO
>>>> Buchhandlung a.punkt
Brigitte Salandra
Fischerstiege 1-7
1010 Wien
20 Uhr
NEUES
Die Dynamik
hatte so etwas. Hab's öfter im Kopf abgespielt....
Bruno Lampe - 2018/01/17 21:27
albannikolaiherbst - 2018/01/17 09:45
Zwischenbemerkung (als Arbeitsjournal). ...
Freundin,
ich bin wieder von der Insel zurück, kam gestern abends an, die Wohnung war kalt, vor allem ... albannikolaiherbst - 2018/01/17 09:38
Sabinenliebe. (Auszug).
(...)
So beobachtete ich sie heimlich für mich. Zum Beispiel sehe ich sie noch heute an dem großen Braunschweiger ... Ritt auf dem Pegasos...
Der Ritt auf dem Pegasos ist nicht ganz ungefährlich,...
werneburg - 2018/01/17 08:24
Pegasoi@findeiss.
Den Pegasus zu reiten, bedeutet, dichterisch tätig...
albannikolaiherbst - 2018/01/17 07:50
Vom@Lampe Lastwagen fallen.
Eine ähnliche Begegnung hatte ich vor Jahren in...
albannikolaiherbst - 2018/01/17 07:43
findeiss - 2018/01/16 21:06
Pferde
In dieser Nacht träumte ich, dass ich über hügeliges Land ging, mit reifen, dunkelgrünen, im Wind raschelnden ... lies doch das noch mal
dann stimmt auch die zeitrechnung
http://alban nikolaiherbst.twoday.net/s tories/interview-mit-anady omene/
und...
Anna Häusler - 2018/01/14 23:38
lieber alban
sehr bewegend dein abschied von der löwin, der...
Anna Häusler - 2018/01/14 23:27
Bruno Lampe - 2018/01/11 19:30
III, 356 - Merkwürdige Begegnung
Seit einer Woche war die Wasserrechnung fällig und ich somit irgendwie gezwungen, doch noch das Postamt ... Bruno Lampe - 2018/01/07 20:34
III, 355 - … und der Gürtel des Orion
Epifania del Nostro Signore und Apertura Staordinario des einen Supermarkts - Coop. Seit dem ersten Januar ... Bruno Lampe - 2018/01/03 19:44
III, 354 - Neujahrsnacht e dintorni
Das Jahr begann mit einer unvorgesehenen Autofahrt bzw. mit der Gewißheit, mir am Vormittag Zigaretten ... albannikolaiherbst - 2018/01/03 15:16
Isola africana (1). Das Arbeitsjournal ...
[Mâconièrevilla Uno, Terrasse im Vormittagslicht
10.32 Uhr
Britten, Rhapsodie für Streichquartett]
Das ...
JPC

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