Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

e   Marlboro. Prosastücke, Postskriptum Hannover 1981   Die Verwirrung des Gemüts. Roman, List München 1983    Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger. Lamento/Roman, Herodot Göttingen 1986; Ausgabe Zweiter Hand: Dielmann 2000   Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2001   Wolpertinger oder Das Blau. Roman, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2000   Eine Sizilische Reise, Fantastischer Bericht, Diemann Frankfurtmain 1995, dtv München 1997   Der Arndt-Komplex. Novellen, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1997   Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1998 (Erster Band der Anderswelt-Trilogie)   In New York. Manhattan Roman, Schöffling Frankfurtmain 2000   Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin Verlag Berlin 2001 (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie)   Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, Schreibheft Essen 2002   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Bis Okt. 2017 verboten)   Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Poetische Features, Elfenbein Berlin 2004   Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen, tisch7 Köln 2005   Dem Nahsten Orient/Très Proche Orient. Liebesgedichte, deutsch und französisch, Dielmann Frankfurtmain 2007    Meere. Roman, Letzte Fassung. Gesamtabdruck bei Volltext, Wien 2007.

Meere. Roman, „Persische Fassung“, Dielmann Frankfurtmain 2007    Aeolia.Gesang. Gedichtzyklus, mit den Stromboli-Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage ohne ISBN, Galerie Jesse Bielefeld 2008   Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen, Manutius Heidelberg 2008   Der Engel Ordnungen. Gedichte. Dielmann Frankfurtmain 2009   Selzers Singen. Phantastische Geschichten, Kulturmaschinen Berlin 2010   Azreds Buch. Geschichten und Fiktionen, Kulturmaschinen Berlin 2010   Das bleibende Thier. Bamberger Elegien, Elfenbein Verlag Berlin 2011   Die Fenster von Sainte Chapelle. Reiseerzählung, Kulturmaschinen Berlin 2011   Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks Bern 2011   Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I, Kulturmaschinen Berlin 2012   Isabella Maria Vergana. Erzählung. Verlag Die Dschungel in der Kindle-Edition Berlin 2013   Der Gräfenberg-Club. Sonderausgabe. Literaturquickie Hamburg 2013   Argo.Anderswelt. Epischer Roman, Elfenbein Berlin 2013 (Dritter Band der Anderswelt-Trilogie)   James Joyce: Giacomo Joyce. Mit den Übertragungen von Helmut Schulze und Alban Nikolai Herbst, etkBooks Bern 2013    Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman. mare 2015.   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Seit Okt. 2017 wieder frei)
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InNewYorkManhattanRoman

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Alban Nikolai Herbst




In New York


Manhattan Roman




Für Adrian,
dessen Leben im Star Hotel, Manhattan, begonnen hat.


>>>> Kapitel 1 bis 3.
>>>> Kapitel 4 bis 8.
>>>> Kapitel 9 bis 13.
>>>> Kapitel 14 bis 18.
>>>> Kapitel 19 & 20.
>>>> Kapitel 21 bis 24.
>>>> Kapitel 25 & 26.
>>>> Kapitel 27 bis 30.
>>>> Kapitel 31 & 32.
>>>> Kapitel 33 bis 35.
>>>> Kapitel 36 & 37.
>>>> Kapitel 38 & 39.
>>>> Kapitel 40.
>>>> Kapitel 41 bis 43.
>>>> Kapitel 44 bis 47.
>>>> Kapitel 48 & 49.
>>>> Kapitel 50 & 51 (Anfang).
>>>> Kapitel 51 (erste Fortsetzung).
>>>> Kapitel 51 (zweite Fortsetzung).
>>>> Kapitel 52.
>>>> KOMMENTARE.


Französische Ausgabe in der Übertragung von Raymond Prunier >>>> d a.
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New York City / Berlin / Olevano Romano / Berlin
April 1999 – Januar 2000
(Internet-)Ausgabe Zweiter Hand 2009


[Erstausgabe erschienen bei Schöffling & Co.
Bestellungen übers Moderne Antiquariat >>>> hier.]
ANH-IN-New-York-Buchcover

Dieser riesige, silbern leuchtende, wunderbare Hudsonfluß!

Titel <<<<.Bild-1-Hudson

Ich blickte durchs Fenster meines Waggons auf Schiffchen, die sich, als schwebten sie über dem straffen dahingestreckten Wasserspiegel, flirrend aufzulösen schienen. Bisweilen spannten sich enorm filigrane Riesenbrücken darüber: Wunderwerke einer Symbiose aus Pioniergeist, modernen Legenden und Infrastruktur. Drüben, fast einen Kilometer übers Wasser hinweg, flankierte der dahingestreckte Hang die lethargische Poesie dieses Stroms. Villen schimmerten droben: sie hatten rote, tupfige Dächer und darunter ein leuchtendes protestantisches Weiß. Es sah aus, als gäbe es darum her viel Wald. Jedenfalls nicht nach der Nähe des aus Backstein, Eisenträgern, Glas und Beton aufgebäumten urbanen Brodelgebildes, als das Manhattan Wilfried Talisker immer erschienen war.
Den ich jetzt zu beobachten fuhr.
Er war in Ghent erfunden worden. Susanne Ajoub, Ignazio Vidal-Foch und ich hatten uns den prüde hypomanen Ton zerstreuen müssen, den die Leute in Amerika pflegten, ihre ständig gut aufgelegte Hysterie, die einen bereits morgens mit „Oh it’s so great!“ empfing und den ganzen Tag über verfolgte. Mit aller Bosheit, derer Europäer fähig sind, imaginierten wir einen Menschen, den die Fügung über Nacht verdarb. Von heute auf morgen verließ er seine liebe Frau und die Kinder, um sich dem Abenteuer zu verschreiben... dem Abenteuer oder der Selbstvernichtung: darüber waren wir nicht einig. Ignazio votierte für Selbstvernichtung, ich für Abenteuer, und Susanne, hinterhältig, enthielt sich der Stimme. Talisker war Demokrat. Ein guter Mensch, der Amtspflegschaften übernahm, sich gar drum drängte. Also richtig zum Kotzen. Seinen Namen gab ihm mein Lieblingswhisky. So komplettierte erst der Vorname den blonden, sonnenempfindlichen Typen zur Person. Eine nervös gepunktete Rötung der Wangen gab seiner wohlgesetzten Geldgier Jugend. Um diese zu betonen, trug Talisker gern Jeans und ein T-Shirt unterm offenen Hemd. Er wirkte sauber wie Hugh Grant.

Er kam, wie vor fünf Wochen ich, mit dem Flugzeug. Nur daß er gleich nach Manhattan fuhr und nicht erst auf die Country Side. Er wollte schnell in die Stadt. Denn man erwartete ihn. Jedenfalls nahm er das an. Er wollte, daß er das annahm.
Dieser Gedanke stammte von Susanne: Plötzlich schreckt so ein Rechtsanwalt auf in Graz oder Basel oder in Tettnang und begreift: man will was in New York von dir. Doch ist er da noch nie gewesen. Er wußte genau, der Gedanke war irre. Aber es ließ sich ihm nicht mehr entziehen. Wochenlang drückte sich das dem Mann in seine REM-Phasen.Vielleicht war es da nur wegen einer Fehlschaltung hineingeraten. Jemand aus der Schattenwelt hatte ihm die Botschaft in die Ohren geflüstert. Und auf die Innenhäutchen der Lider eine ausgestreckte Hand projeziert. Die und eine Pistole. Den Koffer. Ohne den ging es in solchen Geschichten nie ab. Warum sollte es in Träumen ohne ihn gehen? Er nahm von den Träumen Besitz.
Der Koffer trug vor dem Ledergriff links ein Monogramm: GM. Dann war er vom Schlaf auf die Ablage eines EisenbahnCompartments gelegt. AMTRAK hieß die Zugcompany. So stand auf dem Ticket. Die Kolorierung war derart schmerzhaft, daß Talisker aufschreckte wie von farbigen Schreien. Lag schweißnaß, war halb aus dem Bett gewälzt. Hob sich an, drehte sich, hielt den Kopf, stand auf. Karin schnarchte. AMTRAK. Nie zuvor hatte er den Namen gehört.
Es wurde nicht besser. Um halb drei in der Frühe beschloß er, sich zu stellen. Schrie nicht mehr. Glaubte auch nicht, daß er schrie. Sondern nahm den Koffer entgegen. Den mit der einen Hand und mit der andren die Pistole. Dann drehte er sich um und schritt, das Gesicht zum Tag, in sein Aufwachen fort. Caspar David Friedrich: die Skyline Manhattans. Und Abspann.
Zur Seite: „Schläfst du?“ – Nur das Schnarchen.
Er mußte unbedingt telefonieren. Egal, wie spät es war. Fragte sich bei der Auskunft durch, der Deutschen Bahn, drang in Botschaftspförtner. Erst der Portier eines Nachtclubs, dessen Cousin in Schenectady lebte, half: Es gab dieses Zugunternehmen im Staate New York. Damit war für den Anwalt alles zu spät. Leise tappte er ins Schlafzimmer zurück. Karin hatte aufgehört zu schnarchen. Aber er hatte mit ihr nichts mehr zu tun. Ohne auch nur nach den Kindern zu sehen, ging er am frühesten Morgen. Ein kühler Apriltag. Gleichgültig schnappte die Haustür ins Schloß. Erst in seiner Kanzlei, zwischen Akten und Gesetzestexten, mußte er weinen. Es weinte sich. Das war lächerlich. Die RENOGehilfen schickte er weg. Auch seine Schreibkraft. Schon um halb zehn. Dann schraubte er sorgfältig ein Kabel aus der Buchse der ISDN-Anlage. Man hätte auch eines herausziehen können. Er wollte aber schrauben. Die Putzfrau scheuchte er gleichfalls heim. Vielleicht hätte Karin seinem Traum zuzeiten auf den Leib rücken müssen. Am nächsten Tag gegen die Tür zu poltern, verfing nicht mehr.
Er hockte halb, halb hing er in seinem ThonetStuhl. Müde, nicht einmal schlaksig, den Kopf rückwärts aufs Nackenpolster gesunken. Seine Finger streichelten das lasierte Holz des Buchenschreibtischs. Gleich hinterm Eingangskorb erhoben sich die Catskills Mountains. Rechts davon und also links des HudsonUfers schlängelte mein Zug an Holzhaussiedlungen, der Schönfelder Gesetzesammlung, den gregorianischen Villen vorbei. Der Zug passierte die Schreibunterlage. Ein vertümpelter See beulte den Strom: Hier hätte vor seiner Skalpierung Master Hutter mit beiden Töchtern leben können. Über den hohen Uferhängen die Bungalows. Auf einem Inselchen stand eine Ritterburg; es waren aber bloß zinnengesäumte Fassaden errichtet: durch die Fenster waren Fenster der anderen Mauern zu sehen. Trotzdem sah das Gebäude nicht nach Attrappe, sondern wie Geschichte und Heimweh aus. Ein seltsamer Duft von Kindheit stieg daraus hoch. Und drüben winkte jedes auch zivile Gebäude mit Stars and Stripes ins Stromtal. Das Land war viel zu groß, als daß der überall im Wind flatternde Nationalstolz nicht etwas Kindliches hätte behalten müssen. Jede Flagge in diesem Land, dachte ich, war an ein im Urwald verlorenes Blockhaus gehißt.

Bild-2-Bus-mapTalisker schloß die Augen. Der Sessel legte sein schwarzes Leder weich in die Dreiviertelschwebe. Kaum Poughkeepsie passiert, schon West Point, US Military Academy, dann Yonkers. Die Vorstädte bereits. Abraum Industrieanlagen. Nur auf dem Grat der grün bewucherten Höhe, die links der Schriftsatz des Klagentwurfes Lethen ./. Gregor flankierte und rechts Taliskers schmaler langer Kalender, sah man Colleges und Landhäuser in Parks. Ein paar Golfplätze, selbstverständlich, und unten, am Strom, kleine Yachthäfen. Über all dies hinweg lockten die Catskills ferne und blaubraun im hellgrauen Dunst. Einer Spielzeugstadt gleich, so reckte sich unter der Boeing die Stadt rund um das Silber der immensen Lagune. Darin lag, eingefaßt in vier andere Boroughs und ihre Nachbarstadt Jersey City, von Flußläufen und Wasseradern aus dem Land geschnitten, das lockende Manhattan. Mana Hatta: Das hatte für 25 Dollar Holland den Indianern... nun ja: abgekauft. Doch blieben die vorgeblich Wilden des Handels zufrieden. Ihrem Stamm hatte die Insel gar nicht gehört. Man hatte sich gegenseitig über den Baumstumpf gezogen.
Die Piktogramme für Anschnallgurte und Rauchverbot glänzten matt. Talisker beugte sich vor. Er fühlte sich wie jemand, der in ein Aquarium ohne Fische schaut: die Kulisse am Meergrund ein Modell New York Cities. Über die fantastisch leuchtenden, von diesem Leuchten überblendeten, pastellen verschwimmenden HochhausSpitzen fiel schräges Sonnenstrahlen wie ein Vorhang. Bis zu den Ellbogen standen die Gebäude in diesem Wasser aus Licht.ANH-IN-New-York-Buchcover


[>>>> weiter, Kapitel 4 bis 8.
ANH, In New York, Titelseite <<<<
Alban Nikolai Herbst, In New York, Manhattan Roman.]

Mein Waggon ratterte in die Stadt.

[Kapitel 1 bis 3<<<< dort.]
Bild-7







Links und rechts hinauf Stacheldraht Zäune überdachte Schuttfelder. Aufgelassene, ausgehöhlte Verwaltungsgebäude vergessener Fabriken. Von denen streckte sich bisweilen noch ein Schornstein aus der Tiefe. Überm zerstörten Putz der Mauern popwulstig farbige Graffiti. Schon nichts mehr als Gesteinblöcke jetzt und leere Geleise, die in Höhlen Schächte führten. Über Einfahrten, die an niedrige Stolleneingänge gemahnten, schwankten Grubenlampen. Manche von denen hatten Elektrizität und leuchteten; jedenfalls ließen sie ihr blasses Licht in Imaginationen aus Schatten schaukeln. SubwaySchächte und Kanalisationswege führten zwischen bizarren Granitbrocken durch, waren in sie hineingesprengt. Sie sahen aus wie Türen Portale. Am Rand, mit Blick auf den Fluß, konnte ich einen Odachlosen sehen, dem ich den Namen Angel gab. Wie ein schmutziger Engel saß er da: aus einem ihm unbekannten Himmel gefallen. Er konnte nicht mehr weinen, so ausgeweint war er. Doch seine Nase lief.
Schon vorüber.
Links und rechts Dämme Wälle. Beugte ich mich vor und legte den Kopf in den Nacken, ließen sich Fundamente und, darüber aufgereckt, Backsteingebäude erkennen. Rücksichtslos grub die Eisenbahn jene narbenartigen Schnittstellen wieder aus, die von Stadtplanungsämtern Architekten GartenbauHygienikern sorgsam zugekleistert waren, aber dennoch den aufgereckten klaren StadtKopf mit dem dunklen Körper der Erde verbinden. Wer aus Zügen schaute, dem ließ sich auf Dauer kein Stadtbild kaschieren.
Da schlüpfte die Bahn in unterirdische Nacht. Minuten später hielt sie unterhalb Madison Square Garden in Penn Station midtown Manhattan. Auf dem Bahnsteig stand ein junger Schaffner, der aussah wie Jim Knopf. Ich lächelte dieser Erscheinung aus meinen Knabenjahren zu, ohne daß sie hätte wissen können, was mich so heiter an ihr stimmte. Immerhin, sie lächelte zurück. Was mich beschämte. Vielleicht hatte der Schaffner mich trösten wollen. Oder sich. Und an die Alten Zeiten gedacht: Der Bahnhof war den Caracalla-Thermen nachgebaut worden und einst mit einer Arkade aus rosa Marmorböden und mit rosa Granitwänden versehen gewesen. Über die riesige Haupthalle hatte sich ein Glasdach gespannt. Heute stieg der Reisende von den unterirdischen Gleisen in eine funktionale B-Ebene: Am einen Ende des weiten flächigen Souterrains unterhielt die AMTRAK ihre Schalter und sonstigen Dienstleistungsbüros. Ein großer abgesperrter Bereich für Wartende gleich rechts um die Wand. Man mußte, um hineinzudürfen, sein Ticket vorweisen. Darum her Läden von HamburgerKetten und Zeitungen Krawatten. Eis konnte man kaufen, Softdrinks und Popcorn: Das roch so karamelensüß. Die Leute saßen teils auf dem Boden, teils standen sie gedrängt und starrten zu von der Decke hängenden Monitoren, um Abfahrten und Ankünfte zu lesen. Es rieselte klassische Musik auf Koffer und Rucksäcke, rieselte ins Gähnen Warten Räkeln. Jemand fegte. Ein Putzwagen rauschte heran und vorbei. Bisweilen tönten blecherne Ansagerstimmen. In einem Nebengang ein Schuster: die Wand entlang zwölf oder dreizehn Schuhputzstühle, auf denen oben Brokertypen saßen und sich unten von den Losers das AldenLeder wichsen ließen. Wieder daneben ein aberneuer Gang aus Konsum und Verbindungspragmatik: Er führte zu den Subwaystationen; dort hatte eine nächste Zuggesellschaft ihren Sitz: LONG ISLAND RAILROAD, die bis nach Montauk fuhr. Man hätte Max Frisch da lesen können. Bild-3-Penn-Station

Mit Rolltreppen rauf. 7th Avenue Penn Plaza Drive: „Bleiben Sie stehen!“ Ein junger Schwarzer raste davon, stieß Leute beiseite. Paar Polizisten hinterher. Reifen quietschten Sirene näher Hupen Schrei. Der Flüchtling im Zickzack nochmals Bremsen stopte. Fast wäre er einem Cop in die Arme gerannt. Es fror ihn im Schrittvorgang fest: erstarrt. Er wich auch nicht aus, als der Cop auf ihn schoß. Dann drehte er sich um, lethargisch, wie auf einer Gelenkscheibe gleitend, seine Hand griff langsam in die Joppe. Schon legte er mit höchstem Ausdruck von Verwunderung einen letzten Blick auf die Dinge. Das ging als ein Streicheln über Straßen Autos Passanten, auch über mich. Die Zeit blieb stehen, dann krachte sie aus allen Pistolen. Als explodierte sie, als sie der Blick zu nachdrücklich verdichtet hatte: Mit einundvierzig Bauchschüssen ging >>>> Momodou Dembang zu Boden. Und immer noch Sirenen. Hupen immer noch. Paar Schreie. Ein Krankenwagen fuhr die Leiche fort.
Angekommen. In Manhattan.

Talisker war nicht müde. Zwar lag New York City Time sechs Stunden hinter deutscher Zeit, doch war ihm nur etwas schwindlig in der gestauchten Schlange vor den ImmigrationsSchaltern. Schwarzflache, aufgespannte Plastikbänder improvisierten Gänge. Talisker gab den Antrag fürs Sichtvisum ab und blickte dem Beamten mit einer Ironie in die Augen, der nur das Timelag Wärme gab. Ein spöttischer Mensch war Talisker nicht gewesen. Doch kam ihm BehördenErnst jetzt allzu komisch vor. Zugleich hielt er nach geheimen Zeichen Gesten Ausschau. Unwirsch winkte der Beamte ihn weiter. Hatte Talisker nicht bereits in Deutschland gemerkt, wie sein Ticket vermittels eines kleinen versteckten Handgerätes gescannt worden war? Ein, das wußte er, ungewöhnlicher Vorgang. Wenn auch dem Traum sehr angemessen. Nur: Woher hatten die Angestellten des Flughafens davon gewußt? Besser sich nichts anmerken lassen. Zumal es wiederum etwas Beruhigendes gehabt hatte, sich bereits am Schalter der British Airways so bestätigt zu finden. Also war er nicht verrückt.

Auch ich war das nicht. Talisker würde noch etwa eine Stunde brauchen. Ich war mir sicher, er nähme den Expressbus für 10 $, nicht den Stadtbus, der zwar mit 3,25 $ billiger war, aber halb Jersey City abklappern mußte auf seinem Weg nach Manhattan. Ein Taxi zu nehmen, zog Talisker nicht in Betracht, obwohl ihn ungewohnte Wärme empfing. New York City liegt auf dem Breitengrad von Neapel, das hatte er nicht bedacht. Es gefiel ihm aber. Um 12 Uhr war er abgeflogen, um 17 Uhr nun angekommen; ohne Aufenthalt in London Heathrow wäre, dachte er, gar keine Zeit vergangen.
Gleich rechts um die Ecke der überdachte Busterminal. Mehrere Files. Nur wenige Leute. Plötzliche Ungeduld. Doch der Expressbus bog bereits zum Terminal ein. Talisker erstand sein Ticket bei einer autoritätsdicken Schwarzen in blauer Uniform, die vor dem Gefährt auf- und abmarschierte. Welch ein enormer Arsch! Harsch nahm sie den Geldschein entgegen. Was heißt hier Freundlichkeit? Verkniffner Ernst alleraugen. Nur zwei lachende Schwarze strahlten an dem fremden Weißen vorbei. Mit ihnen und sechs oder sieben anderen stieg Talisker ein. Der Bus knatterte davon. In grellem Gegenlicht nachtschwarze Brücken. Lange an langgestreckten Komplexen vorüber. Industrie. Flachbauten vermülltes Straßengewirr.
In der zweiten Reihe vor Talisker gestikulierten die wunderschönen langen Finger der beiden Schwarzen und verkneteten sich rätselhaft zur Komplettierung von Sätzen. Immer und immer neue Figuren waren das. Die hellen Handflächen leuchteten vom Knoten und Aufknoten auf, als erzeugte die permanente Reibung Lichtenergie in der Haut. Talisker versuchte vergebens, einen Sinn aus der Zeichensprache zu lesen. Tuffschwarze Brücken zogen an seinen Blicken. Groteske großartige Bogenführung ausgespannte Nutzflächen davor darunter Autoparks Äcker voll Container. Bis sich die Silhouette der Stadt aus dem Smogdunst hob. Auch hier Unterführungen Stahl in Abraum Felsen, die gesprengten Quader zackig erstarrt. Bleiernes Schimmern von Wasserflächen. Hier schien es in Strömen geregnet zu haben. Dunkel Momente Gitterraster verrostete Schmalspurgeleise von Loren: Endlosfinger, die in der Unterwelt bohrten. So war die Einfahrt nach New York City Manhattan selbst im Sonnenlicht Schattenmoiré.

ANH-IN-New-York-Buchcover

[>>>> weiter, Kapitel 9 - 13.
ANH, In New York, Titelseite <<<<
Alban Nikolai Herbst, In New York, Manhattan Roman.]

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Bild-4-Bruecken

Der Bus fuhr auf den sich flußlängs streckenden Berggrat, dann in Serpentinen zum Ufer hinunter.

[Kapitel 4 bis 8 <<<< dort.]
Bild-10

Überm breiten lockenden Wasserstrom vibrierte Manhattan in der aufgewirbelten Wärme. Man konnte einen grünen Norden erkennen. Davor Midtown: erhabenes, gezacktes Profil. Schlank wuchs da das Empire State Building heraus. Dann das horizontale Relief wieder niedrig, fast flach; doch downtown im Süden stieg Manhattan abermals hoch an. Es ernüchterte nur, daß sich die Türme des World Trade Centers von ihren Ansichtskarten nicht unterschieden. Dafür, dachte Talisker, mußte niemand verreisen.
Hupen Gedränge Rushhour. Der Bus passierte den Stau vor der MautStation auf der rechten Fahrspur. Das Maul des LincolnTunnels. Unterm Hudson durch. Kurz fiel Licht in die Erinnerung: Karin Klärchen Tom. Der Tunnel oben durchbrochen, also der Fluß schon passiert. Seine Familie fehlte Talisker nicht. Welch ein unmoralischer Mensch ich bin. Er lächelte zufrieden. Es donnerte, und plötzlich hattest du einen umgebracht. So war das Leben.
Ein Gewirr von Fahrspuren Häuser schossen Bambus hinter aufeinandergekastelten Flachschuppen hoch. Silos. Spontan zog Talisker den Kopf ein: so knapp war das Fahrzeug um die Ecke gejagt. Auch die zwei Schwarzen machten einen erschrockenen Eindruck: stoisch verhielten ihre Hände den Ausdruck.
In einer Parkbucht der zweiten Etage kam der Bus zu stehen. New York City Port Authority Bus Terminal. Wie ein altes Parkhaus Beton viel Stahl. Bißchen Glas. Von Abgas rußschwarze Wände. Blaßrote blaßblaue Schrammen graustreifige Scharten an den Auffahrtwänden. Die Schwarzen stiegen aus. Die paar andren Passagiere stiegen aus. Talisker stieg aus.Bild-9-78th-Ave-mit-Bus Wie weggepustet, so schnell verschwunden die Leute. Der Busfahrer tratschte mit einem Kollegen. Beide sahen mehrmals her. Verstohlen. Guckten schnell wieder weg.

Ich nahm Quartier im ALLADIN’S an der 45th Street. 80 $ verlangten die für ein Einzelzimmer der untersten Kategorie: 150 Mark beim jetzigen Tauschkurs. Das kam nicht infrage; ich mietete mich in ein VierBettZimmer des fünften Stockwerks ein. WC und Dusche auf dem Flur. Zwei Betten schon belegt. Ein seltsam süßer Fußschweißgeruch hing im Raum. Diesen verschloß ein vergittertes Fenster, das sich nicht öffnen ließ. Oder ich hatte keine Geduld, mußte mich, Taliskers wegen, beeilen. Ein entsetzlich langsamer Lift seilte mich ab. Ich kratzte im roten Teppichboden, der die Wände verkleidete. Würde ich den Mann noch erkennen? Einen solchen Gedanken hatte ich nicht zugelassen bisher; doch nun, so kurz vor unsrer Begegnung... - Auf die Straße. Den Zimmerschlüssel nahm ich mit.
Dreivier Stufen.
Es war nicht viel los draußen. Gegenüber standen in einer Schlange längs dem kleinen MusicalTheater Leute um Karten an. Baldachin überm Eingang. Gleich links von mir ein Restaurant, das Sushi anbot. Mein Blick auf eine ausgehängte Speisekarte wurde ohne Verzug zurückgeschlagen. Bloß gut, daß ich meine Kreditkarte hatte. Ohne die bist du hier aufgeschmissen.
Mir kam der Verkehr selbst auf den Avenues, die bis zur 14. Straße strikt von Nord nach Süden langen – die Streets verlaufen im rechten Winkel ostwestlich dazu -, geradezu zahm vor. Manhattan schien nicht im geringsten so quirlig, wie man ihm nachsagte, noch laut zu sein: Wer jemals in Neapel war, von afrikanischen, gar indischen Städten zu schweigen, konnte über die Mäßigung nur lachen, die der Reiseführer zum Anlaß für Warnungen nahm. Selbst hier in der Gegend des Busterminals, einem moderierten RotlichtViertel mit drei PeepShows und anderthalb PornoLäden, hielt man an jeder roten Ampel. Die Fußgänger, Gottseidank, taten‘s nicht. Egal, keine Zeit.

Es waren vom ALADDIN’S zur Port Authority drei Straßen. Drei Straßen in Manhattan bedeuteten drei Minuten. Fünf Minuten ging man von Avenue zu Avenue, von Block also zu Block. Obwohl in einen engen Glaskiosk gequetscht, war die dicke ServiceFrau des Busbahnhofs überaus freundlich. Dabei sah sie genau so aus wie die Ticketverkäuferin aus Newark. Wo hier der Bus von dort hielt, wußte sie allerdings nicht. Jedenfalls nicht so genau. Irgendwo hinten im Third Floor, sagte sie. Sie meinte die zweite Etage. Das Erdgeschoß wurde erstes Stockwerk genannt.
Wo ging‘s denn hoch?
Sie zeigte mit zwei Fingern: vorn an den Kuppen, aufgewölbt, rosafarbene kringelverzierte Kunstnägel. Ich blickte den imaginären Strahl entlang, in den Talisker auch schon hineinsprang. Er nämlich war das. Gar kein Zweifel. Dabei hatte er keine Spur Ähnlichkeit mit Hugh Grant. Sah eher wie Ben Becker aus. Wirkte um einiges jünger, als ich mir ausgedacht hatte. Voller Elan war der pickelige Leptosom von den oberen Parkdecks herabgetreppt, ließ nun seinen Koffer zu Boden und fuhr die Haltestangen aus. Nicht für einen Moment wirkte er unsicher. Einer, den seine fixe Idee bis in den Traum verfolgte, und er sie in die Realität, hätte fahriger sein müssen. Er verließ den Terminal gegen die 8th Avenue. Schlüpfte an Straßenhändlern und Taxifahrern vorbei, viel flinker als ich. Hielt sich rechts. Zog den rollenden, rumpelnden Koffer die ganze Straße lang hinter sich her. Bild-011
Links hinten drängte sich das Empire State Building über die wie in Terrassen angelegten Haus- und Hochhausdächer, unter denen der rote, verwaschene Backstein zur Straße hinabfiel. Plakate in Hauswandgröße an die Hänge geschlagen. Der Virtualwelt Hinweisschilder ließen durch Tausende Fenster blicken. Man wußte nicht, ob heraus ob hinein. Leute schlurften mir in vertragenen Reeboks entgegen. Graublass Beton, ragend lieblos roh, Gitter und wieder Plakate. Die Häuser sahen aus, als wäre gepreßter Pappeabfall aufeinandergetürmt. Einmal blieb Talisker stehen, um sich Ansichtskarten anzusehen. Ich ging unauffällig vorbei und wartete an der Ecke West 38th. Er spielte mit dem Gedanken... Nein, das täte er n i c h t! Er steckte die Karten wieder zurück in den Ständer.
Gleich hinter dem Reifenrund von Madison Square Garden bog er links in die 31st. Er schien zu wissen, wohin er wollte. Die kahle Straße voller Müllbeutel. Aufgeplatzt Schutt rausgesucht Eßbares. Penner schliefen am Boden, hockten am Boden. Saßen auf dem treppenartigen Anstieg eines türlosen Blocks. Zwei Cops, enorm wichtig, kontrollierten sie. Gemurre. Doch aufzubegehren, traute sich keiner. Es waren, so kam es mir vor, noch dieselben Polizisten wie vorhin. Hatten die Regel der 48 Stunden in Anspruch genommen: Erst nach Verstreichen dieser Frist war Vorgesetzten Rede und Antwort zu stehen.

Bild-012Zwischen paar schwarzgeballten Wolken brannte die Sonne herunter. Ich hatte Talisker plötzlich verloren. Ziemlich dumm stand ich da. Wartete. Und spähte. Hatte er mich am Terminal bemerkt und kurzerhand abgehängt? Ich war bloß eine Sekunde unaufmerksam gewesen. Die Augen dieser jungen schwarzen Frau hatten mich eingefangen, die aus einer riesigen Gap-Khakis-Affiche von hoch weit oben über mich und die Metropole schauten: Welch seelenvoller Blick! Reiß dich zusammen! Es ist ein P l a k a t! – Als ich aus meiner Konfusion herausfand, war Talisker weggewesen.
Und es ließ mich nicht konzentriert nach ihm schauen. Denn die hochgewachsene, rätselhafte Dame, die mich eben passierte, sah genau aus wie die affichierte Frau. Überdies war ich gestreift worden... nicht nur vom Blick, sondern ihren Händen. Sie blieb, allerdings schräg abgewandt, stehen, das rechte Knie leicht angehoben, so daß sie auf den Oberschenkel ihre Handtasche stützen konnte, über die sie sich beugte. Sie kramte darin. Ich überlegte, ob ich sie ansprechen sollte. Etwas zu überlegen ist in einer solchen Situation nicht gut. Das ohrenreißende Sirenen eines rotglänzenden Feuerwehrwagens, sein hellweißes Dach. Kam näher. Silbern blitzend die Leiter drauf. Jemand dauerhupte. Was war denn plötzlich los?! Ich mich kopflos umgedreht. Wieder zurückgedreht. Und auch die Frau verschwunden. Aber nein doch! Da saß sie ja! War eine Obdachlose auch. Sah mich an, nickte. Das war genau der Blick. Bestürzt sah ich zu dem Plakat hoch, sah wieder runter. Es gab überhaupt keinen Zweifel. Ich zog einen Packen Eindollarnoten aus der Hosentasche, schritt auf die Frau zu. Der Feuerwehrwagen raste vorbei, Rasen im Ohr, ein nächster Feuerwehrwagen sirente. Man hätte schreien müssen, um verstanden zu werden. Ich reichte stumm zwei Dollar hinunter. Sie nahm sie entgegen. Das linke Auge blaugeschlagen. Sie sagte was, ich verstand nichts. Dann war die Feuerwehr in die 8th Avenue gebogen. „Was haben Sie gesagt?“ „Ob du ficken willst, Bruder.“ Sie knautschte die Geldnoten in ihren aufgeplusterten Kunstfellparka. Furchtbar schlechte Zähne. Ich wandte mich ab.

Bis zur 7th Avenue war’s noch ein Stückchen. Hier hätte Talisker nirgends hineingekonnt, nur rechts gab’s Einfahrten für den Lieferverkehr. Die aber zugesperrt waren. Erst jenseits der Kreuzung in den hohen Häusern unten wieder Läden kleine Bürolokale. Richtig Betrieb war auch das nicht. Wie Ferien. Hin und wieder ein PKW. War er das da drüben vielleicht? Jemand hatte seinen Kopf tief in den PlexiglasWindschutz des öffentlichen Telefons gesteckt. Nein, war er nicht. Ich erreichte die Avenue. Sollte ich hinter meinem Fantasma herrennen? Weit konnt es nicht sein, ich traf es schon wieder. Zusammengeknäulte Touristenpulks Penn Plaza Drive. Madison Square Garden: die breiten Treppen eines dem Pop und dem Boxen geweihten Sakralbaus. Auch hinab führten Stufen, also zu der B-Ebene, seitlich Rolltreppen, endlich strömten mal Menschen. Abermals Feuerwehrwagen. Blutrot jagten die von Norden die Avenue downtown hinab, ihr Heulen schreiend aufgedreht, es gab eine Stauung anderer Wagen, nächste Sirenen. New Yorker Hilfs- und Überfallkommandos konkurrierten um immer neue Signalhornsequenzen, individuell von Auto zu Auto, zeitgenössische Pferde.
Jemand sprühte aus einem Wasserschlauch den Schmutz vor seinem Laden vom Gehsteig. Dampf stieg aus den Gullis. Der stammte aus lecken Heizungsrohren, roch brenzlig. Überhitzte Trafos hatten diesen Geruch. Oft faserte das auch aus Hauswänden raus flatterte unter Dachvorsprüngen. Intensiv wischte einer Hörer und Sprechmuschel des öffentlichen Telefons mit seinem Taschentuch ab, steckte erst dann in den Münzschlitz die Münze. Überhaupt war die Gegend mit Telefonen gesprenkelt; alle paar Meter eine weitere Installation. Der Windschutz bisweilen auf parkuhrähnlichen Stangen. Wer nichts zu essen hatte, sollte doch kommunizieren: Matritz des kapitalistischen Handels. We make the Taj Mahal look like a nut shell. Mochte sein, daß der Gigantomanismus den Mythos ersetzte, den der Protestantismus verweigerte. Plötzlich verstand ich den Jazz: Er füllte dieses Vakuum. Die Rhythmen strömten in mich ein, als wären die Straßen musikgeflutet. Trugen die meisten Leute nicht Walkmen? New Yorker nehmen ihren Verkehr durch Kopfhörer wahr, hier glitt jeder Spaziergang durch Filme. Und Schwarze hatten einen wippend synkopischen Gang. Wir Weißen hasteten, sofern wir nicht schlurften. Uns ging’s ums Überwinden von Strecke.
Die öden alten, sehr breiten Automobile: eingerostet verbeult. Abgerissene Leute wie in Berlin, verknorkelte braune Papiertüten in den Armen, aus denen sie irgendwelchen Nahrungsmüll in sich einstopften. Runtergekommen, uralte Jeans. Links und rechts EdelDesigner. Wer aber trug das Zeug? Kleine Schneidereien Pelzgeschäfte Läden für Knöpfe Lederwaren Garment Distrikt. 6th Avenue und BaseballMützen. Weite knautschige Hosen Mäntel aus den Vierzigern. Die Gesichter marmorgrau. Noch vom Winter, der hierorts ziemlich mitleidlos ist. Bild-013
Allmählich bezog sich der Himmel; so eng standen die Hochhäuser nicht, daß man ihn aus dem Gesichtsfeld verlor. Eine diesig luftfeuchte Schicht schob sich zwischen ihn und Manhattan, drückte dann in Manhattan hinein. Gelegentlich fielen schon Tropfen. Doch blieb es noch heiß. Ich hatte den Broadway erreicht, eine Lebensader der Stadt, die von ganz unten downtown, und dort mit einem West Broadway genannten Parallel- und Nebenfluß versehen, bis weit nördlich hinein in die Bronx reicht. Hier hieß die Straße anders, hieß Corean Broadway, nach ihren Bewohnern. Die Gebäudezeilen nicht mehr so hoch, bizarre Wasserbehälter auf Dächern insektenartige Wächter: ihre eigenwillig schwarzen Beinchen teils weberknechtig geknickt, teils stakig langgestreckt; manche auf Podesten. Das Straßenschild weiß über blau koreanische Lettern.
Touristen drängten sich vom Times Square her. Sie hatten Zeit.Bild-015-clairvoyant New Yorker waren am schnellen Schritt zu erkennen; die hatten, statt zu gucken, zu tun. Nach einer Woche schaute sowieso keiner mehr hoch. Werbezettelchen CLAIRVOYANT Chiropraktiker Fußspezialisten. Nicht selten Herren im Anzug, an den Füßen aber trugen sie Turnschuh. Juden in Schwarz, weiß nur das Hemd, über der Kipa den Hut. Die Männer unterhielten sich nicht. Sie standen da und sannen. Einer hatte sich die Schläfenlocken hinters Ohr gestrichen. Wie viele Wahrsager es gab! Jugendliche Latinos, auch sie einen Gang aus lauter Synkopen Gewippe Musik in den Hüften. Und zum vierten oder schon fünften Mal ein Verrückter. Schritt forsch aus, hielt sein laut rezitiertes Selbstgespräch, blieb stehen, nickte, sprach sich selbst etwas zu und warf den Kopf in den Nacken. Schritt weiter, zehn Meter, zwanzig Meter, blieb abermals stehen. Nickte erneut. Schüttelte eines Jemandes Hand, der nicht da war. Lachte. Warf den Kopf in den Nacken. So den gesamten Block entlang. Bis er rechts abbog. Man drückte mir einen Zettel in die Hand. Werbung für ein StripLokal. LEGZ DIAMOND'S. Blickte die Frau von dem Plakat mich daraus an? Hatte sie mir den Zettel zuspielen lassen? Momentlang erkannte ich sie, doch schmolz die Kontur unvermittelt ins Gesicht einer brünetten Jasmin St. Clair, die den Besuch ganz sicher ebenso verdiente.Bild-017-Jasmin-St-Clair

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Alban Nikolai Herbst, In New York, Manhattan Roman.]

Ich stand vorm Herald Square Hotel.

[Kapitel 9 bis 13 <<<< dort.]
Bild-020-Herald-Square-Pricing-List

Jugendstilverzierungen um das Portal, droben die Gipsfigur eines geflügelten Kleinkinds. In den Zwanzigern hatte das Engelchen einem Magazin namens LIFE als Symbol unbeschadet humoresker Familienwerte gedient. Redaktion und Zeitung waren mittlerweile Legende. Rätselhaft blickte das Puttchen nun auf mich, den getreppten Doorway und die Koffer einer japanischen Reisegruppe hinunter, die seltsam still bei ihren Besitztümern stand, welche jedermanns Passage auf dem Gehsteig versperrten. Vielleicht erwarteten die Leute ihren Bus. Taxis hielten sie jedenfalls keine an. Immer wieder drängelte und drängte sich jemand durch sie durch. Ganz ohne Rempeleien ging das nicht ab. Ein paar aspirante oder bereits gelistete Hotelgäste hüpften die eleganten Treppen hinauf, andere hüpften herab, tauchten zwischen den Japanern unter und durch diese im Verkehrsfluß davon. Ich war mir sicher, daß Talisker, den frechen winkenden Halbgott bemerkend, sich dieser Drohung hätte nicht entziehen können.
Neben der Sprechöffnung des Glaskäfigs lag auf der Konsole eine hektografierte Broschüre, die über das Gebäude und seine Geschichte informierte. LIFE LOST AND FOUND.Bild-018-Life-LOst-and-Found Das paßte nun besonders. Ich fragte auf gut Glück, ob Mr. Talisker schon eingetroffen sei. 60 $, las ich, koste ein Zimmer. Die junge weiße Frau in der verglasten Rezeption tat so, als verstünde sie mich nicht. Überhaupt hatte sie etwas Widerstrebendes. Ich ließ mich nicht abwimmeln. Die Missy tippte, sah auf. „Talisker, sagen Sie?“ „Talisker, ja“: ich buchstabierte. Sie tippte Letter für Letter ins Keyboard. Endlich fand sie den Namen auf dem ComputerScreen. Der Mann hatte tatsächlich vorgebucht. Doch es tue ihr, falscher Stimmton, überaus leid: Noch sei der Gast nicht eingetroffen. Ob ich eine Nachricht hinterlassen wolle? Sie lächelte häßlich asexuell. „Oh, das wäre freundlich! Haben Sie einen Briefumschlag? Und den Rotstift da..!“ Ich kritzelte oben auf LEGZ DIAMOND'S: 9.30 p.m. und kringelte es ein. Sollte ich unterschreiben? Aber wie? Mein Name hätte ihm sowieso nichts gesagt. Ich kritzelte den ersten hin, der mir einfiel: Meissen. Gottfried Meissen, das hatte was. Die Missy machte einen langen Hals; ich ließ sie einen Blick auf den Pornostar werfen. Sie rümpfte die Seele. Dabei zeigte Mrs. St. Clair nur ihr Gesicht. Ich schob den Handzettel ins Couvert, leckte die Gummierung und adressierte die Einladung mit Mr. Wilfried Talisker. Den Abschiedsblick der Missy kommentiere ich nicht.

Talisker kam, als ich bereits vor MACY’S stand. Er war in Gedanken in die 6th Avenue gebogen, hatte sich kurz im lebhaften Dreieck des Greeley Squares verirrt, aber gelassen ein paar Sushi genommen und dabei seine Visacard ausprobiert. Nun überraschte ihn meine Nachricht. Man war über seine Ankunft also informiert. Man wollte ihn treffen. Aber weshalb in solch einem Etablissement? Nachdem er in dem engen Lift hochgefahren war, beschloß er, von heute an zu rauchen. Die Vorstellung machte ihm Freude.
Erst nach mehreren DurchstreifVersuchen ließ sich die Tür seines Zimmers vermittels der Magnetkarte öffnen. Talisker tat einen Schritt und war drinnen, der nächste Schritt hätte ihn ins Bett befördert. Die Zimmerfrau war da. Sie saß auf den katastrophalen Spuren der vergangenen Nacht und televisionierte. Das monströse Fernsehgerät hielt zwei Fünftel des Raumes besetzt. Zwei weitere Fünftel brauchte ein so fantastischer Safe, daß Talisker noch wochenlang von ihm träumte. In den Rest teilten sich Bett, die Miniatur eines Kleiderschrankes und die drei Haken dran. Dessen Tür ließ sich nicht zur Gänze öffnen, weil das Gestell des Bettes im Weg war. Hätte man es links an die Wand geschoben, wäre für den Koffer kein Platz mehr gewesen. Es war dunkel, denn eine Klimaanlage verschloß wuchtig Fenster und Scheiben. Die Zimmerfrau, emphatisch in die Sitcom atmend, hielt eine Sagrotanflasche rechts. Talisker mußte hüsteln, um sich bemerkbar zu machen. Erschrocken fuhr die Frau herum. Ihre Augen verrieten die Russin. Sie rrrrollte: „Sorry sorry!“ „Soll ich mir ein anderes Zimmer nehmen?“ Sie verstand nicht, sprach nicht, starrte nur weiter. „Entschuldigung, ich habe dieses Zimmer gem i e t e t.“ Das ließ die Kopeke fallen. Sie fiel auf den Boden und rollte davon. Die Russin hinterdrein. Durch die offene Tür, die fiel zu, auf den Flur. Talisker setzte sich aufs Bett, vermied aber Berührung der zwei postsowjetischen Dellen. Er schaltete den Fernseher aus. Eisig wehte die Klimaanlage. Hoffentlich waren wenigstens Handtücher da. Waren sie. Er telefonierte mit der Rezeption, beschwerte sich. Nein, nicht j e t z t das Zimmer machen, will erst mal duschen. Aber lassen Sie mir eine Schachtel Marlboro bringen. Dann suchte er auf dem Stadtplan die 54th Street. Der Club mochte nicht mehr als 30 Gehminuten von hier entfernt sein. So hatte es bis halb zehn keine Eile.

Bild-023-Macy-sMACY’S galt als das größte Kaufhaus schlechthin. Mittlerweile wollte man, à la Bloomingdale’s, den gehobenen Lebensstil der Upper East Side locken. Überall Baustellen hier in Höhe 34th Geschmetter und Krachen halb Manhattan im Abriß. Moralisch war die Stadt schon gereinigt, nun wurde der Tisch auch architektonisch gewischt. Man sanierte die Halbwelt, repräsentativ die Straßen poliert. Eine Putzkolonne von Mickey Mäusen war in den Times Square gefahren wie der Prophet in die Säue. Das hatte New York christianisierend desinfiziert. Allen Dreck an den Stadtrand kippen: So hatten sie es vor Jahren mit der Upper West Side gemacht. Heute bekriegte den Capulet der Montague nur in der Oper. Das Lincoln Center mit Met New York State Opera Avery Fisher Hall war nicht eigentlich häßlich. Doch hätte es auch in Bremen stehen können. Zunehmend vergingen die Städte in planster Äquivalenz. Tourismusbranchler fanden das toll, Immobilienmakler auch. Und die frittenmampfenden Teenies bei RIESE'S, die noch weder zu jenen noch diesen gehörten, kannten etwas anderes nicht. Die begrüßten sowieso, was geschieht. Wer kalkuliert, will Norm. Geschichten aber gediehen nur, wo es Leidenschaften gibt: Haß Liebe Tod. Wo nach Lust, nicht nach Gewinnen gehandelt wurde und nicht ständig mit Präservativen gevögelt. Niemals war das Leben safe. Und deshalb: Da! Sieh genau hin! Flog da oben nicht wer zwischen den blauen hochgestreckt-engen Scheiben, schoß aus dem Himmel, Looping, um die Ecke gerast... und schon fort??! Eine Täuschung? Bist du dir sicher? - Man stieß mich: Geh weiter! Keine Zeit! Keine Zeit!
Ich stolperte und stand noch immer vor MACY’S.

Dann war Dunkelheit über Manhattan gefallen. Die Straßen wurden nun n o c h ruhiger. Nach neun/halb zehn starben die Geschäftsschluchten aus. Die studentischen Kneipenviertel im East Village nicht. Doch auch vor denen hatte die prüde Quality of Life Campaign Bürgermeister Giulianis nicht Halt gemacht. Der Puritanismus erzog zur Verdrängung: auf der sitzt als Deckel immer ein Mord. Das City Counsil stritt sich um den verderblichen Einfluß öffentlicher Pissoirs; alljährlich wurden Anträge vorgelegt, das letzte abzureißen, das es, im Central Park, noch gab. Für so groß galt urinale Zersetzungs- und Entgrenzungskraft. Selbstverständlich war Alkoholgenuß reglementiert; im Freien strengste Prohibition. Nur in Bars und lizenzierten Restaurants bekam man ein Bier. Nirgends Enthemmung, und dort, wo Broadway und 7th Avenue zeitlang ineinanderflossen, war sie, allerdings hinreißend, Show: Lichtspiel auf den Hängen der Wolkenkratzer, die man für titanische Projektionswände nahm. Den angrenzenden Bezirken waren die Pulse abgesaugt: sie pochten bloß hier, wo aus jedem Dunkel Lichter barsten: zerpaffende, sich zersplitternde Lockungen, die sich bei hellem Bewußtsein verkriechen mußten. Sie wurden im Theaterdunkel der Kinos geläutert, wenn sich die Moralität nach vorne zentrierte. Das Wesen New Yorks war die Leinwand, Fassade der Film, der drauf läuft. Eine unsagbar herrliche Blendung. Konsum war mythisch geworden, alle Werbung Sakralkunst. Schon weil es keine strikten Ladenschlußgesetze gab und die Geschäfte, die die Nachtzentren flankierten, rund um die Uhr geöffnet hatten. Aber h i n t e r der Leinwand war nichts als Wand. Ich mußte den paar Straßen nur meinen Rücken kehren, und aller Glamour verbröselte. Wo noch Feuchtigkeit blieb, gärte Schattengetier: augenlose Lurche versteckte Prostitution Gummiknüppel schlechtes matschiges Essen. Agonie und Aggressionen aus Angst.

Ich schritt gegen den Strom der Touristenzüge durch Gefunkel und Blaschen Aufjaulen Kreischen. Rufe und Hupen Sirenen auf uns niedersehendeBild-024-Times-Square-map Riesengesichter: Nasen männergroß und ganze Dachfirste überrauschende Kleidersäume. Ein TarzanPlagiat schwang sich lächerlich bunt über den Eingang eines Lichtspielhauses in der Größe dieses Lichtspielhauses selbst. HotDogWägelchen. Auf Wägelchen rauchende halbverbrannte BarbecueSpieße. Vorm MARRIOTTGlitzerMARGQUIS spielte jemand Saxophon, paar Meter weiter trommelten Schwarze die Leute zusammen. Ein Mann hatte sich einen lebenden Python um die Schulter gelegt, paßte die Schlange Touristen an; so ließen die sich fotografieren. Einem Delta ähnlich, in dem der Times Square über die Ufer trat, schob er ganze Pulks von Japanern, aus Broadway, 7th Avenue und 42nd Street zusammengeschwemmt, in den Duffy Square: Das Plätzchen ein kleiner Meeresbusen zu den Wellenfüßen der modernen Gebäude und Palazzi einer frühen Moderne, welche die letzte architekonische Erinnerung an goldobskure Vergangenheit trug. Tags standen auf der verkehrsumspülten Insel stundenlange Menschenschlangen vor der kleinen Baracke der TKTS um verbilligte Karten an. Man verschwand da unter den Megahotels und flirrenden Leuchtreklamen und einem seinerseits geduckten Holzkutter, der unter orangenfarben aufgespanntem Segel zwischen den Großbaustellen und Illuminationen durch die Farbgischt stampfte. Einkaufstüten lockender blitzender Elektrokrempel Fotoapparate Computer. Ein fetter massedichter Autoverkehr; Busse, die sich zentimeterweise voranrückten, die sich schmal machen mußten und das auch schafften. Etwas nördlicher blühten die Raubkopien: Videos Drehbücher Musikcassetten. Gelbe Fluten aus Taxen durchschwammen die touristischen Heringsschwärme wie Zitronenströme unter Schütten aus Kunstlicht. Hier hatten sich noch vor paar Jahren die Stripschuppen gereiht, und in den Hosentaschen klangen, so hieß es, Schlagringe, derweil sich an den Briefchen Schnappmesser rieben. Doch mittlerweile leuchtete das alte Böse Gewissen der Stadt wie eine Inszenierung nach Andrew Lloyd Webber. Von hoch auf blauem Grund hinab PRUDENTIALs weißer Werbefelsen. Nichts schlug gegen ihn an als der künstliche Sternenhagel, durch den sich die kleine Arche Noah kämpfte: plakateweit aufgewühlt See. Riesenaffichen Votive: shoppend beichten. Moralität fand beim Kaufen zu sich. Hier ließ die Legende sich greifen, verglühte und rann durch die Finger wie Hörensagen. Optisch hatte sie freilich Substanz und spottete ihrer Domestizierung. Im Kunstlicht tanzten Abenteuer Verzückung, als hätte nicht der Markt das Begehren im Griff, als gäbe es noch einen Wildwuchs der Seelen und kreative Aggressionen seien nicht zur Produktionsbedingung coupiert: überschwengliche Hypomanie, die jeden Verkäufer zum Freund werden ließ. Prediger standen herum und predigten. Abmontiert aber der Marlboro man, keine Rauchkringel aus Heizungsdampf entwehten den Wülsten von Lippen, statt dessen funkelte Textform-FOSSE-NYC

Videokameras geschnallt. Inlineskater flitzten. Endlos verschachtelte Kastenburgen, Verwischung der Plakate mit Architektur, was war noch Fleisch? was bloßer Schein? Limousinen schwammen

hochzeitsweiß mit, andere mafiaschwarz,Bild-025-Times-Square manche topless. Die Chassis glänzten poliert. Kleine Südinder, in Konfirmationsanzüge gesteckt, saßen hinterm elfenbeinenen Volant. Die Schwarzen trommelten immer erregter, und unter der Glasüberdachung quollen aus dem Eingangschlauch des Hotels Leute in Abendgarderobe, die Frauen geputzt wie Kinostars. Sie präsentierten der Gesellschaft ihre tennisweißen Töchter. Es roch nach gebrannten Mandeln. Nach Kokosstückchen Paranüssen. Die Autowasser sprudelten oder schoben sich von Norden südwärts parallel mit dem andren Fluten des Hudsons gen Atlantik, bis aus dem Viertel hinaus spülten sie Touristenköpfe mit, und Busse, und Lufballons, und Leute auf Stelzen. Dann die Frau mit Bullerbacken Borstenschnurrbart; sogar die Kiefern noch gebläht, ganz empört, als wäre Empörung das Wasser, in dem die Kiemen atmeten. Überhaupt die Gesichter! Verstört oft, voller Blessuren, Spuren der Ehehölle Elternhölle. Als hätte man diese Menschen unentwegt verprügelt. Das mochte wohl so sein. Über der feinen Gesellschaft lief die unentwegte NYSE-Reihe aus Achtelkursen Siebtelkursen am oben vorgeschobenen Sims. Das PARAMOUNTBuilding, worin die Chase Bank residierte, schmückte die goldene Uhr im goldenen Eingang und ganz oben, auf dem sich spitzenden Dach, der berühmte goldene Apfel vorm spätabendlichen Violettblau eines Himmels, über den flimmernde Lichtarme huschten.


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Alban Nikolai Herbst, In New York, Manhattan Roman.]

In einem zweistöckigen rundbauchigen Pavillon kehrte ich ein.

[Kapitel 14 bis 18 <<<< dort.]Bild-026Times-Square-Brewery

Durch seine gläserne Nordwand ließ sich das Treiben beobachten. Für ein Bier verlangte man neun Mark. Na gut, ich konnte es ja strecken, wenn das den Yuppies auch sicher nicht paßte. Allerdings saß unter all den upper smart people, bloß drei Körperbreiten von mir entfernt, eine verstörende Erscheinung. Das Gesicht voller Verschwemmungen Besenreißer milchweißes Haar. Ein Obdachloser, der feingemacht war. Das Jackett hatte schon die Fünfziger nur mühsam überlebt. Die Jeans nicht verschlissen, sondern gepatchworked aus verschlissenen Jeans. Rissige Hände. Grüne Punkte, wie von ausgeleckter Tinte, übersäten sie. Immer wieder nahm er ein flaches GinnFizzGlas hoch und nippte. Wahrscheinlich hatte ihm wer paar Dollars spendiert. Aus der Jackettaußentasche lugten drei Eßstäbchen. Nicht nur ich sah ihn an, sondern er auch mich. Und plötzlich sagte er: „Sie sehn nicht aus wie ein Tourist.“ Als wäre das eine Frage gewesen. „Auch wie ein New Yorker sehn Sie nicht aus.“ Er rückte zögernd näher. Noch näher. Sehr nah. Ein Geruch nach Muff und schalem Essen stieg aus seinen Kleidern. Ich rutschte weg. Er lachte plötzlich leise, Übersprung, irgendwie traurig. „Verzeihung“, sagte ich. „Das ist nicht gut“, sagte er, „wenn Menschen an falschen Stellen sensibel sind. Wir brauchen unsere Empfindlichkeit für die Geheimnisse des Lebens.“ „Es gibt Geheimnisse?“ „Wenn man drauf achtet, dann überall.“ Seine verschatteten Augen. Er übersah meinen spöttischen Blick nicht. „Sie sind“, sagte er, „lebensgewandt?“ „Finden Sie?“ „Was glauben Sie?“ „Ich erfinde Geschichten.“ „Ich möchte Ihnen gerne einen Martini spendieren. Sie mögen ihn mit Gin oder Wodka?“ Ich zuckte die Schultern. „Man muß ihn rühren,“ lächelte er, „trotzdem, ich mag ihn geschüttelt.“ Wenn er das Glas ansetzte, kippte er immer den ganzen Kopf: legte ihn in den Nacken und ließ das Getränk einfach fließen. Er erzählte von Gunnar Olsen, seinem Vater, der aus Schweden eingewandert war, 1924, kurz nach der Uraufführung von Löfgrens Slåttegrille. Kaum in der Fremde angekommen, habe ein Unfall ihn den rechten Arm gekostet. Sich deshalb als Farmer niedergelassen. Arkansas. Für einen Musiker nicht leicht. Jetzt erst kam mein Martini. Schmunzelte die junge Frau hinterm Tresen? „Hören Sie dann Musik?“ fragte er. Ich: „Musik?“ „Wenn Sie Geschichten erfinden...“ „Eigentlich nicht.“ „Ich höre überall Musik.“ „Wann werden die Geschichten wahr?“ fragte ich. Er: „Was gedacht werden kann, geschieht.“ Ich: „Was für Musik hören Sie?“ „Manchmal singt ein Bordstein. Manchmal singt ein Kind. Manhattan ist musikalisch. Laut, ja, aber voller Musik.“ „Ich find es gar nicht so laut.“ „Sie hören das nur noch nicht. Sie müssen einmal nachts, so um vier, wenn es wirklich still ist, ein Ohr auf einen Kanaldeckel legen.“ „Das tun Sie machmal?“ „Nicht mehr. Ich bin zu alt. Ich habe so Ziehen im Rücken. Spielen Sie ein Instrument?“ „Nein.“ „Das ist schade. Sie kommen nicht aus einem musikalischen Haushalt?“ „Sie spielen natürlich... Geige? Klavier?“ „Theoretisch alles. Praktisch na ja. Ich liebe die Bratsche.“ „Sie haben Musik studiert?“ „Mein Vater hat mir das meiste beigebracht. Jetzt leite ich ein Orchester.“ Er lachte. „Ein schlechtes eigentlich. Aber wenn man bedenkt...“ Verstummte. Dann: „Sie halten Manhattan für flach, nicht wahr?“ „Bitte?“ „Für hoch, aber flach..?“ „Ich verstehe nicht...“ „Sie sind davon überzeugt, nur wegen dieses harten undurchdringlichen Felsens stünden die Riesenhäuser so fest... Und das stimmt ja auch: in einem Venedig wären sie längst versunken... Kennen Sie Venedig? Es ist immer ein Traum von mir gewesen, nach Venedig zu reisen.“ Er seufzte. Zog ein auf braunes Papier hektografiertes Blatt heraus. „Hier“, sagte er, strich es glatt, „wenn Sie Zeit haben morgen... Da geben wir unser Debut.“ „Ein Konzert?“ „Über ein Jahr habe ich mit diesen Menschen geprobt. Nun kommt es nur noch aufs Publikum an.“ Er nahm meinen Ärmel, zog mich näher: „Tausende davon hat er verteilen lassen!“ „Er?“ Verschwörerisch: „Mr. Neill.“ „Ach so.“ „Sie müssen einfach kommen!“ Ich betrachtete den Programmzettel; er hatte etwas amateurhaft Improvisiertes:

Bild-031-Pluto-Symphony

„Carnegie Hall?“ fragte ich. Er schüttelte den Kopf: „N e w Carnegie“, zeigte nach unten, „u n t e r uns.“ „In der Kanalisation?“ fragte ich ironisch. Daß in aufgelassenen UBahnschächten Obdachlose lebten, hatte sich auch in Europa herumgesprochen; Schulte behauptete sogar, jemand betreibe darin eine Kunstgalerie. „Sie haben Zweifel“, sagte Olsen, „das seh ich Ihnen an der Nasenspitze an. Sie sollten vielleicht etwas offener sein.“ „O ich bin redlich bemüht.“ „Wußten Sie, daß Ameisenbauten über fünfzehn Meter tief ins Erdreich langen? Dabei: Wie klein so ein Insekt ist! Was glauben Sie? Hundertmal kleiner als wir? Tausendmal kleiner?“ „Sie geben wirklich in den Kanälen ein Konzert?“ Wäre er nicht so bescheiden gewesen, er hätte gestrahlt: „Das läuft schon überall rum. Aber in den Kanälen natürlich nicht, schon wegen der Nässe. Eigentlich hatten wir vor... ein Condo... – Waren Sie schon am Brayant Park? Wenn die Leute wüßten, was unter Ihnen... – Aber nun ist alles sowieso anders.“ Plötzlich leuchteten seine Augen wirklich: „Jetzt weihen wir einen Konzertsaal ein.“ „Unter der Erde?“ „Er wird zwar noch nicht ganz fertig sein, darauf hat mich Mr. Neill schon vorbereitet... aber Sie finden doch auch, daß ich die Aufführung auf keinen Fall verschieben darf?“ „Dazu kann ich nun nichts sagen.“ „Das hielten meine Freunde nicht aus. Sie würden die Hoffnung verlieren. - Ich weiß auch nicht, es war eine verrückte Idee.“ Einen Moment lang wirkte er verunsichert, dann sagte er, indem er in Richtung meines Glases nickte: „Schmeckt Ihnen nicht, der Martini?“ „Doch, schon...“ „Wer keinen Martini mag, wird niemals New York City verstehen.“ „Glauben Sie?“ „Das ist keine Frage des Glaubens. Werden Sie also kommen?“ „Ich denke ja.“ „Das ist schön, das ist“, er reichte mir seine Hand, „s e h r schön, Mr...?“ „Meissen.“ „Kommen Sie unbedingt. Je mehr Menschen da sind, um so glücklicher werden die Musiker sein.“ Er bekam rote Ohren. Erregte sich noch mehr. „Ach, das ist schön“, rief er, „Sie kennenzulernen! Und nicht vergessen: morgen halb acht, Grand Central Station. Da wo es zur Subway geht. Von dort aus wird man Sie abwärts führen.“Bild-030-Under-Manhattan-11„Mit wem“, fragte die Bedienung, „unterhalten Sie sich?“ Sie war dem Gespräch schon eine ganze Weile gefolgt. „Na mit meinem Freund hier“, entgegnete ich. „Ihrem Freund?“ Er zog soeben seinen Mantel an. „Ja“, sagte ich, „mit Mr. Olsen.“ Es fiel ihr sehr schwer, nicht auch noch die zweite Braue zu heben: „Mögen Sie den Martini noch?“ „Eigentlich schon, aber“ ich schob ihr, als Olsen ging - leicht wankend und als hätte er ein zu kurzes Bein -, sein halbvolles Glas zu, „es wird mir zuviel. Ich bin den Alkohol nicht gewöhnt.“ „Hab ich auch den Eindruck.“ „Er sitzt oft hier.“ „Wer?“ „Olsen. - Kann ich ein Selters haben?“ „Wie Sie wollen.“ Das Wasser goß sich perlend ins Glas. „Erzähln Sie von ihm.“ „Meinem Freund?“ „Wie heißt er? Olsen?“ „Er kommt hierher, um nachzudenken. Um eine andere Welt zu sehen. Er paßt hier gar nicht hin.“ „Das habe ich gemerkt“, erwiderte sie und lächelte jetzt. Das war etwas berückend. Sie beugte sich vor, wisperte mit Augenzwinkern: „Man hat sich über ihn beschwert. Sehen Sie..? Dort hinten das Ehepaar.“ „Was ham die gesagt?“ „Ich weiß nicht... daß er stinkt.“ „Ich hau denen gleich auf die Nuß.“ „Das lohnt sich bestimmt nicht.“ „Meinen Sie?“ „Was kapiern schon die Leute...“ Rückte das Wasserglas näher. Ich: „Bringen Sie mir vielleicht doch noch was andres.“ Sie: „Sind Sie sicher?“ „S e h r sicher.“ Sie ging aber nicht. Ich sagte: „Er ist ein Dirigent.“ „Ach ja?“ „Aber er benutzt Eßstäbchen.“ „Eßstäbchen?“ „Zum Dirigieren, ja. Das hat er sogar mal in der Carnegie Hall getan...“ „Er ist derart berühmt?“ „Das war er... Dann hat man ihn verspottet.“ „Was ist passiert?“ fragte sie. „Er hat sich“, erklärte ich, „nicht anpassen wollen.“ „Das ist schlecht.“ „Und die Sache mit den Eßstäbchen...“ Die junge Frau nickte und fing an, die linke Seite ihrer Unterlippe zu kauen. „Maestro Chopstick nennen sie ihn.“ „O weh.“ „Doch er ist zäh. Es wird wieder ein Konzert geben. Morgen.“ „Morgen?“ „Haben Sie Zeit?“ „Vielleicht.“ „Soll ich Sie abholen hier?“ „Oh ich geh besser allein.“ Ich schob ihr den Programmzettel rüber, sie ignorierte ihn. „Schon als er noch klein war“, erzählte ich, „ist er so eigenwillig gewesen. Später, als sie ihn abwiesen bei Juilliard, hat er vor dem Gebäude draußen geschlafen. Aus Protest. Und er hatte kein Geld. Dann kam die Krankheit. Als man ihn wieder entließ, war er ein anderer Mensch geworden. Erst lebte er nur auf der Straße. Umgab sich mit zweifelhaften Leuten. Richtete sich wieder auf seiner Bank vorm Lincoln Center ein. Man ließ ihn entfernen. Er kam zurück. Und er schlief da nicht nur, nein, lebte da, studierte. Bücher und Partituren stapelten sich am Boden neben der Bank. Dann fing er zu dirigiren an. Stieg auf die Bank und dirigierte das Nichts.“ „Mit Eßstäbchen.“ „Ja.“ „Irre.“ „Es gab Artikel über ihn in der New York Times, in Time Out New York. Wenn die Schönen und Reichen zu den GalaAbenden heranrauschten, sahen sie ihn dirigieren, bevor die eigentliche Aufführung losging. Das soll so faszinierend gewesen sein, daß viele hinterher zu spät in den Konzertsaal kamen. Sie hätten, sagten sie, eine Musik gehört...“ Die Bild-032-Explore-New-YorkBedienung seufzte: „Und dann hat Mr. Chopstick ein richtiges Orchester gekriegt?“ Sie hatte ganz rote Kinderwangen mit einem Mal. „Wenn ich endlich meinen Martini kriege...“ „O Verzeihung Verzeihung!“ Sie lächelte. „Und für Ihren Freund hier?“ „Er ist schon weg“, sagte ich. „Ach“, seufzte sie, „das habe ich nicht gewußt.“ „Macht ja nichts.“ „Doch, macht was. Ich hätte ihm gerne die Hand gegeben.“




ANH-IN-New-York-Buchcover[>>>> weiter, Kapitel 21 bis 24.
ANH, In New York, Titelseite <<<<
Alban Nikolai Herbst, In New York, Manhattan Roman.]

Maestro Chopstick. Time Out New York 198, 20. bis 27. 5. 1999. Jupiter wird Pluto.

Wie >>>> Olsen entstand:.Bild-028-TO-NY-N198-OlsenIch besuchte das Konzert und notierte danach:Sechste Geschichte: Die Geschichte des Penners, der dann warmherzig und ernst­haft Dirigent wird. Den man abgewiesen hat in der Juilliard School. (Konzert in der Good Shepherd Presbyte­rian Church.)Dazu Notiz auf meinem Programmzettel:Sehr schön, mit welcher Wärme und Simplizität dieser etwas bewegungsbehindert wirkende alte Mann seine jungen Musiker leitet: selbstver­ständlich und liebevoll. Es macht ihm gar nichts aus, ein Musikstück nach einem Satz zu unterbrechen und ins Publikum hin­ein (Liebes-) Erklärungen abzugeben. Sowas gefällt dem Betrieb freilich nicht. Der kleine dicke Pianist noch: wie vorgereift; in Wahr­heit ist alles andere außer dem musikalischen Vermögen zurück- und kindgeblieben in ihm.


Ich flanierte wieder ein Stückchen zurück.

[Kapitel 19 und 20 <<<< dort.]

Bild-037-Subway-local-express

Allerdings nahm ich eine Seitenstraße des im Sternenfeuer brodelnden Broadways, an Bretter- und Bauverschlägen der 43rd vorbei bis zur 6th Ave und dann nordwärts durch die Ströme der Händler Gaffer Taschendiebe. Es ging sich mit den Martinis intus beschwingter, da hatte Maestro Chopstick schon recht. Die dicken Ärsche junger Frauen. Nicht zu fassen. Man hatte die Fettsucht bis zur Zellulitis von Kindern veredelt. GET FAT!: auf der Schaufensterscheibe des Deli’s. Überm Chrysler-Building schimmerten die schuppigen ArtDecoBögen seines elegant gespitzten Metalldachs. Ich war versucht, die Subway zu nehmen und hinab zur Brooklyn Bridge zu fahren, dem ausgespannten Gußeisentraum jedes seriös Suizidalen. Von dort aus ließ es sich, dem hölzernen Fußpfad gefolgt, weit überm dahinströmenden East River und ein wenig über sich stauenden Wagenspuren, am allerbesten aufs Stadtgeglitze zurückschauen. Aus den Bohlen lugten hie und da lange silberne Schrauben, gegen vier in der Früh fanden sich gern Souvenirdreher mit ihren Ziehgeräten ein. Mir kam ein Wolf in den Sinn, ein Indianer, der oben, die 40 cm dicken Stahltrossen hochgeklettert, auf einem der beiden backsteinernen Brückenpfeiler den Mond besang. Machte kehrt, schritt nach downtown Manhattan zurück, links glänzten in reinlich brutalen Riesen Finanzdistrikt blinkende Fenster wie Sterne:Bild-036-Save-1-Werbung White Hall Wall Street, mitten hindurch lief einst der Palisadenzaun, der die Holländer auf ihrer Inselspitze schützte. Links unten das Restchen Hafen renoviert Fulton Fish Market; nach Schlick roch es herüber. Rechts aber, jenseits der luftigen Manhattan Bridge, die sich blau und an blauen Trageseilen zu Brooklyns UferBild-041-Chinese-Broadway hinüberschwang, kackbraunsozialer Wohnungsbau Straßen um Straßen, jetzt wohltuend schwarz in der Nacht. Schräg davor nach hinten versetzt: erleuchtet City Hall: das Behördenviertel in die Chinesen geschnitten. Diese vielmehr herangewachsen: Wundrändern gleich, die um die Messerklinge wachsen und sie umfleischen. Ein durch halb New York geranktes, weiterrankendes Asien. Aber die Mutterzelle hier.
Nun stand ich midtown 6th Avenue Höhe Times Square, auf meinem Weg zu LEGZ DIAMOND's, um Talisker zu treffen. Stand da, die Lider geschlossen, schritt downtown weiter East ‚Chinese‘ Broadway, woran das Neue Chinatown backt. Hier wurde nur noch Chinesisch gesprochen. Touristen mieden die Gegend. Verständnislos staunende Mandelaugen, als ich auf englisch nach Batterien fragte.Bild-035-Chin-Werbung Es war ganz schwarz vor Nacht. Kaum in die Clinton St. gebogen, in Richtung der mit Mietshäusern vollgeklotzten Lower East Side weitergegangen: plötzlich, in Ferne, Kuppeln, Minarette, Tempel der imaginären Stadt. Es gab die nicht, sondern sie lebte wie ein Regenbogen, eine urbane Fata Morgana: elegantes Weiß das Chrysler Building, lockend Gelb die halbe Nadel hinauf das Empire State, die untren vier Fünftel schwimmbadblau, gelb auch die Säulenhalle des ATT-Turms innen, das Dach in verschwimmendem Türkisblauweiß vorm schwarzen Samt des Himmels. Milde gegen die alten brutalen Komplexe hinter Canal und Delancey St. hatte die Dunkelheit sich auf sie gelegt. Auf Haufen geschmissen Tüten Abfall gestapelt Platten verschnürte Bleche Pappekartons. Verrottete Kühlschränke, in denen Kinder lebten. Mülltrucks durchrumpelten die Bowery. Die Straßenecken Deponie. Drin wühlten in ethnischster Gleichheit die Armen. Nicht leicht zu kreuzen die riesige, hochfrequentierte Zubringerstraße zur gigantischgrotesken Williamsburg Bridge voller Lichtraupen Weiß und voll Rot. Caterpillars. Blaulicht. Schräges, stroboskophaftes Warngelb.
Hinter der Rivington Street bekam die Gegend etwas in sich Gedrehtes: die leicht verkommenen Brownstones hatten ihre Bewohner embryonal an sich gekrümmt. Auf Feuerleitern glimmender Rost. In Souterrains Kneipen geduckt. Schlagende Bässe, die, Pulsen gleich, die trauern, über dem Trottoir vibrierten. Auf der Treppe saß ein Berber, das Bier in der entkräfteten Hand. Den Einkaufswagen voll aufgetürmter Habe bei sich. Trutzig dahinter, daneben, darüber die Mietshauskomplexe. Ein kleiner Garten voller Trödel. Aus einer Ferne klingelte Glockenjazz... - Bild-034-Make-a-new-New-York


„He, m ü s s e n Sie hier mitten im Weg stehen?!“
Auf der 6th Avenue wieder...
Instinktiv zwei Schritt zur Seite, aber weitergesonnen. Was um alles in der Welt fotografiert der mich denn?!

: Rissiger Einschuß eines Lichts ganz aus Lärm - - -

- ...n i c h t aus der Ferne, aus einem parkenden Auto. Darin umschlungen ein Pärchen... h a l b umschlungen, so gut es halt ging bei Gangschaltung und Steuerrad. Die East Houston Street kreuzen nach Alphabet City, Avenue A. Kneipen, Bars, Restaurants, CD-Shops, Antiquitätenläden. Krimskrams in strengwinkligen Seitenstraßen. Discos. Ein schneller Deal an der Ecke. Westlich von hier, im East Village, vergnügten sich Studenten; südwestlich darunter, in schickes Understatement renoviert, empfing Soho privat die Gäste in luxuriösen Lofts. Eine aufgepflegte Lagerhaus-Architektur, schwere Arabesken aus Gußeisen an weiten matten, tags lichtgefluteten Fensterflächen. Wenn die Sonne schien, saßen reiche sinnierende Mädchen auf den Stufen, die zu den Haustüren führen. Feuertreppen. InlineSkater.
Oberhalb Sohos New York University. Sachliche Gebäude um den belebten, baumbestandenen Washington Square. Mittags mischten sich zwischen Triumphbogen und Garibaldi Studenten, Angestellte, Frauchen mit Hund. Butterstullen wurden entpackt und Bücher auf den Bänken. Bröseltüten Taubenschwärme. Elegant langte die 5th Avenue nordwärts, hier hob das strenge Stadtraster an: für zwölf Kilometer, über midtown und Central Park hinaus, bis an den schmalen Harlem River.Bild-040-PennerCALL OUR SUPERPHON! Die rotgepunktete Leuchtschrift lief über ein schwarzes Paneel und scheute sich nicht, für etwas zu werben, das sich „Hitech Hebrew“ nannte. Rundherum Brownstones, gepflasterte blumenkastengeschmückte Vorgärtchen. Ein Tulpenbeet. Säulenportale wie Karyatiden. Stockwerke drüber und Metallfeuerleitern. Dann die indische Meile Special Dinners Folklore. Es jammerten Sarangis. Grob hineingeknallt ein Hochhauskom­plex. Das Miniatur-Antiquariat, aus dem es nach Antiquariat auch herausroch, von sehr altem Backstein. TattooLäden PiercingStudios. Geländer Säulchen Türen: blau schwarz bordeaux. Fingerdicker englischer Lack. Sushi-Shops. Aus einem Triangel-Dreieck hinter bemalten Gußeisengittern wehte HyazinthenGeruch, BlumenZierat mit goldenen Spitzen vor einer Kirche.
Bild-033-Village-VoiceIch bog in die Rue Lafayette. Sie heißt nicht ‚Rue‘, doch wirkte s o parisienne mit ihren Fassaden der Zwanziger Jahre, neogotisch, Burgenzinnen über Flaneuren. Friseurgeschäfte Modeläden Ausstatter für Fetischisten & Gothic, durchaus ein bißchen Berlin. Shakespeare & Co am Internet. Vom zweiten Stockwerk an und hinter den Höfen Büros. Altertümliche Kontore, die sich in kilometerlangen, labyrinthischen Gangfluchten finden. Redaktionen aus Zeitgeist, BLUE MAGAZINE's und VILLAGE VOICE's. Hier wären bleiche Herren in dunklen Anzügen zu erwarten gewesen, nicht solcher Schick. An Astor Place stieß Barnes & Noble des Geldes Demokratie in die Kunst. Unweit davon stieg ich zur Subway hinab, erstand bei dem in seinem Glaskäfig festgewachsenen MTAler einen Token, warf ihn in den Münzschlitz vor der Drehschranke und ließ mich mit dem 6Train bis unter die Grand Central Station fahren. Ein AufklärungsComic im Waggon, junge Mulattin vögelte gerne. Davon wurde sie krank. The Lesson here is very clear: / You don’t have sex, you don’t have fear. In unübersichtliche Gänge geschleust, grobe Wände voller Kabel, stieg ich in den Shuttle zum Times Square um, kam aus fahlem Dunkel in funkelndes Dunkel, Massen Hupen Verkehrswulst, ich schritt um zwei Ecken.... und da sah ich mich denn: wie ich immer noch dastand und sann. Ich stubste mich an und trat in mich ein. Hörte aus dem Off das Lachen Maestro Chopsticks, spürte seine Hand in der meinen. „Es freut mich zutiefst, Sie kennenzulernen!“Bild-039-You-don-t-have-sex
Erst gegen zehn kam ich an, für Talisker eine halbe Stunde zu spät. Ich war durch den Innenspaziergang auf eine meditative Weise geklärt. Es hatte zu nieseln begonnen. Das hatte ich nicht gleich gemerkt. Dabei schützten mich die schwankenden Dächerchen der Schirme durchaus nicht; vielmehr wurden die Spitzen ihrer Rippen für Drohgebärden mißbraucht. Ich mußte schon deshalb weiterkommen. Außerdem war es ziemlich aufgefrischt. LEGZ DIAMOND'S elf Straßen von hier weg. Im Gehen zog ich meine Börse heraus und aus ihr ein paar Dollarscheine. Die falzte ich einmal und steckte sie mir in die Hemdbrusttasche. Es konnte nicht schaden, sich vorzubereiten.

Bild-038-Nachtbar-nachtsNoch lag Times Square keine Meile hinter mir. Auf die Sohle der Häuserklammen tropfte die Nacht. Nur Taxen fuhren geschmeidig mal durch. Ihre Reifen sirrten. Selten warnten blaschende Signallichter von Polizeiautodächern, vage in Pfützen widergespiegelt. Ich hatte das Gefühl, die Haut einer sechsten Dimension zu durchschreiten. Trat deshalb besonders vorsichtig auf. Vielleicht bemerkte man mich nicht. Das Straßenstückchen der 54th war besonders dunkel. Es wirkte nicht anrüchig, war einfach nur tot. Auch wenn ich den Kopf in den Nacken legte, kein Licht ließ sich in den Hängen sehen, nur vor mir ein schimmernder Baldachin. Der Türsteher trug Basecap und Livree. Es sah aber aus, als stünde er Schmiere: den Uniformkragen hochgeschlagen. Trat von einem Fuß auf den anderen. Sah mich. Taxierte mich. Wurde straff. Winkte mich abgefeimt her. Winkte mich in den Eingangsschlauch, dann schubste er mich der Tür eines Fahrstuhls zu. Gab übers Handy oben Bescheid. Der Lift schob sich auf. Höchstens drei Leute hätten drin Platz. Ein Engländer wollte noch rein. Weiß nicht, woher der plötzlich kam. Er zeigte mir peinlich die Zähne. „Sie waren schon mal hier?“ Der Schweif war zwischen die Beine geklemmt. „Der Eintritt ist wirklich umsonst?“ Das fragte er mich, nicht den Livrierten. Ich hatte keine Ahnung. Auf dem Handzettel hatte was gestanden. Der aber war ja bei Talisker. Der Engländer hatte noch nur den Fuß in dem Lift, der andre Huf war draußen Standbein. „50 Dollar“, sagte ich. Er wieherte: „Was?!“ „Für Gedeck und Kondom.“ „Um Himmels willen!“ Bevor noch die Tür sich zuschieben konnte, scheute der hagere Brite zurück in die Nacht. Der Türsteher betippte die Mütze. Dann war der Lift endlich zu.

ANH-IN-New-York-Buchcover
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ANH, In New York, Titelseite <<<<
Alban Nikolai Herbst, In New York, Manhattan Roman.]

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