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ARGO-ANDERSWELT
Deidameia stand von dem Bett auf, die hohen Schuhe abgestreift, barfuß über Teppichbodens Flausch, so ging sie zweimal auf und ab, watend. Blieb kurz stehen. Watete weiter. „Es gibt da einen“, sagte sie, „der wäre vielleicht nicht verdächtig. Kannst du ihn, wenn es sein muß, schützen?“ „Im Osten?“ Mata Hari nickte. Goltz. Das dritte Mal. Die Lippe. „Kaum“, sagte er. Deidameia daraufhin: „Ich will nicht, daß ihm etwas zustößt. Er ist sehr sanft.“ So sanft sprach sie das selbst. „Wir nennen ihn Den Sanften.“ „Im Osten?“ fragte Goltz erneut. „Nein. Er lebt in der großen Brache.“ „Wie kam er aus dem Osten dahin?“ „Ich selbst brachte ihn mit.“ „Wie?“ „Das Heer. Er war Informant, eurer - glaubtet ihr.“ „Ein sanfter Agent?“ „Nie rührt er eine Waffe an. Doch sein Gehirn ist ein Rekorder.“ „Ein Cyborg.“ „Nein.“ „Mutant?“ „Alles an ihm ist Mensch, außer daß er gut ist, sanft ist.“ „Dann verstehe ich das nicht.“ „Niemand verstand. Er hat unter den Schändern gelebt und denen von Kungír.“ „Bei den Devadasi?“ „Wir mußten ihn entführen lassen, als der Ostkrieg ausbrach. Er wäre bei den Rasenden Frauen geblieben. Zu seinen Füßen saßen sie und lauschten, wenn er sang.“ „So etwas gibt es nicht.“ „Orpheus Odysseus“, sagte Deidameia. Goltz aber, irrtiert: „Bitte?“ „Der erste Odysseus konnte das a u c h. Er sang, und die Schakale kamen ihm die Hände lecken.“ „Odysseus?“ „Der Feldherr. Ja. Wir hatten davon Lieder.“ Seufzte sie? Goltz war sich sicher, sie habe kurz geseufzt. Es war ein Klang aus KaliTräumen. Der Osten. Grausam und sentimental. Irdisch, dachte Goltz, unkybernetisch. „Wo ist er ursprünglich her?“ „Das könnte er nur selber sagen. Doch er schweigt. Die Frauen schlugen ihn heraus, wo ihr ihn eingesetzt habt. Umgekommen wäre er schließlich doch. Das interessierte euch nicht. Doch riß er immer aus.“ „Dann habt ihr ihn in den Westen gebracht?“ Deidameia nickte. „Aber er hält kein Dach aus, keine versperrte Tür. Vielleicht mal bloß die Nacht. Danach muß er streunen. Als müßte er sonst sterben. Und alle lieben ihn.“ „Darauf wollen Sie setzen?“ Goltz strich sich seinen kleinen Hohn, weil er eigentlich staunte, von Stirn, Nase und Mund. „Es ist ein Risiko, ich weiß.“ „Gut. - Wer kontaktiert ihn?“ „Nicht ihr. Sondern wir gemeinsam. Wir müssen, Markus, offen zu ihm sein.“ Sie wußte, das war für Goltz das schwerste. Besser, er ärgerte sich, daß sie ihn bei seinem Vornamen nannte. Daran, daß sie ihn duzte, war er mittlerweile wohl gewöhnt. „Aber etwas anderes“, sagte er unvermittelt, wohl deshalb. „Haben Sie auf Hans Deters Einfluß? Haben Sie Zugriff auf seine Identität?“Die Frage kam so überraschend, daß sich die Wölfin räuspern mußte. Sie blieb aber klar. „Ob wir ihn programmieren können?“ Goltz nickte nicht. Ganz regungslos blieb sein Gesicht, doch stieg der saure Duft von ihm. „Nun?“ „Wir manipulieren nicht. Nicht unsere eigenen Leute. Der Charakter ist tabu.“ Als Goltz einfach schwieg: „Er ist in Stuttgart gewesen. Sagt dir die 22 etwas?“ „Was heißt das: er ist in Stuttgart gewesen?“ „Offenbar hat euer Präsident dem Stuttgart schon mal voraus Soldaten geschickt, zweiundzwanzig sollen es sein.“
Cordes goß sich vom Kaffee nach. Für ihn, der diese Szene imaginierte, war es Vormittag. Sein kleiner Junge war bereits in der Schule. Aber weil man, dachte Cordes, mit der Zeit gehen müsse, ließ er Goltz der Wölfin nun auch noch einen USB-Stick hinüberrschieben. Die zwei Disketten nämlich, die seit THETIS im Spiel sind und deren eine die Erbschaft aus dem WOLPERTINGER ist, reichen wirklich nicht mehr hin: innerhalb von knappen zwanzig Jahren können sogar Speichermedien zu nur noch historischen Größen werden. Immerhin gab es die Instrumente noch, sie auszulesen. Doch irgendwann werden die veränderten Produktionsmittel alles Frühere ausschließen. Dann wird es zum Geheimnis werden und jede Diskette ein Heiliges Buch.
>>>> Argo 282 (Aus der Zukunft)
Argo 280 <<<< (um 11.10 Uhr im Link).

albannikolaiherbst - Donnerstag, 27. September 2012, 07:10- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
Nie hatte Goltz das Gesicht vergessen, Brems, nicht die schartige Hauterhebung unterm schrägen Tränensack, nicht die von winzigen Fältchen gekerbte Nase, schon gar nicht den Blick. Er hatte damals nicht mitsuchen können, so dringend hatte er aus dem Osten wieder hinausgemußt. Doch hatte auch nicht im Westen - nicht, als er heil in Koblenz zurückwar, und nicht danach - nach dem Mörder fahnden lassen. Weshalb? Es war mit den KaliTräumen noch gar nicht losgegangen. Die kamen erst später. Er hatte den Osten vergessen wollen. Nichts von dem sollte bleiben, nichts, rein gar nichts in ihm. So reinlich war er gewesen, so strukturiert und so klar. Und später, wenn es schon nachts diese Träume gab, die ihm die wenige Zeit zerfieberten, die ihm zum Schlafen blieb, den Mörder einfach vergessen. Vergessen? - Goltz, bittrig, lachte auf. Da stand sein Instinkt auf dem Schreibtisch. Höhnisch begann er, ein Kobold, zu keckern. Doch war das er selbst. Ungefuggers DNS, die Probe – ach, deshalb war es, sein Unbewußtes, wieder darauf gekommen. Es gab keinen anderen Grund.
Goltz wischte den Kobold vom Tisch. Er stand dem Griff zum Telefon im Weg. Doch das Biest wollte sich halten. Erwischte das Glas Pfefferminztee, kreischte auf, weil‘s ihm die Finger verbrühte, als das Glas umfiel. Und sich ergoß: über die Dokumente, Kommunikationselektronik, Stifte, Karten. Alles ging viel zu schnell, als daß Goltz hätte eingreifen können. Was er auch nicht wollte. Denn die dampfende Teeflut riß den Kobold mit sich, der weiterschrie und mit den Ärmchen fuchtelte, bevor er gegart war. Sein Leichnam ging den Wasserfall von der Schreibtischkante ab zu Boden und verpfützte. Dann gab es einen flachen, elektrischen Knall, ob von Goltzens Rechter, die, während er links schon den Hörer hielt, auf die Platte geschlagen hatte, ob im Computer, ob vom gesottenen Kobold.
„Verbinden Sie mich mit Beutlin...“
Er hatte den kurzen Satz kaum begonnen, wieder beherrscht bereits, da löste sich von dem geschmorten Koboldkadaver ein Rauch, der spirrig und ungefähr aufstieg. Goltz registrierte das im Augenwinkel.
„...gesicherte Verbindung, ja.“
Es ballte der Rauch sich im Raum.
„Und ist noch eine Putzkraft im Haus? Schicken Sie sie her.“
Die wolkenartige Ballung wurde Gesicht. Das schwebte dampfen und rötete sich, halb von Achäerblut verschmiert. Um besser sehen zu können, wischte es sich der Söldner mit dem Ärmel seines linken Armes ab. An dessen Wurzel die Hand, die das Messer umschloß. Das zeigte der Dampf aber nicht. Sondern das war reale Erinnerung.. Diesmal, um ihn zu warnen, ja erstarren zu lassen, zeigte ein KaliTraum sein wahres Gesicht: von Lockung war nun gar nichts mehr an ihm. Sondern dies war das Albreißen Kignčrs’, von dem Goltz noch nichts wußte.
Das Gesicht kam näher und lächelte, Goltz ließ den Hörer fallen: Was eine perfekte Holografie, dachte er, von seiner Angst nun restlich ausgekühlt. „Du hast noch etwas von mir“, sagte Brem. Er sprach mit nasaler, was ganz besonders drohte, Nachdrücklichkeit.
Frau Schneider fand den Polizeichef erstarrt in seinem Bürosessel vor, zwar locker wie selten die Beine übereinandergeschlagen, aber ein Eis, das in die Ferne schaut. „Herr Goltz! Herr Goltz!“ So erschreckt, daß auch sie, die holomorfe Reinigungskraft, beinah erstarrte, an der Linken Eimer und Feudel, rechts hielt sie Kehrblech und Handbesen fest. Noch nie hatte sie solch irren Ausdruck in irgendwessen Blick gesehn, auch nicht in einem dieser Horrorfilme, die Jens, ihr Sohn, so schätzte. Ihr genügten in der Tagesschau die Schreckensbilder völlig.
Sie stand so. Er saß so. Lange drei Sekunden. Dann war ihm anzusehen, daß er wieder dachte. Hatte jemand Fremdes Zugang zu seinem Büro?
Es war der Verdacht, was ihn erlöste. Das Phantasma, außerdem, hatte ihm den Instinkt bestätigt. Es gab keinen schwebenden Dampf, gab nur unten die Pfütze, in die es immer noch von oben tropfte. Und in der offenen Tür die entgeisterte Holomorfe, wie wenn sie abgestellt worden wäre.
„Was stehn Sie herum? - Hier!“ Er zeigte vor sich auf den Boden.
Da kam die Verbindung mit Beutlin zustande.
„Moment eben.“ Das in die Sprechmuschel. „Bitte machen Sie schnell.“ Das zu Frau Schneider.
„Mein Gott!“ rief sie. „Die vielen Splitter!“
Fing mit der Schreibtischplatte an, tupfte sie trocken, achtsam bei den Displays, fast ängstlich an den Tastaturen. Bückte sich hinab. Wischte mit dem Lappen in der blauen, reinigungsbehandschuhten Hand. Wrang ihn, sie wollte sich nicht schneiden, gebückt überm Eimer, ging abermals in die Hocke.
„Das genügt. Ich laufe ja nicht barfuß.“ Mit dem Kinn verwies sie Goltz des Raums. Gleich wieder ins Telefon: „’tschuldigung, Beutlin.“ Haarproben hatte er seinerzeit aus dem Osten mitgebracht. „Fünf Tütchen, erinnern Sie sich? Wo sind die verwahrt?“ >>>> Argo 280 (Um 11.10 Uhr im Link).
Argo 278 <<<< (um 13.40 Uhr im Link).
albannikolaiherbst - Dienstag, 18. September 2012, 18:33- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
Er wußte nicht, was tun, stand nur da, wagte nicht, die Hand auszustrecken. Dollys Geist wehte nah an ihn heran. Seine Lippen wurden von einem Schatten geküßt, es war kaum zu spüren, merken aber ließ es sich schon. Dann ging die Tote, derweil sie auf dem Bett lag, zur Wand, es war ein leises Weinen im Raum, dann war es weg, die Erscheinung war, dachte Broglier, durch die Wand ins Paradies geschritten. Da machte er Licht. Dolly kam mit dem Kaffee. Willis stand unschlüssig im Wohnzimmer, ein wenig geniert, er wußte selbst nicht, warum. Die schöne Frau machte ihn bange, er war sonst ein handfester Kerl. Manchmal hat, wer nahe dem Tod, etwas an sich, das ihm einen mattierten Glanz verleiht, man weiß nicht recht, woran es liegt, doch er dämpft das Licht der anderen, wirft kleine konzentrische Kringel ins innige, ja selbst ins plaudernde Gespräch, man möchte auf Zehenspitzen hindurchgehen, den brüchigen Boden kaum betreten, so unheimlich, auch so heilig ist einem das, als sähen einen die Augen Sterbender halb bereits aus dem Jenseits an, durchsähen ganze Welten, so fern ist dieser Blick, so viel Zeit braucht er, um uns zu erreichen. Davon war bei Dorata aber gar nichts zu merken, eigentlich, sie lachte, scherzte, kleckerte versehentlich mit dem Kaffee, „wie ungeschickt! oh!“ lief voller Schwung in die Küche zurück, um einen Lappen zu holen, wischte auf, lachte, sie flirtete sogar ein wenig, eine Klonin, mit Willis, ihm, und er fand das schön, es durchrieselte ihn, er war so voller Sympathie, z u voller Sympathie. Wäre nicht dieser genauso sympathische Broglier gewesen, er hätte sich verliebt. So nun verliebte er sich a u c h, aber milde wie einer, der zu verzichten gelernt hat. Dabei war das ein grober Mensch. Ihm gefiel das nicht herzliche, nein, miteinander verschlungene, organisch ruhige Einverständnis der beiden, nie hatte er etwas gesehen, das derart zweifelsfrei zusammengehörte, und darin verliebte er sich ganz besonders: daß ein Paar wie dieses möglich war, daß es das gab. „Manche Beziehungen sind im Himmel gemacht“, hat der sonst ziemlich nüchterne Eisenhauer einmal gesagt, ich erinnere mich, vergesse ihn nie, diesen Satz. Doch Willis’ Beklemmung war und blieb erhalten wie die Melodielinie Brahms‘: Ihr habt nun Traurigkeit. Sie ließ Willis diese Freude dämpfen; er selbst aber konnte nicht sagen, was der Grund seiner wehen Skepsis war. Konnte nicht ulken wie noch vorhin im SANGUE SICILIANO. Stocherte in seinen Sätzen, dabei war Dorata ausgesprochen bemüht, ihn sich zuhause fühlen zu lassen.>>>> Argo 278 [Im Link um 13.40 Uhr.]
Argo 276 <<<<
albannikolaiherbst - Mittwoch, 22. August 2012, 06:30- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
 Argo-TS 696/696neben/697.
(Mut den Revisionen vom 14.6.2012).Möller alias Balthus stand in Rheinmain an einer vom Verkehr chaotisch vollgestopften Rampe, die zu der offiziellen Lappenschleuse hinüberführte, durch welche man, sofern im Besitz eines gültigen Tickets, zum Flughafen kam, der sich weit auf einer der Molen ausdehnte, mit denen die Europäische Mauer je dreivier Kilometer lang in das Thetismeer faßte. Sichtbar hatten an denen die Säuren gefressen. In gut geschützten Kapseln, die wie metallische Wanzen seeseits der geradezu endlosen Mauerwand saßen, steuerten Abenteurer und Cyborgs die Reparaturmaschinen; Holomorfentechnologie war außerhalb des Europäischen Daches nicht einsetzbar, jedenfalls nicht ununterbrochen. Aber auch Robotanlagen hatten sich für Arbeiten auf Thetis als nicht sehr günstig erwiesen. Deshalb fanden hier grobe Frauen und Männer ein Betätigungsfeld, das sich ihnen noch allenfalls beim Militär eröffnet hätte; anders als dort aber herrschte an der Mauer keine hierarchische Disziplin. Solch eine scheuten diese nicht selten heftigen Menschen, deren Waghalsigkeit zu stur war, um sich fügen, geschweige sie in den Dienst einer allgemeinen Idee stellen zu können. Weder kam es ihnen auf Aufstieg oder sonstwie eine Karriere an, noch auf eine andere Macht überhaupt als auf die über alleine sich selbst. Außerdem wurden sie extrem hoch bezahlt, und ihre Innung - eine Art Gewerkschaft, die gleichwohl offiziell nicht anerkannt war - war gefürchtet, schon weil der Interkontinentalverkehr auf die Tätigkeit der Desperados angewiesen war.
Wenige wurden noch alt. Denn der ständige Umgang mit Säuren in zumal einer solch permanenten Thetisnähe griff den Organismus an; zumal galt unter ihnen, sowie sie draußen waren, nichts als ein Faustrecht. Drinnen lebten die, die von ihnen Mensch geblieben, in geschlossenen Gemeinschaften, die, wie die Castren im äußeren Osten, durchaus lagerähnlich, freilich unbefestigt waren. Sie selbst legten, daß unter ihnen das zivile Gesetzbuch nicht galt, entschiedenen Wert. In Pontarlier sprach man euphemistisch von Reinigungsdörfern, der offizielle Begriff war Casino. Wie ehemals die Wagenburgen der Zigeuner waren die Casinos nomadisch, zogen von Einsatzgebiet zu Einsatzgebiet. An den Flughäfen war es indessen zur - von Zarczynski hatte das einst boshaft so genannt - „Seßhaft“ gekommen; das Wort spielte auf den Umstand an, daß durchaus nicht alle Mitglieder der Innung ihr ohne Not angehörten. Zwar einte die meisten ein Ekel vor dem, was sie in ihren Dienst nahm: der nachthetischen Zivilisation typischer Illusionismus. Hinter manchen aber stand die kriminellste Vergangenheit. Denen war keine Wahl geblieben, wenn die Gefängnisdirektion ihnen so die Begnadigung anbot - ohne, selbstverständlich, eingestandenes Wissen Pontarliers. Nicht nur die Villa Hammerschmidt, nein, auch das Parlament hatte diesbezüglich immer schon lieber geahnt als gewußt. Selten saß Yaksha selbst, der Furchtbare, in den Gesprächen, stets aber einer der Mauerräte, meist hochkultiviert und vertrauenerweckend. Der hielt mit dem Risiko nicht hinter dem Berg. Bereits nach wenigen Monaten nahmen die Reinigungskräfte ein Aussehen an, das jede Rückkehr unmöglich machte, schon gar die versprochene, ja vertraglich garantierte ins bürgerliche Leben inklusive der neuen Identität. Und nach den zehn verpflichteten Jahren waren aller Gesichter zu faustgroßen Pusteln verquollen, jedes Atmen war geschädigt. Das aber hieß noch gutgegangen. Dennoch war es objektiv besser, ein solches kurzes, doch immerhin hitziges Leben als das eingesperrte und würdelose unter Yaksha1 auf Rügen zu führen. Auch dort sah niemand das Meer so weinrot, wie es war. Yaksha hatte außerdem recht: „Sie leben wieder in völliger Freiheit.“ Wer die zehn Jahre überstand, war allerdings, abgesehen von den körperlichen Deformationen, auch seelich außerstande, sich noch in zivil regulierte Sozialitäten einzufügen. Das mit einem Herzensdrittel doch immer ersehnte bürgerliche Dasein war dann erst recht, was es für diesen Menschenschlag früher schon gewesen: zu ruhig und zu harmlos, man hätte denn den Eindruck gehabt, in einer Fernsehshow zu leben.
Was Mauerrat und Gefängnisleitung indessen verschwiegen, waren die genetischen Kapriolen, die der Nachwuchs solch Freigelassener schlug. Da man so unter sich blieb, schloß sich der allergogenen Formenfreude der Natur das Erbgut dieser Menschen auf. Bereits ihre Enkel waren nicht länger Frauen und Männer. Viele von ihnen wären ohne hochtechnisierte Prothetik nicht mehr lebensfähig gewesen. Doch sorgte Pontarlier dafür, die Entwicklung dieser Arten vermittels wiedernächster Freiwilliger ins alte Erbgut zurechtzukreuzen. Dabei gehörte es zur Evolution, daß der Mensch sich mit den Maschinen verschnitt. Zum Beispiel wuchs ein ausgesprochen solider, wenn auch Seitenweg der Genetik mit dem gehandhabten Werkzeug zusammen. Diese Wesen wurden mit demselben Öl betankt, das die Geräte schmierte. Sie kamen von der Mauer nie wieder los - nicht metaphorisch, obwohl: das auch, vielmehr konkret bis zum Tod. Sie konnten sich vom Rost ernähren, den sie von den Oberflächen schliffen. Andere spritzten ihre Ausscheidungen in Löcher und Risse. Die härteten in der Mauer aus und gaben ihr erneuerte Stabilität.
>>>> Argo 277
Argo 275 <<<<

albannikolaiherbst - Donnerstag, 14. Juni 2012, 10:14- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
 Argo-TS 452.
albannikolaiherbst - Dienstag, 24. April 2012, 11:36- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
Argo-Ergänzungsseite zu 438
So daß Kumani wie das Greenhorn, das er war, ausgequetscht wurde. Ellie Hertzfelds Geheimnis behielt er aber für sich, doch nannte ihren Namen, weshalb ihm Willis, mit einem Mal heftig, über den Mund fuhr: „Na-willst du?!!“ Er mochte die hohe Prostituierte, schon immer, bewunderte sie sogar ein wenig - wie jemanden Unerreichbares; dabei hätte er für sie das Geld schon gehabt. Doch er mochte sie nicht kaufen, bzw. mieten, blieb lieber von Zeit zu Zeit ihr Fahrer. Sie rief ja immer ihn, wenn sie einen brauchte. Auch das mochte er nicht gefährden. Was er nun aber gar nicht ertragen hätte, wäre eine üble Nachrede gewesen über sie, schon gar nicht im SANGUE. Da kam ihm bereits die Nennung ihres Namens, in diesem Pfuhl, blasphemisch vor.
Aber die beiden Trinker hatten aufgemerkt, Broglier eines plötzlichen Mitleids wegen, das allerdings, sich identifizierend, ihn selber meinte, Kignčrs aber wegen des ungewöhnlichen Namens. „Wie heißt sie?“ fragte er, und sein rot Verschwiemtes, selbst sein Lallen schienen momenthaft zu schwinden, wenigstens zur Folie eingeflacht zu sein, auf dem sein Interesse flackerte. „Wie“, wiederholte er, „heißt sie?“ „Deidameia.... eigentlich ja Ellie, aber...“ „Junge!“ So abermals Willis. Kumani sah jetzt ihn an: „Aber du kennst sie doch.“ Ja eben. Erklärend, Willis, zu Kignčrs und Broglier: „Er meint das Boudoir.“ Kignčrs kannte kein Boudoir, doch Deidameia, das hatte er schon einmal gehört - nicht aber hier, nicht in Colón, nicht in Palermo, sondern früher, im Osten, zweidreimal während des Kriegs, als Oberst Skamanders Eliten gegen die Frauenstädte operierten, deren Widerstand nicht nur dem AUFBAU OST! im Weg stand, sondern es gab Indizien dafür, daß in ihnen die Myrmidonen an der Waffe ausgebildet wurden, bevor man sie als Schläfer in den Westen schickte. Da war, irgendwann, dieser mythische Name gefallen. Die Frauen hießen dort alle so griechisch, jedenfalls hochtrabend wie aus Sagen, doch Deidameia, offenbar, war in Kignčrs vielleicht haften geblieben, weil die befragten Frauen solch eine Achtung in den Stimmen gehabt hatten, nicht nur Respekt, sondern auch Liebe. - Von ‚Befragung‘ zu sprechen, ist selbstverständlich euphemistisch. In Skamanders Lagern nahm man den gefangenen Frauen die Würde. Stundenlang standen sie nackt, mußten sich, auf eine Kiste gestellt, vor den Augen der Söldner entleeren. Man ließ sie ihre Tampons kauen, schlucken, zerbrach sie in Abu Ghuraib. Dann redeten die meisten. Dort war dieser Name gefallen, Kignčrs erinnerte sich. „Deidameia?“ fragte er. Es war furchtbar gewesen, er hatte nur noch davongewollt, zurück an die furchtbare Front. - Abu Ghuraib hatte er sich nie verziehen, nicht, daß er nicht aufgestanden war. Daß er gehorcht hatte. Abu Ghuraib hatte nicht nur die Frauen gebrochen, sondern sie, die Söldner, genau so.
Willis, in dem was alarmiert war, beschwichtigte: „Ellie is ne Nette.“ „... sie nennt sich nur Deidameia“, setzte Kumani seinen Satz fort. Außerdem hatte er gemerkt, daß er vielleicht doch schon zu viel erzählt hatte, unversehens und ohne Absicht ihr Verräter würde. „Das ist sowas wie ein Traum“, sagte er, „um sich eine Bedeutung zu geben.“ Aber er saß zwischen den drei Männern wie ein Junge da, der sich verplappert hat, ausgesetzt dem zunehmend wachen Blick Kignčrs‘, einem indes, seltsam, der nicht forschte, nein, nicht ‚befragte‘, sondern aus all dem Schlamm, faulendem, getrocknetem, in den er ersäuft war, löste sich etwas, schälte sich heraus und stieg auf, das das Glimmen einer Hoffnung hatte, die wir längst nicht mehr haben; ausgerechnet in einem Moment kehrt sie zu uns zurück, der sie für immer ausgelöscht hatte. Wie wir glaubten. Da geht sie auf als ein Licht. Es war rein unnötig, es zu beschatten, um die freundliche Prostituierte zu schützen: so, wie Willis sich zwischen sie und das Licht schob, um Kignčrs‘ vermeintlich bohrenden Blicke von ihr abzuhalten. Der alte Söldner hatte vielmehr das Bedürfnis und den Willen, etwas wieder gutzumachen. Nur war er sich dessen nicht bewußt; alles lief ohne Sprache in ihm ab und formierte sich ganz am Grund des Tümpels, zu dem der Alkohol und die Verzweiflung seine Seele hatten werden lassen.
Wiederum Broglier, anders als sein Saufkumpan, fing zu verstehen an, daß Kumani einer war, der das Zeug zum nächsten Leidgenossen hatte. Noch einer, dachte er, dem sein Leben bald das ihm Liebstes nähme. Deshalb wurde er jetzt ein bißchen weniger abweisend und begann, sich ebenfalls dafür zu interessieren, was diesen schönen jungen Mann sich offenbar mißbraucht vorkommen ließ. Indessen Willis, den Dollys II wegen das schlechte Gewissen weiterquälte, die er doch nur ebenso hatte vor weiterem Leid bewahren wollen, wie den Freund von ihm erlösen, seinen kompakten Leib vor Ellie Hertzfeld gepflanzt hielt, sie, die Abwesende, im Rücken, das Gesicht dem Söldner zugewendet, so trotzig entschlossen, sie vor ihm abzuschirmen. Er breitete sogar die Arme aus.
„Du kennst sie?“ fragte ihn Broglier.
Er habe sie ein paarmal gefahren.
„Wo ist denn dieses Boudoir?“ fragte Kignčrs. Er sähe sich das gerne einmal an. Argo-Ergänzungsseite zu 439
albannikolaiherbst - Freitag, 20. April 2012, 11:22- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
  Argo-TS 400 mit Ergänzungen.
Nun Balthus also, nun Sheik Jessin. Die Grundstückskäufe im Osten und immer tiefer in den Osten bis an die Beskiden heran, in denen der vorgeblich zweite Odysseus bis lange nach Nullgrund verschanzt war. Der Schwarze Staub von Paschtu. Jetzt in ein Nirgendwo entflohn, das wie Blinde die europäischen Truppen durchkämmten. Wenn es Odysseus denn überhaupt gab und der Nullgrund nicht nichts als das ungeheuerlichste Ablenkungsmanöver gewesen war. Die geplante Denaturalisierung Stuttgarts, die der Präsident zu realisieren dabeiwar, gab der Vermutung ein furchtbares Recht. Wenn wiederum der Wölfin Informationen stimmten.
Goltz schoß das Silberstein in den Kopf und seine Unterhaltung mit Aissa und wieder und wieder die točnásche Nacht des Achäers. Die Amazonen, der Freischärler Brem. Sie hatten ihm noch in den Arm fallen wollen, doch wieselflink der lederne, geölte Mann. Glitschig wie ein Fisch. Alles, was er zurückließ, war ein bißchen ergrautes Haar, das hatte Thisea zu fassen gekriegt. Bis heute roch es betörend nach Parfumerie. Rückwärts krachte Thisea. Da war dem Achäer das Messer schon quer durch die spritzende Kehle gefahren. Die Pfeile der Amazonen trafen nur noch den Hänger, fielen ermattet zu Boden, sie und die Kugeln, die ebenfalls nicht trafen. Auch Goltz schoß. Auch seine Kugeln gingen ins Leere. Der Schlächter, als wäre er nichts als ein Phantom gewesen, ein Schnitter der Luft, war verschwunden. Blieb es, spurlos; fast wie der zweite Odysseus. Nur daß sich Brem nicht im Netz inszenierte, anders als fünf Jahre später dieser schwarzgebartete Spartakus der Rechtgläubigkeit. Die Amazonen jedenfalls, am Tag darauf, die aus den Frauenstädten, durchwitterten die Gegend vergeblich.
Nie hatte Goltz das Gesicht vergessen, Brems, nicht die schartige Hauterhebung unterm schrägen Tränensack, nicht die von winzigen Fältchen gekerbte Nase, schon gar nicht den Blick. Er hatte damals nicht mitsuchen können, so dringend hatte er aus dem Osten wieder hinausgemußt. Doch hatte auch nicht im Westen - nicht, als er heil in Koblenz zurückwar, und nicht danach - nach dem Mörder fahnden lassen. Weshalb? Es war mit den KaliTräumen noch gar nicht losgegangen. Die waren erst später gekommen. Er hatte den Osten vergessen wollen. Nichts von dem sollte bleiben, nichts, rein gar nichts in ihm. So reinlich war er gewesen, so strukturiert und so klar. Und später, wenn es schon nachts diese Träume gab, die ihm die wenige Zeit zerfieberten, die ihm zum Schlafen blieb, den Mörder einfach vergessen. Vergessen? - Goltz, bittrig, lachte auf. Da stand sein Instinkt auf dem Schreibtisch. Höhnisch begann er, ein Kobold, zu keckern. Doch war das er selbst. Ungefuggers DNS, die Probe – ach, deshalb war es, sein Unbewußtes, wieder darauf gekommen. Es gab keinen anderen Grund.
Goltz wischte den Kobold vom Tisch. Dem Griff zum Telefon stand er im Weg, wollte sich indessen halten, erwischte das Glas Pfefferminztee, kreischte, weil's ihm die Finger verbrühte, als das Glas kippelte, umfiel. Und sich ergoß: über die Dokumente, Kommunikationselektronik, Stifte, Karten. Alles ging viel zu schnell, als daß Goltz hätte eingreifen können. Was er auch nicht wollte. Denn die dampfende Teeflut riß den Kobold mit sich, der schrie und mit den Ärmchen fuchtelte, bevor er gegart war; sein Leichnam ging den Wasserfall ab, von der Schreibtischkante herunter zu Boden, und verpfützte. Dann gab es einen flachen, elektrischen Knall, ob von Goltzens Rechter, die, während er links schon den Hörer hielt, auf die Platte geschlagen hatte, ob im Computer, ob vom gesottenen Kobold.
„Verbinden Sie mich mit Beutlin...“
Er hatte den kurzen Satz kaum begonnen, längst wieder beherrscht, da löste sich von dem geschmorten Koboldkadaver ein Rauch, der spirrig und ungefähr aufstieg. Goltz registrierte das im Augenwinkel.
„...gesicherte Verbindung, ja... -“
Es ballte der Rauch sich im Raum.
„Und ist noch eine Putzkraft im Haus? Schicken Sie sie her.“
Die wolkenartige Ballung wurde Gesicht. Das schwebte dampfen und rötete sich, halb von Achäerblut verschmiert. Um besser sehen zu können, wischte es sich der Söldner mit dem Ärmel des Armes ab, an dessen Wurzel die Hand, die das Messer umschloß. Das zeigte aber nicht der Dampf. Sondern das war reale Erinnerung.
>>>> Argo 274
Argo 272 <<<<

albannikolaiherbst - Donnerstag, 12. April 2012, 19:13- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
Argo-TS 393.Jetzt stand die junge Ungefugger im Entrée, das sie in Tausende kleiner und kleiner werdende Michaelas zerspiegelte, denen allen im Rücken noch Schulzes Blick haftete, und kramte das Handy aus dem Beutel. Sie schaltete es aus und begab sich, unablässig nach einer schlüssigen Begründung suchend, den nächsten Flur entlang, der zum Séance-Sälchen führte. Sie ging, kann man sagen, mit gesenkter Stirn. Hatte nicht Jason, als sie sich neulich begegnet waren, eine Zeichnung von ihr angefertigt? Mit welchem Recht? Da hatte sie nun ihren Grund. Sie ließ sich nicht in Besitz nehmen, auch nicht symbolisch – schon gar nicht symbolisch! Freilich wäre es ihr besonders unrecht gewesen, hätte er das Bild einfach fortgeworfen; Aber das gestand sie sich nicht ein. Immerhin hatte er es zerknüllt.
Sie würde er zurückfordern, und zwar auf der Stelle. Was für eine Anmaßung! Sie tobte im Innern. Klein sollte dieser Bursche werden, zu Kreuze kriechen vor den Leuten. Wer war er denn, der Rüpel? Und wer dagegen sie, die Tochter des Unsterblichen! So daß sie, als sie vor der Tür des Saales stand, geradezu rauchte. Sie klopfte nicht, sie lauschte nicht. Sie öffnete einen der Türflügel und stand in dem Raum. Ein einziger Blick erfaßte die peinliche Bizarrerie.
„Gleißnerin, unerforschte, dem Meer gleich...“, rezitierte brüchig, weil mit und in ziemlich sehr gehobener Stimme und Stimmung eine ältere Dame in Schottenrock und blaßroten Nylons, die den Umstand nicht eigentlich verbargen, wieviel Wasser sie in Unter- und Oberschenkeln hatte; dummerweise stand es im Kopf aber auch, trotz des deklamierten Goethes. Der schüttete sogar noch nach: die Verse, die oben wie Luftblasen ankamen, stiegen torkelnd durch Beine Bauch Brust Hals hinauf und zerploppten an der mächtig bewegten Oberfläche dieses Rezitativs. Denn wie zum Gesang hatte die alte Frau den rechten Arm ausgestreckt. Noch war da aber oben Platz unter der Schädeldecke, sonst hätte sie Kopfschmerzen gekriegt. Indes nicht mehr viel. Weshalb sie die Störung begrüßen hätte müssen, die ihren Vortrag unterbrach.
Dazu genügte völlig, daß Michaela erschien; sie mußte gar nichts tun. Man kann aber sagen, ihr Mund habe offengestanden. Denn sie sah zu allererst die wasserrot verdickten Beine in den halbhohen Gesundheitsschuhen. Was daran lag, daß die Präsidentengattin vor den gläsernen Türflügeln, die auf eine balkonierte Terrasse führten, ein Podest hatte als Bühne errichten lassen, von der herunterrezitiert werden mußte. Man gelangte über ein helles Holztreppchen hinauf. Davor, also darunter, waren die Stühle gereiht, auf denen die lyrisch Begeisterten saßen. Wollten sie nicht nur lauschen, sondern auch sehen, mußten sie ihre Köpfe in die Nacken legen.
Frau Ungefugger hatte ein gutes, wenn auch simples Gefühl für repräsentative Architektur. Deshalb war, treu der innenar-chitektonischen Idee einer Konjunktion aus Türflügeln und Terrassentürflügeln, mittig ein Gang freigelassen, der zielte aufs Podest, hinter wiederum dem in den hohen Rahmen der Scheiben der Jura den Prospekt gab. Jetzt, weil der Abend die Berge fast zur Gänze weggedunkelt hatte, umrahmten die an den Seiten von Putten belebten Leisten ein Schwarz, das den Saal reflektierte. Dadurch erstand das Gefühl nun erst recht, in einem kleinen Theater zu sein. Zumal sah, wer sich nun reckte, sich selbst auch, zumindest den eigenen Kopf.
Langsam ging Michaelas Blick, als verfolgte er den Weg der hinauftorkelnden Luftblasenwörter, über die Wasserbeine zum Schottenrock hoch, der einen fettigen Schamberg zwang, sich bescheidener zu geben, als er in Schatten und Unterstand war des ihn überwölbenden, plisséegezierten Bauches. Unnatürlich jugendlich stand dagegen, in zwei Trichterkörbe korsettiert, der Busen, der noch den Goethen an sich drückte. Unterm aufgebauschten Kragen, um den sich eine vier- oder fünffach gewundene Korallenkette legte, führte ein abstrus geschwollener Hals in das versunkene Kinn. Über dem, sperrangelweit, das noch immer geöffnete Mundloch. Dunkelroter Lippenstift. Blitzig ein drittes und viertes Gezähnt. Das Haar über dem breiten, weichen, eigentlich traurigen, wenn nicht trauernden Gesicht war von einem mitleidslosen Friseur hochtoupiert, die Krone des Gelocks violetten erloschen.
Als sie, die alte Dame, Michaelas Blicke auf sich spürte, fiel ihr vor lauter Hilflosigkeit die Achillëis von der Brust, die ausgerechnet Hera an sich gedrückt. Gerade noch sprach sie „... das dich erzeugt hat!“, indessen bereits ohne Ton. Die Frau war dumm, doch sensibel. Wie diese, empfand sie, reine junge Frau mit ihrem Lachen kämpfte, vor dem geöffneten Türflügel stehend und hinter sich eine endlose Gangflucht zur Realität, machte ihr in Sekunden die eigene Groteske klar. Einen verächtlicheren Blick als den der jungen Ungefugger hatte sie in ihrem Leben noch nicht zu spüren bekommen. Daß er gerechtfertigt war, machte ihn schlimm. Gerechtfertigtheit ist durchaus nicht immer gerecht.
Sämtliche Gedichte, die auf den Séancen je gesprochen worden waren, selbst die, die sie selber vorgetragen, hatten nicht vermocht, die alte Dame Tragik erfahren zu lassen: daß sie auf Bühnen gar niemals vorkommt, und wenn man sich zwanzigmal bedeutungsheischend daraufstellt. Sondern alleine im Leben. Das unterdrückte, dennoch glucksende Lachen Michaela Ungefuggers, nun, brachte es ihr bei. Plötzlich waren sie eines, Bühne und Leben, und man selbst, elend geschwollen, steht da oben als hilfloses Objekt, das sich den anderen, die's aber gar nicht bemerken, vorführt. Doch, eine, unerwartet, tut's. Und nackt steht man vor ihr, frierend in all seiner Lächerlichkeit.
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albannikolaiherbst - Mittwoch, 11. April 2012, 09:48- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
Auch über Sexuelles hatte Ungefugger mit seiner Tochter gesprochen, der sich sehr wohl seiner heimlichen Besuche im Boudoir entsann. Er schämte sich ihrer bis heute. Zwar vor sich selbst, nicht vor den anderen. Doch daß es Zeugen gegeben hatte! Welch ein Glück das damals gewesen war, daß Elena ihm die Diskette zugespielt hatte. Die hatte er, gleich nach gewonnener Präsidentschaftswahl, aus dem Giftschrank der Siemens/Esa herausgeholt und wohlbewahrt in Stuttgart. Diese alten entsetzlichen Frauen! Übel wurde ihm davon, dachte er daran. Und wollte die Erfahrung dennoch nicht missen, daß es auch ihn von Zeit zu Zeit überkam. Weshalb er der Tochter wie seiner Frau gegen die Ranzzeit die Spritze empfahl.
Doch Michaela Gabriela war zu eigensinnig und zu stolz, wollte sich und den Körper bestimmen allein mit dem Willen. Deshalb aß sie nicht mehr seit fast einem Jahr, bzw. aß sie erschreckend wenig. Ihre Mutter, die das besorgt, wenn auch tumb registrierte, mischte ihr Sahne in den Magerjoghurt. Da wich die Tochter auf Nährstoffpillen aus, sie ließen sich sowieso besser dosieren. Daß ihr Körper kollidierte, wollte Michaela Ungefugger nicht. Ihr ging es im Gegenteil um energetische Präsenz und eine geistige Reinheit, in der schließlich der Sexualdrang verschwand. Sogar Michaelas Periode, sie hatte bei ihr mit zwölf eingesetzt, blieb nun von Zeit zu Zeit aus. Was sie als Glück empfand.
Nein, sie brauchte keine Spritzen. Zwar jeder Arm wie ein Bambus, doch sichtbar definiert die Muskeln daran. Ebenso die Beine. Ihr Gesäß war das eines jungen Mannes: sogar Buchten in den Backen, die sehnig spielten, wenn sie ging. Doch ihre Brüste mißhagten ihr. Sie hingen seit der Diät, da half auch striktes Training nicht. Die junge Ungefugger nahm ihre Brüste nicht als Organe wahr, sondern für Accessoirs, über die man als einen Schmuck verfügt. Man muß ihn nicht betonen, ja nicht einmal wirklich anlegen wollen, aber wird er einem entwendet, dann ist das schwer zu ertragen. Nicht zu akzeptieren ist es, dachte die Ungefugger und zog Erkundigungen über holomorfe Plastinate ein, wie ihr Vater eines, als Ohr, trug. Doch verfügte sie nicht über genügend Geld, um sie sich leisten zu können; ihr Vater hielt sie knapp. Und die Mutter, wußte sie, wäre dagegen. „Ernähr dich einfach richtig, Kind. Du hast einen schönen Körper. Gib ihm einfach, was er braucht.“ Aber mit der Mutter sprach sie sowieso kaum, indes sie den Vater, dem erotisches Aussehen völlig egal war, mit solchen Eitelkeiten nicht belästigen wollte.
Am unangenehmsten war, daß die Brüste, als sie so schlaff geworden, aus ihren Spitzen Sekrete abzusondern begannen, die Stilleinlagen nötig machten. Michaela ahnte durchaus, daß dieser Widerstand des Körpers ein Muttererbteil war. Sie nannte es den Saft: „Jetzt hab ich diesen Saft schon wieder!“ Stets vor dem Follikelsprung. Sie konnte den Kalender danach lesen. Einen halben Monat später rann das Blut. Argo-TS 387.
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albannikolaiherbst - Samstag, 7. April 2012, 18:30- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
Sie schliefen beinahe alle. Cordes und sein kleiner Junge in der Schönhauser Allee auf dem Hochbett, die Zeuner in ihrem Friedenauer Luxusgemach. Dr. Lerche in Potsdam, sogar Hans Deters war bei der SIEMENS/ESA, Wiesbaden, auf dem Stuhl eingeschlummert. Beutlin lag in dem kleinen Ruheraum, der gleich links vom Flur abging. Alleine Kignčrs wachte immer wieder stöhnend auf; er hatte Blutträume gehabt, abermals. Im Geäst der Insomnie schmetterte der Sittich. Anders als Goltzens KaliTräume, die auch lockten, war Kignčrs der Albdruck nichts als furchtbar. Saß aufrecht im Bett, rang nach Atem, die Augen noch geschlossen. Manchmal riß er sie auf und hielt sie gewaltsam offen, nicht selten mit zwei Fingern, je, bis ihm die Sukkuben aus den Wimpern fielen. Rinnsale Schweißes liefen ihm von den Schläfen.
Dieser harte Mann. Wie eine Metastase hockte der Ostkrieg in ihm drin und metastasierte. Überdies zehrte ihn die Trinkerei aus. Wie in allen, die den Wohltaten des Alkohols opfern, hatte sich dort, wo der Balkon war, auch Kignčrs hinter den Altar, der für ihn sein Schlaf war, eine in sein dauerndes Halbwach glühende Apsis gehöhlt. Hoch und dreischiffig, quasi, war sie, die Fenster aus fahlem, pergamenten wirkendem Glas in blassen, dennoch fieberigen Farben, fiebernden, voll der kunstvollen Martern, aber belebt, denn die Figuren bewegten bisweilen grausam den Arm. Ein Tod schwang die Sense, die er nur hob und verharrte, und rief man hinein, gab es kein Echo. Der Laut drang in die Poren der Bilder und blieb da. Ein Auge schloß sich und ging wieder auf, nun unentwegt den Mann bestarrend, der hin und her sich im Bett wälzte, den Sittich auf dem queren Holz des Kopfgestells. Da pochte der und pochte, bis es Morgen würde.
Wir können auf den nicht mehr warten, mühen uns auf. Und wirklich, die Apsis verschwindet. Nun ist da wieder nur Balkon und vor ihm karg das Zimmer, in dem wir schwankend suchen. Die Flasche auf dem Tisch war aber längst geleert. Zwei weitere Flaschen liegen ausgetrunken am Boden. So daß sich Kignčrs, da war es halb vier in der Frühe, auf die Straße flüchten mußte, aus der kleinen Wohnung hinaus das Treppenhaus hinab. Bevor ihm, hätte er sich zurück in sein Bett gelegt, erneut diese Apsis erschien.
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albannikolaiherbst - Mittwoch, 4. April 2012, 19:05- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
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Die Dynamik
hatte so etwas. Hab's öfter im Kopf abgespielt....
Bruno Lampe - 2018/01/17 21:27
albannikolaiherbst - 2018/01/17 09:45
Zwischenbemerkung (als Arbeitsjournal). ...
Freundin,
ich bin wieder von der Insel zurück, kam gestern abends an, die Wohnung war kalt, vor allem ... albannikolaiherbst - 2018/01/17 09:38
Sabinenliebe. (Auszug).
(...)
So beobachtete ich sie heimlich für mich. Zum Beispiel sehe ich sie noch heute an dem großen Braunschweiger ... Ritt auf dem Pegasos...
Der Ritt auf dem Pegasos ist nicht ganz ungefährlich,...
werneburg - 2018/01/17 08:24
Pegasoi@findeiss.
Den Pegasus zu reiten, bedeutet, dichterisch tätig...
albannikolaiherbst - 2018/01/17 07:50
Vom@Lampe Lastwagen fallen.
Eine ähnliche Begegnung hatte ich vor Jahren in...
albannikolaiherbst - 2018/01/17 07:43
findeiss - 2018/01/16 21:06
Pferde
In dieser Nacht träumte ich, dass ich über hügeliges Land ging, mit reifen, dunkelgrünen, im Wind raschelnden ... lies doch das noch mal
dann stimmt auch die zeitrechnung
http://alban nikolaiherbst.twoday.net/s tories/interview-mit-anady omene/
und...
Anna Häusler - 2018/01/14 23:38
lieber alban
sehr bewegend dein abschied von der löwin, der...
Anna Häusler - 2018/01/14 23:27
Bruno Lampe - 2018/01/11 19:30
III, 356 - Merkwürdige Begegnung
Seit einer Woche war die Wasserrechnung fällig und ich somit irgendwie gezwungen, doch noch das Postamt ... Bruno Lampe - 2018/01/07 20:34
III, 355 - … und der Gürtel des Orion
Epifania del Nostro Signore und Apertura Staordinario des einen Supermarkts - Coop. Seit dem ersten Januar ... Bruno Lampe - 2018/01/03 19:44
III, 354 - Neujahrsnacht e dintorni
Das Jahr begann mit einer unvorgesehenen Autofahrt bzw. mit der Gewißheit, mir am Vormittag Zigaretten ... albannikolaiherbst - 2018/01/03 15:16
Isola africana (1). Das Arbeitsjournal ...
[Mâconièrevilla Uno, Terrasse im Vormittagslicht
10.32 Uhr
Britten, Rhapsodie für Streichquartett]
Das ...
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Zuletzt aktualisiert am 2018/01/17 21:27
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