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FORTSETZUNGSROMAN
Ich wohne zur Untermiete. Mein Vermieter heißt Mielke. Er ist dicklich und rotwangig. Hat oft nervöse Flecken auf Stirn und Hals. Wirkt auch meist müde. Manchmal aber bekommt er Anfälle von zielloser Hektik. Dann kann er einem lästig werden. Sonst aber ist er harmlos. Jemand erzählt mal von irgendwas Schlimmem, das Mielke auf dem Kerbholz hat. Mir ist das schnuppe.
Klar ist, daß Mielke sich fürchtet. Er hat ein komisches Mißtrauen gegenüber Tieren, gegen Pflanzen sogar. Ganz besonders fürchtet er Stürme. Bisweilen hält er nach dem Mond Ausschau. Der scheint ihm Panik zu machen. Trotzdem ist er kein Irrer. Er ist eher ein Spießer. Manchmal ist er arg ordinär, dann wieder penibel. Außerdem hat er diesen schenkelklatschenden Humor.
Anfangs ist er unzugänglich, brummig, bisweilen sogar grob. Ich hab fast ein Jahr lang das Gefühl, daß er mir das Zimmer nur widerwillig vermietet hat. Doch macht er auch nicht den Eindruck, auf solche Zusatzeinkünfte angewiesen zu sein.
Eines Abends fragt er mich, ob ich nicht eine Partie Halma mit ihm spielen wolle. Ich bin so verdattert über das Angebot, daß ich drauf eingeh. Seitdem spielen wir jeden Montag bis in die frühe Nacht. Allerdings sprechen wir dabei kaum. Schließlich sitzen wir noch etwas beisammen. Spätestens um elf begibt er sich zu Bett. Plötzlich jedoch, Anfang Juni, wird er gesprächig. Erstaunt starr ich ihn an. Erst ist es nur wie ein Selbstgespräch. Er steht vom Tisch auf und setzt sich in einen Sessel. Plappert weiter. Nimmt die Zigarrenschatulle vom Schrank. Bietet mir an, aber ich rauche ja nicht. Er pafft. Er klöpfelt mit den Fingerknöcheln auf den Holzlehnen herum. Das ist sehr penetrant. Ich will schon gehn, da ruft er:
„Bleiben Sie, Herr Baumann, bleiben Sie noch ein Weilchen bei mir!“
Ich nehme bei ihm Platz, räuspere mich.
Er spricht jetzt deutlicher. „Ich - wie soll ich sagen? - habe mich sehr an Sie gewöhnt und bin Ihnen - nein, wehren Sie nicht ab!... bin Ihnen dankbar für Ihre Gesellschaft.“
Was will er von mir?
„Jetzt habe ich doch jemanden,“ fügt er obendrein bei, „der ein Auge wirft auf mich und sich gewissermaßen um mich kümmert. - Wir kennen uns jetzt doch schon lange, nicht wahr?, und Sie dringen niemals in mich, wenngleich ich... gewisse Absonderlichkeiten...“ Er schenkt mir ein, hüstelt abermals, verstummt, sieht mit blassem Ausdruck zum Fenster. „Es gibt, müssen Sie wissen, in meinem Leben Verhältnisse... Ver hängnisse, will ich einmal sagen, die es notwendig machen, mich zurückzuziehen und gänzlich zu verschließen.“ Er reibt ein Streichholz an. Zittrig hält er’s an die weißgraue Asche, pafft neue Glut. „Es ist nämlich an dem, daß ich etwas verwahre, vor dem man die Menschheit schützen muß,“ erklärt er.
Ich lache.
„Haben Sie jemals Spuren von Geisteskrankheit an mir bemerkt?“
„Ich bitte Sie!“
Neuerliches Räuspern. „Ich beobachte Sie jetzt über ein Jahr... beobachte Sie genau, dessen dürfen Sie versichert sein. Sie sind ein verantwortungsbewußter Mensch, und Ihnen darf man, glaube ich, unumschränkt vertrauen. Sie geben nicht viel auf Gerede, dessen,“ ein Keckern, „bezüglich meiner Person, ich weiß wohl, einiges umgeht.“
„Man quasselt viel.“
„Denken Sie bitte nicht, mir sei das unlieb. Ganz im Gegenteil. Sie dürfen mir glauben, daß Ursprung des kursierenden Unsinns ich selber bin. Ich muß mich verbergen. Doch der Dämon ist schlau. Er ist bereits in der Stadt. Ich bin mir absolut sicher. Es ist nur noch eine Frage der Zeit...“ Verstummt. Pafft. „Ich bin alt jetzt und habe ein Recht auf meine Ruhe, und selbst eine endgültige ist mir lieb. Aber ich muß Vorsorge treffen über mein Ableben hinaus.“
„Ich kapier nicht ganz.“
„Mögen Sie sich niemals fragen, weshalb einer wie ich einen Untermieter ins Haus nimmt? Lassen Sie uns offen reden! Mir ist vollkommen klar, daß Sie sich Gedanken machen über mich. Sie werden ahnen, daß es mir nicht um Mieteinnahmen geht. Nur: Dieser gewisse Anstrich von Primitivität, den ich mir gebe... meine ziemlich...“, er stockt, „...wenn ich einmal so sagen darf: - spießige Isolation... - Ich muß etwas ausholen. Tut mir leid. - Von Haus aus bin ich Archäologe. Ägypto- und Semitologe, um genau zu sein. Und eines Tages, ich bin, glaube ich, gerade dreißig, besucht mich ein überaus witziger Irani, bis in die Fingerspitzen gebildet, indessen nicht ohne habituellen Spleen. Er stellt sich mir in irritierend altertümlichem Englisch, das zudem das mittelöstliche Idiom verzerrt, als Professor Djahangir Hazegnehad vor. Kaum in mein Arbeitszimmer gebeten, kommt er auf mich zugezappelt. Denn seine Extremitäten sind in fortwährend asynchroner Bewegung, als fehlte ihnen ein steuerndes Zentrum. Rücksichtslos wirft er seinen gesteppten Mantel über meinen Schreibtisch. ‘Welch ein Glück,’ ruft er, ‘daß ich Ihnen endlich, endlich begegne!’ Er rümpft die Nase und wirft die Oberlippe auf, so daß man seine langen, nagetierartigen Vorderzähne sehen kann. Möglicherweise ist das als Ausdruck wirklicher Freude gemeint, wirkt indessen gehässig auf mich, und Sie dürfen mir glauben, Herr Baumann, daß ich mich auch später nicht daran gewöhne. Seine mimischen Gestikulationen legen alle meine physiognomischen Vorurteile frei. Er läßt sich auf die Couch fallen, und nicht etwa, daß er darauf sitzen würde, nein, er liegt und baumelt über der Lehne mit den Beinchen. Dazu steckt er einen Zigarillo an. Ich bin derart perplex, daß mir zu protestieren gar nicht erst einkommt. Das scheint ihn zu amüsieren. Er macht einen damals üblichen Ägyptologenwitz in frühem Kanaanitisch und eröffnet mir, mit allergrößtem Interesse jede meiner Publikationen nicht zu lesen, nein zu trinken. Nun aber, durch meinen, ich müsse zugeben: ausgesprochen theologischen Aufsatz im Archäologischen Monatsspektrum, sei ihm schlagartig klar, ich sei der Mann, den er brauche. Er nehme mich also in Dienst. So seine Worte. Ich möge meinen Verpflichtungen kündigen, fristlos, bitte sehr, für Konventionalstrafen stehe er ein. Der Vertragsentwurf sei vorgefertigt. Er zieht ein Papier aus dem Jackett. Ich frage, worum es überhaupt gehe. - ‘Wir reisen übermorgen nach Schottland,’ antwortet er. ‘Hier sind die Tickets. Eine Expedition.’ - Nun müssen Sie wissen, Herr Baumann, daß meine damaligen Verpflichtungen, deren Existenz er offensichtlich voraussetzt, so groß durchaus nicht sind. Ich halte mich mit gelegentlichen popularwissenschaftlichen Publikationen leidlich über Wasser. Deshalb rennt der Irani eigentlich offene Türen ein. Was ein Ägyptologe allerdings in Großbritannien finden will, ist mir ein Rätsel. Da ich dies einwende, lacht er und legt mir, anstelle einer Antwort, einen Packen Geldnoten auf den Tisch. Mutwillig, in boshaftem Triumph - ganz recht, Herr Baummann! -, in boshaftem Triumph verkündet er zu wissen, wo sich die Handschrift Abdhul al Azreds verwahre. - Sie müssen zugeben, daß das entschieden stark ist.“
„Abdhul..?“ - Ich habe nicht den leisesten Schimmer, wovon er spricht.
„O verzeihen Sie. Azred also. Eine Legende. Er soll im 8. Jahrhundert leben. Nur literarische Quellen bezeugen seine Existenz. - Sagt Ihnen Cthullu etwas?“
„Nö.“
„Ein Dunkelgott, dessen Walten Azred eben in diesem Buch behauptet. Die Handschrift enthält zudem detaillierte Auskunft über Bebet el Jjn, die irgendwo im Zweiströmeland unterirdisch gelegene Dämonenstadt, worin man der Weltherrschaft harrt.“
„Ach du liebe Güte!“
„Eine Art Kloster wahrscheinlich. Schliemann schon sucht vergeblich danach. Insofern kommt mir das Ansinnen Hazegnehads ziemlich bizarr vor. Andererseits... Gäbe es, denke ich, nun doch einen handfesten Hinweis, es wäre phänomenal! Stellen Sie sich vor, was ein solcher Fund für die Karriere eines jungen Wissenschaftlers bedeutet! Man hört und liest ja vielerlei Verrücktes, das man dafür auch hält; insgeheim indessen lockt es einen doch. Es ist aber nicht dies Allgemeine, was mich schließlich motiviert, den Vertrag zu unterschreiben, sondern Hazegnehad macht sogar in Einzelheiten einen derart informierten Eindruck, daß er mich nach kaum einer Stunde fast überzeugt. - Das Buch, um das es geht, wird offenbar zwischen 730 und 738 nach Christus geschrieben, und zwar als Bericht einer Reise, die Abdhul al Azred von Jemen zu den Ruinen von Babylon und von dort in die vorgebliche Geisterstadt führt, worin er drei Jahre zubringt. Hazegnehad behauptet, Azred verfasse das Buch gar nicht selbst, sondern nehme frühere, weit vor die Zeitenwende ins oberägyptische Per-Besket rückreichende Überlieferungen an sich, die er lediglich ergänze. Zu großen Teilen nämlich seien sie nicht in arabischem Dialekt geschrieben, sondern Hieroglyphen füllten die Seiten. - ‘Aber Professor!’ rufe ich. ‘Sie wollen doch nicht allen Ernstes behaupten, das Ding existiert?’ - ‘Nicht weniger als Sie selbst. Es ist wahrscheinlich der längste zusammenhängende ägyptische Text, den es überhaupt gibt.’ - ‘Weshalb hört man dann nie etwas davon? Warum publizieren Sie niemals darüber?’ - ‘Ach was!’ Er springt auf, zappelt energisch an mich heran, zieht mich mit einer für ihn erstaunlichen Kraft am Jackettaufschlag zu sich hinab. ‘Ich will es für mich behalten. Sollen etwa profane Leute Einsicht nehmen dürfen?! O nein, nein! Und außerdem...’ Er verstummt mit pfiffig-spitzigem Ausdruck. *Außerdem ist es mir wieder weggenommen.’ - ‘Von wem?’ - ‘den Mönchen.’ - ‘Mönche?’ - ‘Hören Sie, es ist so: Ich finde die Handschrift in einer Kapelle bei Glen Tromie.’ - ‘In Schottland?’ - Er nickt. ‘Jahrelang, glauben Sie mir, verfolge ich die Spur, gehe sämtlichen Indizien nach, bis ins 17. Jahrhundert zu Robert Blake. - Dessen Namen kennen Sie wohl?’- ‘Bedaure.’ - ‘Einer der mächtigsten Scharfmacher der Inquisitionszeit. Ursprünglich einfacher Mann, Fleischhauerssohn. Aber von geradezu wunderbarer Brutalität und denunziatorischem Genie. Aus politischen Gründen protegieren ihn die Presbyterianer. Er verlegt sich auf die Inquisition. Zwar überspringt sie England. Aber in Schottland faßt sie Fuß, und nicht zuletzt durch ihn. Virtuos handhabt er sie. Dann aber, nach Cromwells Sieg, muß der kluge Mann fliehen. Jedenfalls verschwindet er aus den Annalen. - Doch ich, mein Herr, kenne die wirklichen Begebnisse. Tatsächlich nämlich gründet Blake einen Geheimorden, der bis heute machtvoll existiert und sich jeweils aus wenigen, handverlesenen Männern rekrutiert. Gegenwärtig findet er besonders in den USA Zulauf und stellt dort mittelbar viele Funktionäre des öffentlichen Lebens.’ Er lächelt. ‘Sein Zentrum ist allerdings wie je eine halbverfallene, unscheinbare Kapelle bei Glen Tromie. Dort, öffentlich zugänglich, verbirgt sich das Heiligtum der Sekte’ - ‘Azreds Buch?’ - ‘Sehr richtig. Ich decke dies alles auf aus sagen wir: logistischen Gründen und...’, er zuckt wie beschämt mit den Schultern, ‘muß es entwenden. Stellen Sie sich vor! Ich komme an, niemand ist da, den ich bitten kann, mir Einsicht zu gewähren... nein, das Buch liegt ganz offen da, der Zeit, dem Verfall anheimgegeben... Da bleibt einem, mein Freund, doch gar keine Wahl!’ - ‘Und weshalb besitzen Sie das Buch nicht mehr?’ - ‘Ach, Herr Doktor!’, ruft er. ‘Man jagt es mir wieder ab!’ - ‘Wer?’ - ‘Die Mönche. Eines Morgens ist es weg. Eine Fensterscheibe entzweigeschlagen, ein Einbruch.’ - ‘Nun gut, aber wozu brauchen Sie mich bei alledem?’ - ‘Sehen Sie mich an! Ich bin klapprig über die Jahre und verstehe mich gesundheitlich nicht mehr auf Abenteuer. Es ist eine ziemliche Kraxelei dorthin. Andererseits kann ich ja nicht jemandem X-beliebiges vertrauen. Ganz und gar unmöglich. Ich brauche wen, der wenigstens so interessiert an dem... dem Buch ist wie ich selbst. - Denken Sie an die Wissenschaften, mein Freund!’ - ‘Ich soll es für Sie stehlen? Ich bitte Sie!’ - ‘Aber was denn?! Wer hat denn etwas davon, wenn die Schrift unter den Händen solcher... Irren - denn es sind Irre, glauben Sie mir! -, ... wenn es verstaubt, verfällt und gänzlich ungelesen, unentziffert bleibt?! Das, mein Herr, ist das Verbrechen!‘- Vielleicht, Herr Baumann, können Sie verstehen, daß alledies mich doch zu reizen beginnt, wenn auch - ich gebe es zu -die Geschichte, die mir Hazegnehad auftischen will, an allen Ecken und Kanten klappert. Ginge es auch nur darum, ich lehnte vielleicht sogar ab, aber das Honorar, das Hazegnehad bietet, ist fürstlich!“
„Sie begleiten ihn also nach Schottland?“
Mielke nickt.
„Und finden Sie das Buch?“
[Wird morgen fortgesetzt.]
albannikolaiherbst - Donnerstag, 27. Dezember 2007, 16:38- Rubrik: FORTSETZUNGSROMAN
2. Fortsetzung. Von >>>> hier:
„Sie begleiten ihn also nach Schottland?“
Mielke nickt.
„Und finden Sie das Buch?“Er pafft. Er hüstelt. „Alles ist anders, als Sie denken. Von einem Orden nämlich gibt es keine Spur. Hazegnehad führt mich auf ein sumpfiges Hochland, winddurchjagt. Nur selten und versteckt kauern Gehöfte darin und Baracken, die Schäfern zum Unterstand dienen. Obendrein ist Hazegnehad kein angenehmer Reisegefährte. Nicht daß er mich irgendwie bedrängte oder belästigte, nein, meist läßt er sich gar nicht sehen, setzt mich gewissermaßen in den Gasthäusern ab und... ja, verschwindet oft für Stunden, wenn er mir aber Gesellschaft leistet, dann... wie soll ich sagen? Er strahlt etwas Widerwärtiges aus. Allein seine Gegenwart macht aggressiv, die Art, wie er spricht, sich bewegt, wie er zu Zeiten die Unterlippe und sogar die Oberlippe schürzt. Das ist ganz widerlich! Dieses schmatzende Geräusch, das seine Wangen einsaugt und losläßt... all dies... Und doch gibt er sich Mühe, mich bei Laune zu halten. Seine Bildung geht in der Tat über jedes Maß. Er hat eine Art, von Cheops zu sprechen, so bildhaft wie erschreckend, daß man den Eindruck gewinnen muß, er kenne den Pharao von Angesicht. Zugleich ist Hazegnehad begabt in allerlei mystisch-symbolischen Spekulationen, zum Beispiel wenn er von der Großen Pyramide spricht. Sie wissen vielleicht, daß sie herausfällt aus dem Grundriß der andren, weil ihre vier Seitendreiecke nicht eben, sondern in der Mittellinie nach innen geknickt sind?“
„Nein, wußt’ ich nicht.“
„Hazegnehad glaubt, dieser Knick diene einer Lichtöffnung, die den Weltenbrand auslöst, ganz ähnlich wie das Gangsystem dem Polsprung Vorschub leistet, der Bedingung jeder Sintflut sei.“
„Was soll um Gotteswillen ein Polsprung sein?“
„Das Buch verzeichnet die Theorie, es kehre sich aufgrund eines Gleitens der Erdkruste über den Erdkern die irdische Magnetpolung um. Tatsächlich können Bohrungen heute anhand des Gesteinsschmelzflusses zeigen, daß dergleichen im Lauf der Jahrtausende vorkommt. Erst schwächt sich die Feldstärke des irdischen Magnetfeldes ab, allmählich und bis auf 10 %, dann beginnt der Pol wild zu pendeln und wandert in einem zitterigen Kreis um die Nordregion. Und schließlich, mit einem heftigen Ruck, kippt er in die umgekehrte Richtung. Nun baut sich das Magnetfeld wieder auf. Dies sei im Gangsystem der Cheopspyramide dargestellt.“
„Das klingt arg verrückt.“
„Soweit sich Feinschichten mit magnetischen Kristallen datieren lassen, dauert ein solcher Vorgang eintausend bis viertausend Jahre. Daß der Ruck nicht ohne Katastrophe abgeht, können Sie sich vorstellen.“
„Hm.“
„Wir sitzen im Frühstückszimmer eines Edinburgher Hotels, als Hazegnehad mir davon und anderes Seltsame erzählt. Stets tut er es witzelnd und doch - oder deshalb - sehr zwingend. Das bündelt meine Einbildungskraft auf einen ganz bestimmten Punkt. Ich habe das Gefühl, je weiter ich mich einlasse, desto weniger komme ich ihm noch aus. Draußen schüttet es Wassereimer, es ist kalt, ein heftiger Wind geht und peitscht Zweige ans Fenster. Übrigens... wenn ich sage, wir frühstücken, so tue das nur ich, - ihn sehe ich niemals irgend eine Nahrung zu sich nehmen. Er trinkt allerdings. Aber lediglich Wasser... pures Wasser, erwärmtes Wasser, mehr nicht.“
„Und dann?“
„Gut, wir reisen in den Norden, nach Glen Tromie. Ich sagte schon: ein ödes Land. Ich habe den Eindruck, er kenne das Gebiet genau, und stets weiß er, wo man welches Gefährt nehmen kann und wo in welche Abzweigung zu biegen. Unsere vorletzte Station ist ein Dorf, in dem es kein Wirtshaus gibt; wir kommen bei einem Bauern unter, der sich ziemlich gut bezahlen läßt dafür. Am nächsten Morgen brechen wir zu Fuß auf, um jene Kapelle zu erreichen, von der mein Führer so oft, wenn auch in letzter Zeit immer seltener spricht. Es ist ein mühseliger, gewiß vier Stunden währender Marsch, quer durch aufgeweichtes, morastiges, von wadenhohem zähem Gesträuch bewachsenes Land. Endlich erreichen wir unser Ziel. Oder noch nicht ganz. Doch hier beginnt nun mein Verhängnis. - Jetzt lächeln Sie wieder..! Das ist beleidigend für mich!“
„Verzeihung.“
„Wir langen bei einer Hügelkette an. Unversehens gibt es Birken, bisweilen Pappeln; und wäre nicht der Himmel wolkenverhangen, der Prospekt könnte sogar lieblich sein. Indessen backt einem schwerer Schlamm an den Stiefeln. - ‘Ich fürchte,’ sagt Hazegnehad, den plötzlich kurzer Atem quält, ‘Sie müssen allein weitergehen. Verzeihen Sie, es übersteigt meine Kraft. Außerdem möchte ich nicht gern, daß man mich erkennt.’ - ‘Wer soll Sie hier erkennen?!’ - ‘Aber der Wächter doch!’ ruft er da. ‘Sie bemerken ihn nicht, ich aber... ich rieche ihn schon!’ - Er beschreibt mir den Weg. Keine zehn Minuten von hier befinde sich die gesuchte Kapelle. Ich könne sie gar nicht verfehlen.“
„Sie erreichen sie?“
Er lacht klamm. „Gewiß. Aber stellen Sie sich vor, Sie schlagen sich durchs Unterholz, geraten an eine Lichtung, erwarten eine Kirche oder so etwas, aber alles, was Sie sehen, ist ein Megalithgrab... Hünengrab, Sie wissen schon. Und trotzdem, Sie wissen sofort, Sie spüren es: Sie sind am Ziel. Von Menschen, geschweige Wächtern freilich keine Spur. Alles einsam, wie unberührt. Vorsichtig schreite ich näher, bleibe mehrmals stehen, lausche. Amselgezänk, eine Rohrdommel mal. Ich bücke mich und zwänge mich unter dem Einstiegsquader ins Innere. Normalerweise ist in solchen Gräbern nicht viel Raum, aber in diesem gibt es zwischen den riesigen Steinen einen recht weiten Platz. Um eine Feuerstelle liegen Abfälle herum, Servietten, Papierbecher, auch verschimmelte Reste einer Mahlzeit, auf denen wimmeln Insekten. In einer Ecke zwei Rucksäcke, Schlafsäcke, ein verschnürtes Zelt. All dies sieht nach sehr überstürztem Aufbruch von Campern aus. Ich verlasse den Bau, schaue mich um, rufe auch ein paarmal ein zögerndes Hallo?, umschreite das Hünengrab, betrete es, mich duckend, erneut. Sollte ich in den zurückgelassenen Sachen nachschauen? Vielleicht läßt sich herausfinden, wer die Camper sind. Möglicherweise verbirgt sich ein Unglück, und man muß Hilfe holen. Wie ich nun die Gepäcksachen aus der Ecke ziehe, öffne ich dahinter eine Vertiefung, in die sie gedrückt sind, und wieder dahinter liegen die Steine nur locker aufeinander. Es zieht von daher. Man kann sie ohne Schwierigkeit beiseiteräumen. Ich lege eine Art Eingang frei, der sich umstandslos passieren läßt, wenngleich, Herr Baumann, dieses eigenwillige, dräuende Gefühl, will ich einmal sagen, nun ganz besonders heftig wird. Zudem schlägt einem ein unseliger Geruch entgegen. Ich kann nicht sagen, wonach es eigentlich riecht. Es ist ein dumpfer, süßer Geruch, der etwas Moderiges hat und an Kanalisationsanlagen erinnert. Vermutlich bin ich der erste Mensch, der dieses Verließ betritt. Ach welch ein Irrtum! Ich bin nicht abergläubisch. Und doch. Hünengrab spielt ja nicht von ungefähr auf Hügelgrab an. Und das Hügelvolk, Herr Baumann, ist wesentliches Element gerade schottischer Legenden: Die Untertage lebenden Schwarzalben, fir sìdhe - sid heißt in Lappland Totenheim -, sind direkte Verwandte unserer Nibelungen. Die Wilde Jagd, die Tuatha de Dannan. Zerstören nicht die Christen die von ihnen Teufelsbetten genannten Hünengräber eben deshalb so wütend, weil man in ihnen Thule fürchtet? All dies Zeugs spukt schlagartig durch meinen Kopf, und ich gewärtige, jeden Moment aus dem Hinterhalt angefallen und niedergerissen zu werden. - Aber nichts dergleichen,“ er lächelt, „geschieht. Natürlich nicht. Statt dessen..“ Er schweigt erregt, wie um sich zu fassen.
„Ja und?“
„Ich rutsche aus, schlage auf und verliere die Besinnung. Jedenfalls habe ich den Eindruck, aber habe ihn bei vollem Bewußtsein. An einem Steinvorsprung halte ich mich, gehe zwar in die Knie, schütze aber meinen Kopf, und als ich wieder hochkomme, hat sich die Höhle zur Gänze verwandelt.“
„Verwandelt?“
„Verwandelt. Und zwar, indem sie sich erschreckend gleichbleibt. Ich weiß, das klingt verrückt, aber sehen Sie: Es müßte eigentlich stockdunkel sein hier drinnen; tatsächlich jedoch kann ich sehen, an den Wänden sogar Gravuren erkennen, deren es zahllose gibt, eingetuscht, eingeritzt, schwarzgrau, mitunter ziseliert, Ornamente in feiner mathematischer Harmonie, Symbole, Zahlen, Zahlen und wiederum Zahlen, - und kein Zweifel, daß diese künstlerisch-magischen Spuren nicht megalithischen Ursprungs, sondern erst sehr viel später entstanden sind, wahrscheinlich im Mittelalter irgendwann. Es kreuzen sich hebräische, christliche und islamische Symbole, verschränken sich, will ich einmal sagen, in eine ungute und irgendwie schiefe Geometrie. Der Polytheismus läßt, Herr Baumann, die Antimaterie nicht zu, der Monotheismus erzwingt sie. Nun erleide ich den Eindruck dieser Schiefheit aber nicht nur wegen der Wandmalereien, sondern das gesamte Gewölbe hängt geradezu nichteuklidisch im Raum, will sagen: Es gibt keinerlei Verlaß. Jeder Schritt, den man noch so vorsichtig setzt, kann unmittelbar in die Rutsche geraten, wie wenn Sie aufgrund von Spiegelillusionen vor Wänden zurückschrecken, die es nicht gibt, gegen andere aber, die Sie nicht sehen, prallen Sie. Plötzlich steigt man auf einer unsichtbaren Rampe diagonal in die Höhe, was ebenso unerwartet abbricht, so daß Sie stürzen. Und das Licht, Herr Baumann! Vermögen Sie sich unter schwarzem Leuchten etwas vorzustellen? Alles ist wie umgestülpt: Die Gegenstände beleuchten das Licht in all seiner Schwärze. Man durchschreitet Materielles und verfängt sich wie in Altweibersommer in Photonenströmen. Vorn, keine fünf Meter entfernt, gibt es einen rohen hüfthohen Steinquader, dessen genarbte Oberfläche mit einer dünnen, fasrigen, teils zerfressenen, ihrerseits dunkel verfleckten Haut überzogen ist. Daneben, kopfhoch, steht ein Holzrahmen, wie er Kürschnern zum Aufspannen von Tierfellen dient. Und tatsächlich spannt dünn etwas darin. Es ist zweifelsfrei die Haut eines Mannes. Schlaff hängt noch das Geschlechtsteil daran. Auf einem Baumstumpf liegt, in Zwingen gepreßt, ein Buch in Quartformat, Leimtöpfe und anderes Buchbindermateriel daneben; außerdem eine Schublehre, erstaunlicherweise ein ausgesprochen modernes Präzisionsinstrument. Ferner gibt es Formalinbehälter, große bauchige, kniehohe Flaschen neben zwei Plastikwannen. Ich erkenne Futterale für chirurgisches Besteck, Retorten, Tätowiernadeln, Farben. Das Inventar nimmt zu, ja ist das Gewölbe anfangs, als ich die Augen nach meinem ziemlich schmerzhaften Aufschlagen wieder öffne, vollkommen leer, so projiziert meine Wahrnehmung nun immer mehr Gerätschaften hinein, figuriert sich ein inflatorisch fantastischer werdendes Ensemble, von dem ich doch zugleich überzeugt und vollen Wissens bin, es seien nur Requisiten meines Albdrucks. Ich schreie auf. Da bleiben lediglich Steinblock und Kürschnerrahmen stehen. Ich fasse vorsichtig die seidendünn gegerbte Haut. Sie knistert elektrostatisch und zersetzt sich dabei, wie wenn die Wärme meines Fingerdrucks durch Eisblumen strömte. Aber ich bleibe ja stehen, wo ich bin, bewege mich keineswegs, denn das Erstaunliche, Herr Baumann, ist, daß ich ohne mich gehe, als hätte sich meine Wahrnehmung von mir gelöst, ich will einmal sagen: Meine Physiologie wird ferngesteuert. Und wie jemand quer durch Programme schaltet, in denen er Spielfigur ist, tauchen unversehens neue und aberneue Illusionen auf. Mal sind es Stühle, zehn, zwanzig, hunderte von Stühlen, durcheinandergerückt und aufeinandergestapelt, dann wieder Krüge, Glasvitrinen, Kaffeemaschinen sogar; manchmal, wenn auch nur für Sekunden, sieht es aus, als stünde ich mitten in einem Warenhaus, dann wieder, als schaltete einer das Licht aus und knipste ein nächstes an, kann ich mich an einen Glastisch setzen, um gleich darauf, weil der Boden in Schräglage schwingt, tieferzurutschen, abermals aufzuprallen, mich umzuschauen, Funkgeräte auszumachen, Generalstabskarten, Zirkel, Gewehre, Helme, Radaranlagen.“
Mielke verstummt. Ich sehe zur Uhr. Es geht bereits gegen eins. „Und weiter?“
[Wird abermals morgen fortgesetzt.]
albannikolaiherbst - Donnerstag, 27. Dezember 2007, 16:37- Rubrik: FORTSETZUNGSROMAN
[3. Fortsetzung. Von >>>> hier:
Mielke verstummt. Ich sehe zur Uhr. Es geht bereits gegen eins. „Und weiter?“]
„Keinen Moment,“ sagt er, „bin ich bereit, was ich sehe, für Naturalität zu halten. Ich kapiere jedoch nicht, was solche Halluzinationen begründet. Deshalb verlege ich mich, während ich träume, auf die Interpretation, es sei ein Traum. Meine Imago strudelt vor sich hin, bis die Wirbel plötzlich kontraktieren. Es folgt ihr Kollaps, und erschöpft komme ich aus meiner Ohnmacht zur Besinnung. - Ich liege tatsächlich am Boden, huste in Staub, richte mich auf. Jetzt ist es so dunkel, wie es sich, will ich einmal sagen, gehört. Ich trage ein Feuerzeug bei mir, damit leuchte ich um mich. Das Funzellicht gestattet einen nur verschwommenen Eindruck des Ortes. Tatsächlich steht ein Opferstein da. Ich weiß sofort, um was es sich handelt. Auch den Kürschnerrahmen gibt es, indessen ist er leer. Ansonsten ist hier drinnen nichts. Glaube ich jedenfalls erst. Dann ein Geräusch. Ein erschöpftes Seufzen. ‘Ist hier jemand?’ frage ich. Wiederum das Seufzen. Es bricht, wimmert. Ich taste mich heran, finde zwei junge Menschen. Das werden die beiden Camper sein. Wie Krempel sind sie in eine Ecke geworfen, ein Mädchen, ein Jungen, beide höchstens siebzehnjährig. Nur noch das Mädchen lebt. ‘Töten Sie mich,’ bittet sie. ‘So töten Sie mich doch.’ Die Leiber zusammengekrümmt, Arme und Beine mehrfach gebrochen. Am entsetzlichsten jedoch, daß der Junge abgehäutet ist. Blutig, haarig, verschmiert liegt die Haut neben dem blühenden Fleischkadaver. Ich würge. - ‘Töten Sie mich!’ Die Stimme verstummt. Ich schnappe das Feuerzeug zu. Ach, Herr Baumann, was bin ich feige! Und anstatt dem Geschöpf den Gnadenstoß zu geben oder wenigstens doch hinauszurennen und nach Hilfe zu rufen, bleib ich starr. Und außerdem... da ist so etwas... etwas wie Neugier. Verstehen Sie recht: Mir kommt das Grauen als irgendwie in Ordnung vor, - in einer fremden, widerwärtigen, aber doch harmonischen Ordnung, und dem Gefühl, was hier geschieht, gehöre sich so, läßt sich nicht widerstehen. Wer bin ich, den Gang solcher Dinge zu ändern?! Es ist das Ritual einer andren Kultur, dessen Zeuge ich bin. Und wenn sie mich auch ekelt, so habe ich doch kein Recht, ihr den Prozeß zu machen.“ Er sieht auf, weinerlich: „Halten Sie mich jetzt für verworfen?“
Ich antworte nicht. Er will auch keine Antwort hören.
„Ich bin... unvoreingenommener Beobachter, wenn Sie so wollen, bin Experimentator, ein...“, er kichert, „Tierversucher. Das trifft es. Sowie ich zu dieser Interpretation gefunden habe, ist es auch gar nicht mehr schwer, meinen Ekel zu fassen und das Feuerzeug abermals anzuschnipsen. Ich lasse die Menschenbündel beiseite liegen, widerstehe indes dem unvermittelt in mir keimenden Impuls, die Haut des Jungen auf den Rahmen zu spannen. Sie dürfen mir glauben, Herr Baumann, daß dies wirklich eine Leistung ist. Sie erfüllt mich noch heute mit Stolz. Denn der Vorstellung, dergleichen zu tun, inhäriert ein ich möchte einmal sagen: durchweg erotischer Reiz. Es hat etwas Konvulsivisches, Dionysisches, eine glattweg göttliche Erhebung, so etwas... so etwas zu tun und sich derart aus allem, was man darf, ja was auch nur zu denken und sich vorzustellen erlaubt ist, herauszuheben. Doch, wie gesagt, ich widerstehe dem. - Übrigens: Nur daß ich das vermag, begründet wahrscheinlich, daß ich noch lebe und den Dämon wenigstens vorübergehend zu bezwingen weiß. Denn eines ist mir bewußt: Mit alledem, was mir begegnet, steht er in Kontakt. Er weiß, was hier geschieht. Und dann kommt er sogar selbst.“
„Wer kommt?“
„Nein nein!, er ist schon da. Er ist alle Zeit über hier. ‘So tun Sie es doch’, sagt er. Ich sehe ihn nicht, aber höre seine Fistelstimme. ‘Helfen Sie mir mit dem Einband. Es wird höchste Zeit.’ - Ich bin durchaus nicht erschreckt und drehe mich ihr zu. Hazegnehad trägt noch sein Cape und auf dem Kopf die Schiebermütze. Er schaltet eine batteriebetriebene Höhlenlampe ein, stellt sie auf den Altar. ‘Ich brauche einen gebildeten Assistenten.’ Er streift die Mütze ab, schlüpft aus dem Cape, hängt beides über in die Wand geschlagene Haken. ‘Nun helfen Sie schon, sonst taugt das da zu nichts mehr.’ - Ich starre ihn an. ‘Wer sind Sie?’ frage ich. - ‘Blake’, sagt er und schürzt die Oberlippe. Das gibt seinem Gesicht einen zugleich komischen wie feierlichen Ausdruck. Ich bin sprachlos. Er ergänzt: ‘Und auch al Azred nennt man mich. Und Anposenhotep. Oder Anubis-Sachme, - dies allerdings vor meiner Geburt, denn daß ich Araber bin, eigentlich, schließt den Ägypter aus. Man gibt mir den alten Namen erst in Chtullhu.’ Er bückt sich, zieht aus einem Regal zwei Kittel, wirft mir einen davon zu. ‘Wir müssen uns jetzt wirklich beeilen, sonst verdirbt uns die hübsche Haut. Das Buch braucht einen neuen Einband. Und ich brauch einen neuen Körper. Merken Sie nicht, wie abgenutzt meine Gelenke sind? Ach, Sie ahnen ja nicht, wie ich auf meine Erneuerung warte! - Sie werden mir doch Ihren Körper zur Verfügung stellen?’ - Für einen Moment nur erstarre ich. - ‘Das Buch ist genügsam, aber irgendwann fordert auch seine astrale Mechanik ihr Recht. - Reichen Sie die Haut herüber! Und seien Sie doch so gut und bringen endlich das Mädel zum Schweigen. Es ist sowieso keine Seele mehr drin.’ Und auf meinen irritierten Blick: 'Ich trinke sie aus und stoße ein Surrogat hinein. So erhalten sich die Leiber länger. Es ist, als entzöge man Pflanzen ihr Chlorophyll und ersetzte es durch Formalin, - nur daß eben die Haut ziemlich spröd wird mit der Zeit, weshalb wir uns jetzt wirklich,’ er hebt die Stimme, ‘ wirklich wirklich sputen müssen!’ - ‘Was muß ich tun?’ frage ich, aber Sie können mir glauben, Herr Baumann, daß ich längst nur noch weglaufen will. - ‘Zuerst einmal,’ erklärt er in sachlichem Ton, ‘häuten wir auch das Mädchen, dann binden wir das arme Buch, und schließlich bringen Sie mich um. - Nein, nein, sein Sie nicht so entsetzt, Sie opfern nur meinen Leib. Ich selbst werde, wenn die Hülle abgestoßen ist, in Sie übergehen. Wir werden dann, glauben Sie mir, viel Freude haben aneinander.’“ Mielke atmet schnell und wird geradezu im Wortsinn kleiner, so sehr versinkt er im Sessel.
„Ihre Situation scheint mir immerhin einigermaßen aussichtslos zu sein.“ Ich benutze ganz bewußt den ironischen Ton.
„Aussichtslos?“ Er schüttelt langsam den Kopf. „Ist es nicht offensichtlich, daß er mich braucht und nicht ich ihn? Zudem scheint er auf mein freies Zutun angewiesen zu sein. Seine Macht ist also nicht unbegrenzt und wohl allenfalls hypnotischen Charakters. Und wenn er, will er zu seinem Ziel gelangen, das Buch neu binden und dann sich von mir töten lassen muß, um in mich schlüpfen zu können, dann muß ich mich ja dem bloß verweigern. Verstehen Sie?“
„Na ja.“
„‘Warum gehst du nicht einfach? frage ich mich. Warum drehst du dich nicht kurzerhand um und verläßt diese Höhle?’ - Die Vorstellung, das zu tun, ernüchtert mich über alle Maßen. Hazegnehad spürt das sofort. Er flüstert etwas, das nach einem Fluch klingt. Und... quiekt, ja: quiekt. - Dann geht alles überaus schnell.“ Mielke zerdrückt den Zigarrenstummel im Aschenbecher. „Urplötzlich nämlich greift er mich an. Schießt auf mich zu, springt - ich sage Ihnen: er springt mir an die Brust, umklammert meinen Rücken und beißt mir seitlich in den Hals. Doch er hat wohl auf meine Verblüffung gerechnet. Denn er ist nicht kräftig. Es ist ein leichtes, ihn an den Haaren zu packen und von mir abzuziehen. Ich bin voller Triumph! Wie ein nasses Wäschestück schwinge ich seinen Zwergenkörper über meinem Kopf. Er quiekt und winselt. Ich schleudere ihn quer durchs Gewölbe gegen eine Wand, wo er mit einem unsäglich häßlichen Laut aufprallt. - Im selben Moment komme ich zu mir.“
„Bitte?“
„Erinnern Sie sich nicht, daß ich beim Betreten des Gewölbes den Halt verliere und zu Boden schlage? Ich bin ziemlich benommen von dem Sturz. Stockdunkel ist es um mich her und schrecklich still. Ich mache mit meinem Feuerzeug Licht. Ein starker Schmerz zieht von der linken Schläfe inwärts. Offenbar blute ich.“
„Keine Toten, keine Gehäuteten, - nichts?“ Ich lache verlegen.
„O, schon etwas, durchaus. Es gibt nämlich den Opferstein, einen rohen, derben Basaltblock. Und darauf... bitte sehr, Herr Baumann: Darauf liegt das Buch. Ein uralter, schwerer Foliant, der sich unangenehm anfaßt und tatsächlich...“, er seufzt, „und tatsächlich mit gegerbter Haut gebunden ist. Ein Blick hinein überzeugt mich sofort, daß der Wert meines Fundes gar nicht abgeschätzt werden kann. Die Seiten mit altägyptischen Schriftzeichen gefüllt; überdies sind mit offenbar Tinte arabische Kommentare dazugeschrieben. Geradezu instinktiv und im Fieber nehme ich den Folianten an mich, stecke ihn in meinen Rucksack und mache mich eiligst davon.“
„Und Haze..?“
„Hazegnehad? - Das eben ist ja das Seltsame! Ich erwarte eigentlich, er sei mir nachgegangen oder erwarte mich wenigstens dort, wo wir uns trennen. Aber er ist weg, und auch im Dorf will um sein Verbleiben niemand wissen. Bis heute ist er wie verschollen... oder nein: erscheint bisweilen, und ich flüchte dann.“
„Sie haben das Buch noch?“
„Deshalb ja erzähle ich davon.“ Schwer stützt er sich aus dem Sessel. Schleppt sich quer durch den mittlerweile sehr dunklen Raum. Schaltet über dem Sideboard die Standlampe an, schlurft weiter auf das Bild zu, das in Brusthöhe gegenüber hängt. Es ist sehr auffällig, will in diese Spießerstube einfach nicht passen: Eine billiggerahmte Kopie der Antonius-Versuchung aus dem Isenheimer Altar. Mielke dreht den Rahmen beiseite. Auch ich steh auf, geh zu ihm rüber, guck Mielke über die Schulter. Er zeigt, ohne was hinauszuziehen, in eine kastenförmige Öffnung. Ich kann nichts sehen, aber etwas Kühles, Lockendes weht heraus. Mielke schließt dreht den Rahmen wieder zurück. „Wenn er kommt,“ murmelt er, „dann müssen Sie das Buch herausholen und wegbringen von hier. Er darf es auf keinen Fall bekommen.“
[Die vierte Fortsetzung wiederum morgen.]
albannikolaiherbst - Donnerstag, 27. Dezember 2007, 16:36- Rubrik: FORTSETZUNGSROMAN
[Fortsetzung von >>>> hier:
„Wenn er kommt,“ murmelt er, „dann müssen Sie das Buch herausholen und wegbringen von hier. Er darf es auf keinen Fall bekommen.“]
„Ich verstehe nicht.“
„Ich verändere mich,“ erzählt er leise, als wir uns wieder setzen.
„Bitte?“
„O ja, ich verändere mich, als ich die Hieroglyphen zu entziffern versuche. Und erst darüber wird mir bewußt, wie gefährlich mein Fundstück ist. Denn sehen Sie: Anfangs, noch als ich Großbritannien verlasse und nach Deutschland zurückkehre, bin ich voll guter Vorsätze. Ich will das Buch öffentlich zugänglich machen. Doch - wie soll ich sagen? - sie bindet mich an sich, diese schreckliche Handschrift, läßt mich ihr mit Leib und Seele verfallen. Nein, ich übertreibe keineswegs! Sie verleiht mir nämlich Macht, Herr Baumann. Sie fördert meine Karriere. Mein wissenschaftliches Ansehen steigt enorm in den folgenden Jahren. Nun ja. Aber zugleich... zugleich heben meine Visionen an.“
„Visionen?“
„Ja, Visionen. Und nicht nur nachts, sondern oft unvermittelt im Sonnenschein, wenn ich spazieren- oder zur Arbeit gehe, ja bei der Arbeit sitze, - plötzlich bricht der Schreibtisch inmitten auseinander und gibt den Blick in einen sich in völliger Schwärze verlierenden Abgrund frei, oder Hauszeilen, je links und rechts, wehen auseinander und hinauf wie Theatervorhänge - oder Menschen, die mir eigentlich vertraut sind, verändern sich binnen Sekunden... sie verformen sich, Herr Baumann, Lippen und Kiefern verzerren sich wie Gummimasken, Nacken buckeln nach kätzischer Art, oder meiner Sekretärin sitzen Käfer auf Oberarmen, Schultern, Dekolleté... Und weil bald auf gar nichts mehr Verlaß ist, schließe mich ein und ... und fange zu trinken an. Obendrein kommt es an der Universität zu gewissen Peinlichkeiten.“ Er nickt. „Bevor mir gekündigt wird, kündige ich besser selbst. Da leb ich halt als Privatgelehrter. Nahezu dreieinhalb Jahre geht das dann so. - Ich wohne in München damals, nicht weit vom Englischen Garten, und als ich eines sonntags, weil ja auch meine Wohnung sich verändert, weil die Türklinken Leben bekommen, sich die Teppiche gänzlich unerwartet verschieben, weil plötzlich die Kühlschranktür klappt und mir die darin verwahrten Nahrungsmittel ihre Not entgegenschreien... als ich also eines sonntags in die Parkanlagen geflüchtet bin, sehe ich ihn..!“
„Diesen Hazegne...?“
„Dieselben spastischen Bewegungen, dasselbe Zucken der Gesichtsmuskulatur! Es ist fürchterlich! Sofort drück ich mich hinter einen Baum. Dann laufe ich fort. Mein Gehirn arbeitet rasch. Innerhalb einer einzigen Woche - und spitze auf jedes fremde Geräusch und öffne meine Tür keinem Schellen - löse ich meinen Haushalt auf. Ich ziehe nach Hamburg, nehme kaum etwas mit mir. Ich richte mich völlig neu ein und - nein, lachen Sie nicht! - beauftrage eine Detektei, nach dem Dämon Ausschau zu halten. Zwei Jahre später wird er in Eppendorf gesichtet. Wieder fliehe ich. Haben Sie eine Ahnung, was ein gefälschter Ausweis kostet! - Insgesamt fünfmal bin ich seither zu jemandem anderes geworden.“
„Aber nun können Sie nicht mehr publizieren...“
„Sehr richtig. - Es ist das Buch.“
„Bitte?“
„Ich fasse an, was ich will, alles gelingt mir. Ökonomisch, verstehn Sie? Zuletzt spekulier ich in Häusern.“ Er schweigt einen Moment. „Menschlich.. menschlich bringt mich das um. Das Buch bringt mich um, frißt mich von innen, denn es ist in mich geschlüpft. Es hat die Seele eines Insekts. Durch mich begeht es Verbrechen aus dem Handgelenk. Ich lehne mich zwar auf, verzweifelt, zermürbt, aber dann... dann muß ich doch wieder jemanden schlagen oder... überfahren. Ich kann nicht anders, ich halte drauf. Also schaff ich mein Auto ab. Da geht das mit den Rasierklingen los. Es ist entsetzlich! Doch das Buch überschüttet mich mit Visionen und schenkt mir einen wunderbaren, unnennbaren Schmerz.“ Hinterm Dunklen stöhnt Mielke auf in seinem Sessel. „Dann - endlich! - will ich mich befreien. Aber es brennt nicht. Meine Güte, welch eine Überwindung, ein Streichholz dem Einband auch nur zu nähern! Sofort springt Ihnen eine der Hauswände entgegen, oder der Eßtisch platzt, oder sonst etwas Unglaubliches, Zähes, Widerwärtiges geschieht. Da überwinde ich mich, da schleudr’ ich den Versucher ins Feuer. Aber hilflos und kläglich spückeln die Flammen dran herum und erlöschen. Sie gehn gradezu ein. - Ich versuch es,“ er kichert, „dann mit... mit Weihwasser - so sehr erniedrige ich mich, daß ich, wie irgend ein Dummkopf, Weihwasser aus Kirchen stehle und die Seiten damit besprengte. Ach wie absurd! Alles versagt gegen Chtullhu: Voodoo-Zauber, totemistische Beschwörungen, jedwedes Ritual. Dann endlich, endlich, entschließe ich mich zum Entzug und lese einfach nicht mehr drin. Das ist eine Qual, ja, aber ich stehe sie durch, ich hab mich in der Gewalt, ich verschließe es, schließe es weg, und nun... nun, Herr Baumann, bin ich sein Hüter. Allmählich mildern sich meine Visionen. Ach, das Fernsehen! Wahrhaftig! Welch karitative Erfindung! Es betäubt mich mit heilsamer Ohnmacht, ich mache mich stumpf, ganz stumpf. Nur so kann man leben, Herr Baumann.“ Er atmet langsamer, noch langsamer, dann flüstert er: „Und jetzt hat man den Dämon hier in Braunschweig gesehen. Und ich hab keine Kraft mehr.“ Sein Atmen wird Wimmern. Das wird ein Schnarchen. Mir dreht sich der Kopf. Leise räume ich Geschirr und Aschenbecher in die Küche und gehe zu Bett.
[Fortsetzung und der Schluß - morgen.]
albannikolaiherbst - Donnerstag, 27. Dezember 2007, 16:35- Rubrik: FORTSETZUNGSROMAN
[Fortsetzung von >>>> hier:
Leise räume ich Geschirr und Aschenbecher in die Küche und gehe zu Bett.]
Klar, daß Mielke krank ist. Ich bin ganz froh, daß er in den nun folgenden Wochen auf seinen Wahn nicht mehr zu sprechen kommt. Allerdings kann ich nicht abstreiten, daß von der Antonius-Versuchung - also dem, was sich vorgeblich versteckt hinter ihr - etwas Lockendes ausgeht. Manchmal nun steh ich davor und widerstrebe dem Zwang, das Bild beiseitezudrehen, um in der Öffnung dahinter nachzuschaun.
Dann geht den ganzen Tag über ein deutlicher, eigentümlich warmer Wind, wie ich das aus Italien kenne. Bei Einbruch der Dämmerung frischt er allerdings auf. Er pfeift um die Hausecken und treibt Papierschnitzel und Zigarettenschachteln über die Bürgersteige. Mir ist sowas nicht unangenehm. Gern sitz ich da drinnen und schau aus dem Fenster. Mielke indessen macht das Wetter nervös. Mehr noch: Es verursacht ihm richtig Angst. Er kaut das Zigarrenende naß und sieht grau und eingefallen aus. Die fetten Lappen seines Bulldoggengesichts wirken wie Pappe. Die Tränensäcke geschwollen dabei, seltsam, auf seinen Nasenflügeln wie Sandpickel Schweißperlen. Er trinkt viel, ist schon nicht mehr sicher auf den Beinen. Ich geh ihm aus dem Weg. Doch klopft er spätabends bei mir an die Zimmertür und bittet mich hinunter. Bietet mir einen Cognac an und fragt:
„Glauben Sie an der Jüngste Gericht, Herr Baumann?“
„Was ist los mit Ihnen?!“
„Ich muß Sie an Ihr Versprechen erinnern. Nehmen Sie sich um Gotteswillen des Buches an! - Das Jüngste Gericht sind die letzten Minuten vor dem Tod.“
Ich zucke die Achseln, steh auf, verlasse den Raum. Auf sowas hab ich nun gar keine Lust! Er versucht auch gar nicht erst, mich zum Bleiben zu überreden. . Allerdings kann ich nicht einschlafen. Schon, weil nun draußen ein Lärmen losgeht sondergleichen. Der Wind ist Sturm mittlerweile. Ich steht wieder auf, schau aus dem Fenster schaue, ein Straßenschild wackelt. An ihren quer über die Straße gespannten Kabeln schwingen Lampen wie wild. Dann Geschepper, runtergefallene Ziegel sind das, die zerspringen auf dem Bürgersteig. Bis gegen zwei wälz ich mich noch herum. Dann geb ich’s auf. Außerdem ein Schrei. Nein, das wird nur eine Böe gewesen sein. Noch eine Böe. Nein, tatsächlich ein Schrei. Ich kann da nicht einfach weghörn. Irgend etwas geht unten zu Bruch. Ich schlüpfe in den Bademantel, ziehe die Rollos hinauf. Hinter den Scheiben ein zerrupftes Grau, eine wirbelnde Masse. Ein Ast knallt gegens Fenster. Die Scheibe splittert. Schnell knistert ein Netz durchs Glas. Bloß die Rollos wieder runter! Und abermals von unten ein Schrei. Der ist nun aber derart hilflos und verzweiflungsgeladen, daß ich nachschauen muß.
Mielke liegt am Wohnzimmerboden. Eine Art Anfall. Verrenkungen und Schaum vorm Mund. Ich halte den zitternden Mann mit aller Kraft fest. Endlich beruhigt er sich. Kommt zu Bewußtsein. Richtet sich auf, seufzt, zieht dann, sitzend, die Beine an den Körper, legt, fett und müde, seine Arme um die Knie. Aus Nase und Mund rinnt spärlich Blut. Zerbrochnes Geschirr liegt herum. Ich ziehe ihm einen Splitter heraus, der knapp über der rechten Handschlagader steckt. Das blutet entsetzlich. Ich binde ihm die Hand mit seiner Krawatte ab. Er scheint mich kaum zu erkennen, schaut willenlos zu. Außerdem hat er sich, beim Hinfallen wohl, am linken Knie verletzt. Jedenfalls kann er das Bein nicht mehr strecken. Ich schleppe ihn zum Sessel. Mit einer Serviette versuch ich, die Blutung zu stillen. Will einen Arzt anrufen, aber der Anschluß ist tot. Wahrscheinlich hat der Sturm einen Leitungsmast umgeworfen. Der Orkan heult derart ums Haus, daß ich den Gedanken, Hilfe zu holen, sofort verwerfe. Sowieso kann man Mielke in seinem Zustand unmöglich alleinlassen. Ich schlage den jammernden Menschen in eine Decke ein. Es ist halb drei Uhr nachts. Ich nehme im Sessel Platz, trink einen Schluck Cognac, versuche zu schlummern. Einmal, halb im Dösen, gleitet mein Blick zur Antonius-Versuchung. Da wirbeln die grünewaldschen Figuren ganz aufgeregt umher. Welch hektisches Leben! Doch als ich die Vision fixiere, stellt sie sich still. Ich sacke in dem Schlummer zurück.
So vergeht diese Nacht.
Morgens hat sich Mielke leidlich gefaßt. Aber schweigt stundenlang. Das Telefon bleibt gestört. Und der Sturm läßt keineswegs nach. Im Radiogerät ein Katastrophenalarm. Als Mielke das hört, kichert er. „Die irren sich“, sagt er. „Das ist mein Sturm, ich schwöre, daß das mein Sturm ist.“
Ich ignoriere die Bemerkung. Der Orkan drückt die Läden in die Fenster. Mittlerweile sind noch zwei weitere Scheiben zerborsten. Man hört allerwo metallisches Knallen. Mitunter platzt etwas draußen. Der Baum im Vorgarten wird aus der Erde gerissen. Kracht gegen die Mauer. Dann ein Poltern, ja Kartätschen: als schlüge ein riesiger Holzknauf an die Haustür. Ich springe auf. „Nicht öffnen, nicht öffnen,“ wimmert Mielke und zieht sich die Decke bis unter die Augen. Es folgen leisere, eher klopfende Geräusche; bei jedem zuckt Mielke und kneift die Lider zusammen.
„Ich seh mal nach“, sag ich. - „Nein! Nein!“ - „Nu komm Se... vielleicht braucht jemand Hilfe...“ - Da fängt er zu lachen an. Dann ein gestoßener; ein weggeschnittener Schrei.
Ich geh auf den Flur, horche. Ich schließe die Augen, horche. Der Sturm hält momentlang inne wie ich. Und da, sehr deutlich, klopft es. Irgend jemand steht draußen, kein Zweifel. Ich spähe durch den Türgucker, kann aber niemanden sehen. Es klopft abermals. Ich dreh den Schlüssel herum, und schon, plötzlich, stößt sie mir wer entgegen. Ich pralle zurück und starre entsetzt auf ein Geschöpf, daß meinem Vermieter bis in die fieberkranken Augen gleicht und zu alledem ganz wie er gekleidet ist. Nur mißt es kaum einsfünfzig und wirkt durch und durch künstlich. Mit einem Blick erfasse ich die Verwüstung: geknickter Metallzaun, umgeworfene Autos, zerstörte Vorgärten. Man hört Polizei- oder Feuerwehrsirenen.
„Entschuldigen Sie mein freches Benehmen,“ sagt das Geschöpf. Es hat eine fistelige, blecherne Stimme. Wenn es spricht, bewegt es asynchron die Ärmchen, als erzeugte erst dies den zum Sprechen nötigen Luftdruck. „Aber Ihre Schelle scheint nicht zu funktionieren. - Ach, ach, Verzeihung! Mein Name ist Azred. Man sieht es mir nicht an, doch bin ich,“ er spitzt voll Neugier an mir vorbei, „arabischer Geburt. Gehe ich recht in der Annahme, man habe es Ihnen erzählt?“
Ich bin derart fassungslos, daß ich gar nicht auf den Gedanken komme, die Tür wieder zuzuschlagen. Es wäre ohnedies zu spät, denn mit der Bemerkung, gewiß harre Herr Mielke seiner schon längst, und indem er mich kurzerhand beiseite- nicht -stößt, sondern -wischt, betritt Azred den Flur. „Es ist, Herr... Herr..?“
„Baumann.“
„Es ist, Herr Baumann, zwar ziemlich ungemütlich draußen, indessen wäre es besser, Sie ließen uns nun allein.“
„Aber auf gar keinen Fall!“
„Nun, wie Sie wollen.“ Er lächelt und schürzt dabei die Oberlippe, was sein Gesicht entstellt und die beängstigende Ähnlichkeit mit Mielke völlig verwischt. Und plötzlich dreht er sich einmal um sich herum, beschleunigt und schlägt mir die Nägel seiner linken Hand ins Gesicht. Ich schreie auf. Fauchend hüpft er ins Wohnzimmer. Der Schmerz ist fürchterlich. Ich brauche Sekunden, um mich zu fassen. Erst das Gebrüll Mielkes holt mich in die Gegenwart zurück.
Im Wohnzimmer springt der Dämon mit einem kräftigen Satz auf Mielkes Brustkorb. Dabei jauchzt er, trampelt ausgelassen auf dem verendenden Menschen herum. Und wird dem froschreitenden Antoniusversucher ähnlich dabei. Blut spritzt vom Kadaver. Das berauscht den Kleinen offenbar. Er hat mich in seinem perversen Glück offensichtlich vergessen. Das muß ich nutzen! Ich haste zu dem Bild, ich drehe die Versuchung beiseite. Greife dahinter hinein. Wie tief es dort ist! Es verschlingt meine Hand, verschlingt meinen Arm weit über den Ellenbogen hinaus. Da faß ich etwas Nasses, Sumpfiges, nein: Trocknes, ich weiß nicht. Es ätzt. Ich bezwinge mich, ziehe. Dann fällt der Strom aus. Man kann nichts mehr sehen. Aber mir ist das recht. Zumal ist der Dämon beschäftigt. Ich höre ihn saugen, schlürfen, dazwischen Gekicher. Und während Abdhul al Azred meinen Vermieter verzehrt, schleiche ich, das ungeheure Buch an meinen Bauch gepreßt, aus dem Zimmer in den Flur. Ich reiße die zugefallene Haustür auf und stürze mich ins Freie. Ich renne, renne nur, renne. Renne an gegen den aufgefrischten Sturm. Ich weiche hakenschlagend zerschellenden Ziegelsteinen und stürzenden Bäumen aus. Ach was bin ich geschickt! Es ist eine Lust, den Orkan zu durchrennen! Ach welch ein Atmen! Das Pfeifen! Ein Jubel der unbesiegten Natur! Da erreich ich das „Flipper“. Ich lache. Ich husch in die Kneipe, schlag die Tür hinter mir zu. Dieser Geschmack hinter den Zähnen! Und starr in einen Haufen erhitzter Gesichter. Und juble! Und heule! Und bin abermals am Leben geblieben! Und im Bewußtsein dieser meiner unendlichen, blühenden Kraft fall ich hungrig über die dummen Ungeheuer her.
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albannikolaiherbst - Donnerstag, 27. Dezember 2007, 16:34- Rubrik: FORTSETZUNGSROMAN
„Doch nun, lieber Herr Zilts, erzählen Sie mir bitte etwas von Ihrer Welt. Ich habe wirklich nicht oft die Gelegenheit... und kann ja, wenn ich das so ausdrücken darf, unten nichts erzählen.“ Er zeigte beiläufig zu einem Schacht, der frisch mit grüner Ölfarbe markiert war. „Sie wissen doch.“ Er bemerkte meinen Blick und zog momentlang die Brauen zusammen, als mißtraute er mir wieder. Aber sein Gesichtsausdruck löste sich schnell, und er lachte. „Ja ja, da... Sie sehen ganz richtig. Sie verstehen, ich darf mich nie weiter als vielleicht fünfzig Meter entfernen, aus reiner Vorsicht... ich nehme und bringe auch jedesmal den Lacktopf wieder mit, ich erzählte ja schon von diesem Wanderer. - Nebenbei, Sie b e n e h m e n sich auch schon wie einer. - Wollen Sie noch einen Kaffee?"
,,Das versteh ich nicht. Wieso? - Nein, nicht mehr, danke. - Warum benehm ich mich wie ein Wanderer?"
,,Weil Sie damit angefangen haben, es mir schmackhaft zu machen, diesen Raum zu verlassen.“
„Aber ich hab doch nur..!“
„Ich verüble Ihnen das doch nicht, Herr Zilts! Das ist nun Ihr Charakter... Wanderer ertragen die Einsamkeit nicht, sie möchten Gesellschaft. Ich hingegen ertrage Einsamkeit ganz gut. Außerdem hab ich Freunde da unten. Ich kann zwar mit denen nicht über die Lybarinthe sprechen, aber auch daran gewöhnt man sich. Und Sie müssen sich vorstellen, daß die Wanderer sich untereinander höchst selten verständigen können... sie stammen aus zu unterschiedlichen Kulturen. Bisweilen sieht man sogar Geschöpfe, die durchaus nicht menschlich sind. Seltsame Wesen, vor zwanzig oder dreißig Jahren kam mal einer vorbei, der sowas wie einen flüssigen Kristall als Kopf hatte, wenn es ein Kopf w a r, keine Ahnung. Ich hielt den Wanderer erst für ein mechanisches Gerät. Aber ich gebe zu, solche Treffen sind selten. Was es war, merkte ich erst, als mich das Ding hinter meinem Rücken attackierte... nicht mich, nein, aber es sprühte an meinen Markierungen herum. Ich hatte allerdings Glück, denn der Wanderer ließ sich leicht verscheuchen. - Wollen Sie die Stelle sehen, wo er meine Marke weggeätzt hat?“ Abermals zeigte er auf den Schacht, der in sein Zuhause führte. Er räusperte sich. „Was ich sagen will, ist nur: Sie werden ganz ebenso boshaft werden, glauben Sie mir. Aus reiner Verzweiflung. Und irgendwann werde ich mich auch vor Ihnen – ja, mehr noch als jetzt – in acht nehmen müssen. Wenn ich Sie denn jemals wiedersehen sollte.Was freilich n o c h unwahrscheinlicher ist.“
,,Aber es muß doch etwas geben, das ich dagegen tun kann!“
,,Ich wüßte nichts, Herr Zilts. Andererseits habe ich mit Leuten wie Ihnen keine Erfahrung, die letzte Aussagen zuließe. Vielleicht...“ Er wurde nachdenklich, brummte etwas vor sich hin, sagte schließlich: „Ich könnte natürlich... einen Assistenten... der mir hilft, Dinge entgegenzunehmen, wenn ich herkomme, der mir auch Sachen herunterreicht und der, wenn ich fortbin, auf die Einrichtung achtet. Das wäre schon eine ziemliche Erleichterung. Aber dann müßten Sie für immer hierbleiben, in diesem Raum, verstehen Sie?“
„Und Christine?“
„Bitte?“
„Meine Frau...“
„Sie haben noch immer nicht verstanden, Herr Zilts. Die Wahrscheinlichkeit, sie wiederzusehen, geht gegen Null. Und selbst w e n n Sie sie wiedersähen, sie wären sich nie sicher, ob sie es ist... wahrscheinlich würden sie Sie auch gar nicht erkennen. Stattdessen könnten Sie, wenn Sie wollten, bei mir lernen. Und ich bei Ihnen. Es wird sich so viel getan haben in den folgenden Jahrzehnten! Also sagen Sie mir...“ Und er erkundigte sich nach physikalischen Neuerungen, der Computer interessierte ihn über alles. Bei der Mondlandung klatschte er wie ein Kind in die Hände, und die Nachrichten über die Sonde, die gen Saturn fliegt, ließ ihn mit offenem Mund staunen. „Ja,“ sagte er dann. „Ja, Herr Zilts, ich ginge dieses Risiko ein mit Ihnen.“
Ich konnte nicht antworten.
„Es ist Ihre einzige Chance... die einzige, wieder so etwas wie Vertrauen zu entwickeln." Er verzog sein ganzes Gesicht zu einer faltenreichen, geradezu komischen Grimasse. Wie ein kleiner Hund sah er aus. Mit einem Mal war er mir unangenehm wie zu Anfang unserer Begegnung, plötzlich war wieder i c h voller Mißtrauen. Um ihm das nicht zu zeigen, sah ich auf meine Fingernägel.
Er setzte nach: „Es bleibt Ihnen eigentlich keine Wahl.“
Pause.
Ich hatte den Drang, an meinem Daumen zu knabbern, aber beherrschte mich. Ein hintergründiges Rauschen füllte den Verteilersaal, als wären in den Wänden elektronische Geräte verborgen.
,,Wo sind Sie eben eingestiegen?"
,,In eine Schreibtischplatte."
,,Und das erste Mal?"
,,In ein Loch in der Decke."
,,Was meinen Sie, wieviele Kilometer und Welten liegen dazwischen?"
,,Drei... nein, sechs... Ich weiß es nicht. - Und Kilometer? Nach irdischem Maß vielleicht fünf."
,,Gar keine Aussicht!" rief er. ,,Das müssen Sie doch endlich begreifen! - Ah...“ er wandte sich zur Seite, stand dann auf, kramte irgend etwas aus den Haufen auf seinem Schreibtisch, stieß einen kleinen Freuderuf aus und kam zurück. „Ich wußte - wußte! -, daß ich noch welche habe!“
Er hielt mir ein Lederetui mit Zigarren hin. „Rauchen Sie vielleicht?"
Ich dankte, winkte ab.
,,Meine Uhr sozusagen," sagte er. ,,Wenn alle Zigarren aufgeraucht sind, muß ich zurück, um neue zu besorgen. 'Ja', Herr Moosbach', ruft Erika immer - das ist meine Haushälterin -, 'was tun Sie nur dauernd mit den ganzen Zigarren?' Sie hat ja keine Ahnung, auch gar nicht die Intelligenz, um so etwas wie meine andere Zeit zu verstehen. Ist Ihnen übrigens schon aufgefallen, daß hier zwar die Uhren funktionieren, schon aus mechanischen Gründen, daß sie aber nichts mehr anzeigen, was Bedeutung hätte? Ich hab versucht, einen chronologischen Zusammenhang zwischen draußen und hier herzustellen. Es gibt keinen. Bleibe ich nach hiesiger Zeit, also nach dieser Uhr, 78 Stunden drinnen, komme ich draußen wieder genau zu der Stunde an, in der ich aufbrach. Bleibe ich nur fünf Stunden hier, ist es das gleiche... Aber egal, entscheiden Sie. Bitte, bitte bleiben Sie bei mir."
Ich schüttelte den Kopf.
„Von hier heimkehren zu wollen“, sagte er leise, „das ist, als wollten Sie zu Fuß nach Alpha Centauri."
,,Meinetwegen," sagte ich.
,,Na gut,“ erwiderte er. ,,Dann lassen Sie mich aber noch diese Zigarre rauchen, bevor Sie aufbrechen. Und erzählen Sie mir. Erzählen Sie mir alles. Ein Glücksfall wie mit Ihnen begegnet mir in 2000 Jahren nicht mehr.“
albannikolaiherbst - Dienstag, 17. August 2004, 14:13- Rubrik: FORTSETZUNGSROMAN
,,Wanderer? Ich versteh Sie wirklich nicht.“
,,Ach, das sind die... ja nun... also Wanderer, die irren hier herum. Denen ist der feste Wille abhanden gekommen, die sind gottlos sozusagen... nein nein, ich bin nicht gläubig. Aber ich hab auch ein Zuhaus.“
„Auch ich...“
„... schon schon!“ fiel er mir mit angehobener Stimme ins Wort. „Aber Sie werden es nicht wiederfinden. Nicht sicher sein können, es wiedergefunden zu haben... selbst wenn etwas sehr danach ausschaut. Sehen Sie“, er zeigte mit weiter Geste zur Decke, zu den Nebengängen, zu den Öffnungen im Boden. „Jeder Weg führt in eine Welt. Und manche wird der Ihren fast gleichen. Es wird nur kleine... Verschiebungen geben, die Küchenuhr hängt woanders... sowas. Wissen Sie noch, ob in Ihrer Wohnung die Lichtschalter rechts oder links der Türen angebracht sind? Es gibt doch Lichtschalter bei Ihnen unterdessen?“
„Ja sicher gibt es die.“
„Das dachte ich mir. Die Elektrizität muß alles übernommen haben bis 1990, daran hatte ich nie einen Zweifel.“
„Rechts.“
„Rechts?“
„Ja, sie sind rechts angebracht.“
„Sie sind sich sicher?“
Ich zögerte. Noch während ich das Wort so bestimmt ausgesprochen hatte, waren mir Zweifel gekommen... - wobei...: „Zweifel“? Nein. Es war bloß ein ungefähres, aber kein gutes Gefühl, das sich hinter dem Wort jetzt verbirgt.
„Ich seh Ihnen an, was Sie fühlen. Das ist normal, das ginge mir ganz genau so. Deshalb habe ich niemals eine andere Welt betreten, deshalb hüte ich mich bis heute davor, deshalb trete ich selbst hier noch, wo ich jeden Winkel kenne, ausgesprochen vorsichtig auf. Um nicht doch noch versehentlich hinunterzustürzen. Man muß sich bescheiden. Und Sie sehen ja, welches Glück ich habe... nach so langem Aufenthalt noch: Da spaziert mir jemand in meine Arbeitsstube und kann, prall von authentischer Erfahrung, erzählen! Das mir so ein unwahrscheinlicher Glücksfall geschieht!“ Er strahlte, merkte, wie unpassend das war, entschuldigte sich. „Sehen Sie einmal meine Situation“, sagte er.
„Ich habe keine Chance?“
„Finden Sie es verwunderlich, daß diese Leute an ihren Erlebnissen irre, daß sie halt Wanderer werden? Was bleibt ihnen denn? Sie finden nicht zurück, können aber die Heimat nicht vergessen und sterben hier nicht einmal.“ Er hielt unvermittelt inne, räusperte sich, nahm wieder ein Schlückchen und sprach schluckend über den Becherrand hinweg: „Wissen Sie, Herr Zilts, was vernünftig wäre?“
Ich schwieg.
„Das Beste wäre, sie nähmen jetzt irgend einen Schacht hinaus und arrangierten sich mit der dahinterliegenden Welt. Völlig egal, wie sie aussieht. Akzeptieren Sie sie und spielen Sie Ihre dortige Rolle.“
„Auf gar keinen Fall!“
„Hören Sie, ich bin mir fast sicher, daß es nicht wenige gibt, die diesen Ausweg begriffen haben, diesen einzigen Ausweg, Herr Zilts. Vielleicht heilt sogar d a s da dann wieder.“
Ich wußte, er meinte meine Augen.
„Weshalb wohl fühlen sich viele in ihrer Welt so fremd?“ fragte er leise. „Bis 1914 jedenfalls. Ich weiß selbstverständlich nicht, ob sich das bis 1990 geändert haben wird. Geändert hat.“
Ich schwieg.
„Aber ich will nicht in Sie dringen. Sie müssen das selbst entscheiden. Nur vergessen Sie nicht: Dort können Sie sterben. Hier nicht.“
„Und diese Prozessionen? Das sind alles Wanderer?“
„Aber nein! Ich nenne sie Halbtote, doch trifft das den Sachverhalt nicht. Oder eben nur halb. Hab ich davon nicht schon gesprochen? Die lagen alle im Sterben, hatten Unfälle, fielen von Häusern, Leitern... sowas. Aber bevor sie aufschlugen oder bevor sie einschliefen in ihren Betten, sahen sie die Eingänge, nahmen mit letzter Kraft Anlauf... Die nun wollen nicht mehr zurück, denn sie wissen genau, da draußen erwartet sie ihr Sterben... eines, das durchaus schmerzhaft, lange, voller Qualen sein kann. Deshalb haben sie sich für ihr jetziges stumpfes Dasein entschieden. Sie wollen einfach nur herumgehen. Nie hab ich einen schlafen gesehen. Vor dem Schlaf haben sie offenbar eine ganz besondere Angst. Vielleicht erinnert er sie an das, wovor sie geflohen sind. Immerhin sind sie, anders als Wanderer, harmlos. Während die nicht vergessen können, vergessen die Halbtoten so schnell, daß ihre Persönlichkeit verweht. Sie haben, glaube ich, nicht einmal mehr Schmerzempfinden. In gewissem Sinn sind es Maschinen ohne Bewußtsein und Hunger.“
„Das ist keine gute Wahl“, sagte ich.
„Man hat die Wahl nicht“, sagte er.
„Man hat sie!“
„Na dann viel Glück.“
„Immerhin kann man doch auch sein wie Sie.“
Er kicherte. „Vielleicht“, sagte er. „Darüber hab ich auch schon nachgedacht. Es wäre höchst unwahrscheinlich, daß ich einzigartig bin. Das stimmt. Dennoch bin ich eine... Monade. Und andere, die mir ähnelten, wären das auch. Denn keiner verließe jemals seinen eigenen Raum, außer um in seine angestammte Welt zurückzukehren, die Vorräte aufzufrischen, mal wieder ein paar kurze Gespräche mit Menschen zu führen, sei es auch nur, um von jemandem ein frisches ‚Guten Morgen, Herr Moosbach’ zu hören. Ein einziger Schritt in einen fremden Gang hingegen würde uns ebenfalls zu Wanderern machen. Sofern das richtig ist, überhaupt von einem ‚uns’ zu sprechen. Sofern ich hier nicht d o c h allein bin.“
„Das ist nun aber auch keine lebbare Alternative!“
„Finden Sie? Ich rieche so gern!“ Wieder kicherte er. „Erinnern Sie sich noch an den Strohduft junger Achselhöhlen? An das stumme Bauschen von Röcken, unter die eine Bö fährt? Ah, gehen Sie mir! So lange, Herr Zilts, ein Mensch bewundern, solange er schwärmen kann, so lange ist er nicht boshaft. Und man w i r d boshaft, wenn man immer nur sucht und sucht und niemals findet, niemals bleiben kann, Herr Zilts. Ich bleibe, Herr Zilts. Und gehe nur in eine einzige aller möglichen Welten zurück und komme nur aus ihr wieder her. Selbstbegrenzung ist die Grundlage von Glück.“
„Die anderen Welten locken Sie nicht? Das nehme ich Ihnen nicht ab... Sie sind Forscher, behaupten Sie.“
„Oh und wie! Was gäbe ich drum, sie sehen zu können! Aber eben nicht alles, nicht, daß ich nicht wieder ein Lächeln, irgendeines, ein frisches, fremdes, in meinen Augen spürte...“ Er verstummte, nahm abermals einen Schluck. „Schauen Sie, Ihr Kaffee wird ganz kalt.“
Auch ich trank, aber es schmeckte mir nicht, ich wollte weiter, wollte nach Hause.
„Sehen Sie“, sagte er endlich, „es g a b hier ein paar Monate lang so einen Plagegeist. Er hat alles Erdenkliche getan, um mich aus meinem kleinen Saal hinauszulocken, nutzte meine Abwesenheit, um das Schränkchen umzuwerfen, klaute Bücher, schmierte in meinen Aufzeichnungen rum, alles sinnloses Zeug, das nichts wollte, als die Notate unleserlich zu machen, einmal hatte er sogar einen Kaffeerest über meine Bücher gegossen, das war eine schlimme Schweinerei. Ich hatte vor diesem Kobold richtige Angst. Was muß in so einem Geschöpf vorgehen! Und jetzt sehen Sie mich an: Würde mir so etwas stehen? – Der Bursche hat sich übrigens seit über einem halben Jahr nicht mehr blicken lassen. Ich hatte, wie für Ratten, Fallen gegen ihn aufgestellt. Wahrscheinlich ist er irgendwo in einen Schacht gestürzt und durch einen anderen wieder rein und irrt nun in einem unendlich weit entfernten Quadranten dieses Universums herum, um jemanden anderes zu finden, den er trietzen kann.“
[Revidiert: 17. 8. 2004]
albannikolaiherbst - Samstag, 7. August 2004, 12:38- Rubrik: FORTSETZUNGSROMAN
Mir kommt eben aufgrund des Kommentars Tilkowskis und meiner Antwort darauf ein Gedanke: Ist nicht Zilts’ Reise eigentliche eine, die das Netz vorweg- und damals bereits körperlich nahm? Das konnte ich, als ich die ersten Fassungen der Geschichte schrieb (zuerst um 1975, dann im August 1983), allerdings nicht wissen, ich war damals noch computer- und sowieso netzlos. Dennoch kommt mir der Text nun wie eine neoromantische Vorwegnahme vor.
Was aber folgt poetologisch daraus? Soll ich die laufende Umarbeitung auf Romanform radikalisieren und „Eine Reise zum Mittelpunkt des Internets“ nennen? Vielleicht der Form nach Alexander von Humboldt oder besser noch Hubert Fichte geschuldet? Eine poetische Ethnologie verschiedenster Netz-Kulturen schreiben, zu denen auch die pornographischen und gewaltverherrlichenden gehören müßten? Denn gerade für sie ist das Internet erhellend, weil sie Fantasien und Obsessionen von Menschen als offenkundige und ständig wirkende präsentieren. Weil aber ein solcher Reisebericht unvoreingenommen geschildert werden müßte, und zwar überall mit der gleichen treibenden Neugier, käme der Roman ziemlich umgehend mit dem Gesetz in Konflikt, das ja nicht erlaubt, was dennoch, und zwar in den seltensten Fällen durch Paßwörter geschützt, allüberall zugänglich ist (Zilts muß nur in die hinführenden Gänge gelangen) und vor allem die Umsetzung früher geheimer Lüste durch ständig neue Koloniebildung ganz ähnlich ausgerichteter Ethnien befördert und realisiert. Man müßte Chats als tribal organisierte communities begreifen, ihre Regeln aufzeichnen, ihren Veränderungen nachspüren, desgleichen viele Weblogs, zudem die verschlungenen Wege verfolgen, auf denen sich gewerbliche Websites durch die Dschungel ziehen, Fährtensucher werden und versuchen, all das ohne zu denunzieren in poetische Formen zu gießen.
Zilts betritt über einen der Gänge die Räume der Houyhnhnms, erreicht später Glubbdubdrib und meinethalben Käsänien, ist wie Rimbaud eine Zeit lang mit allerdings modernem Sklavenhandel (Asylantenhandel etwa) beschäftigt, wird in einen Völkermord verwickelt, handelt später mit Taucherflossen. Und all das ohne auch nur ironische Absicht. Nämlich um dem, was geschieht, nahezukommen, was von einer moralischen Voreingenommenheit gerade verhindert würde, die, was sie sieht, immer als Objekt sieht und als von sich selbst getrennt.
Ein solches Unternehmen wäre aber ein R o m a n, nicht länger Erzählung, und es verlöre den neoromantischen Charme, den sie einst herstellen wollte. Darüberhinaus gibt es diese Erkenntnisse und Erfahrungen und Sachverhalte, die niemand offenlegen s o l l. Man muß sich das sehr bewußt machen, um zu wissen, welche Sprengkraft das Internet besitzt und ein solcher Roman gleichfalls besäße. Denn es gibt kein Universum sonst, das so genau und so umfassend über den Menschen berichtet wie dieses vermaledeite Netz, das die anthropologische Kehre zugleich zeigt wie vorantreibt. Es macht Unschuld völlig unmöglich. Man muß nur eintreten.
Der zu schreibende Roman wäre einer der umfassend verlorenen Unschuld. Wäre Argo. - Anderswelt.
albannikolaiherbst - Dienstag, 3. August 2004, 11:03- Rubrik: FORTSETZUNGSROMAN
Inmitten des Schriftzugs hatte er innegehalten und den Kopf fast unter der linken Achselhöhle hindurchgedreht. So sah er mich an. ,,Das ist ja ganz erstaunlich..!”
„Sie müssen schon verzeihen”, erwiderte ich. ,,Ich habe nicht mit sowas”, ich zeigte herum, „gerechnet.”
,,Oh nein, kein Grund für Entschuldigungen! Ich verstehe das völlig... völlig, mein Lieber.” Er erhob sich. „Sie weichen jetzt nicht wieder zurück?”
„Nein, sicher nicht. Ich bin nur etwas verwirrt.”
„Das müssen Sie nicht.” Er kam vorsichtig näher. „Darf ich mich vorstellen? Ich heiße Moosbach, Anton Moosbach.”
,,Joachim Zilts,” antwortete ich in gleichem Ton.
Er streckte mir seine Hand zu. Zögernd nahm ich sie. Eine ganz weiche, eine fast aufgelöste Hand.
,,Fall Sie einen Kaffee mögen...? Setzen Sie sich, hier, bitte. - Oh, ja ich bin... ausgestattet. Warten Sie, die Thermoskanne. Und hier, eine Tasse... oh, staubig, Entschuldigung.” Er schritt zu der Waschstelle, goß aus der Porzellankaraffe etwas Wasser in die Tasse, wusch sie mit den Händen aus.
„Lassen Sie nur”, sagte ich, „das wird schon gehen.”
Es war nicht zu fassen. Vor mir stand dampfend der Kaffee.
„Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Herr...”
„...Zilts. Aber eigentlich müßten Sie mir einiges erklären...”
,,Oh gleich... gleich, mein Freund. Wir haben Zeit genug.”
,Aber nein! Ich will zurück. Verstehen Sie? Ich bin erst seit... warten Sie... seit wann bin ich hier? Seit heute früh? Nein, ich glaube...”
,,Sie wissen es nicht.” Er nickte. „Darf ich bitte?” Er beugte sich vor und zog mit dem rechten Zeigefinger die Haut unter meinem linken Auge herab; der linke Zeigefinger hielt das Lid. Die Bewegung hatte etwas Professionelles. Aber er pfiff, als er meinen Augapfel ansah, tonlos durch die Zähne. ,,Das ist typisch”, sagte er.
,,Was meinen Sie?”
Er blinzelte nervös, lehnte sich zurück und antwortete: “Lassen Sie nur. Noch ist es nicht ernst.”
„Was ernst?”
„Ist noch viel Zeit, junger Mann, sehr viel Zeit.”
„Hören Sie..!”
„Ich weiß doch! Sie haben tausend Fragen und alle auf ein Mal. Zu eilen hilft Ihnen nicht. Hier zählt keine Zeit. Wir werden nicht älter, wenn wir in der Zwischenwelt sind. Was meinen Sie, weshalb ich so oft herkomme? Sicher, man muß sich einschränken, und es gibt keine Elektrizität. Aber wenn man einmal in der Arbeit ist...” Er kicherte, was nicht angenehm war. „Hier, nehmen Sie ein Zuckerstückchen.” Er hatte sogar ein Döschen Sahne im Regal. ,,Sagen Sie mir: Aus welcher Zeit sind Sie gekommen?”
,,Bitte?”
,,Welches Jahr schrieb man, als Sie aufgebrochen sind?”
,,1990. 16. Februar. – Weshalb?”
,,Interessant, höchst interessant. - Wissen Sie, ich komme von 1912. Ich stamme aus Hamburg. Jetzt ist es da 1914. Schlimme Zeit.”
,,Ich verstehe nicht ganz... - Was tun Sie hier?”
,,Das fragen Sie noch? - Ach ja, Ihre Pupillen...”
,,Was ist mit meinen Pupillen?”
„Die Iris trübt sich, das wird sie blind machen. Aber werden Sie deshalb nicht nervös. Es kann noch hundert Jahre dauern, bei anderen, glaub ich, noch länger... dreihundert Jahre vielleicht. Genau weiß ich das aber nicht. Ich bin unter andrem dabei, es zu erforschen.”
„Was zu erforschen?”
„Die Verwandlungen, Herr Zilts. Die Ewigkeit.”
Hätte er nicht so gegenwärtig gewirkt, ich hätte ihn für einen Schwachkopf gehalten. Aber das war er offenbar ganz und gar nicht, trotz seines Kicherns, das andererseits etwas von dem eines Drogenkranken hatte.
„Sie nehmen Halluzinogene?” fragte ich.
„Aber nein!” Er lachte auf. „Schmerztabletten, bisweilen, meines Rückens wegen. Und manchmal etwas, um einschlafen zu können. Es ist nicht einfach, hier zu schlafen, es ist sogar das Schwerste. Aber wer draußen schläft, altert. Und die Zeit zieht dann völlig ungenutzt vorüber. Deshalb hab ich ja die Couch hergebracht”, er klopfte aufs Polster, „hören Sie?: Hochklappbar, ich hab Decken und Kissen da drin. Praktisch, nicht wahr?”
„Das haben Sie durch solch ein... ein Loch gebracht?”
„Das war kompliziert, da haben Sie recht. Aber ich hatte mich vorbereitet, bevor ich ein erstes Mal einstieg.”
„Sie wußten davon?!”
„Sagen wir, es war eine Theorie. Raumzeit-Nähte, wenn Sie so wollen. Schon Zeno... na, das wissen Sie doch. Kierkegaard hielt das Paradox für die einzig wirkliche Wirklichkeit. Daß man mich ausgelacht hat, muß ich Ihnen sicher nicht sagen. Aber es war damals, in Ihrem Damals, am Anfang des Jahrhunderts, nicht wahr?, alles ein wenig primitiv. Ich hab, was ich mitnehmen wollte, an mir festgebunden. Mühsam, ja, aber es klappte. Auch mit der Couch hat es dann später geklappt. – Und Sie?”
„Ich?”
„Wie sind Sie hereingekommen?”
„Es war ein Zufall. Ja, Zufall.”
,,Das ist schlecht,” sagte er. ,,Wirklich schlecht.” Und, ehe ich etwas erwidern konnte, abermals: ,,So ganz ohne Absicht? – Ah, das dachte ich mir.”
„Was dachten Sie sich?”
„Waren Sie schon einmal zurück?”
,,Das ist es ja gerade. Ja, ich war schon zweidreimal... viermal, verzeihung... draußen. Nein, doch nur zweimal, glaube ich.” Ich hatte keine Ahnung mehr. „Doch immer war es anders. Und selbst, wenn nicht: Woran soll ich erkennen, daß ich wieder in der richtigen Welt bin?”
Er kicherte. „Gar nicht”, sagte er. Gab sich einen Ruck, legte mir eine Hand auf den Arm. „Das müssen Sie vergessen, dieses Wort. Es gibt keine ,richtige' Welt, es gibt keine ,falsche'. Und es ist auch nicht wahr, daß alles Schein sei. Aber wahrscheinlich sind Sie verheiratet.”
,,Ich habe eine Frau, ja.”
,,Schlecht.” Er nickte. „Sehr schlecht. Sie lieben Sie?”
„Verzeihung, ich wüßte nicht...”
„Da werde ich Ihnen nicht helfen können. Ich selbst habe meinen ersten Weg und den Weg hierher markiert. Unsichtbar markiert, nur für mich sichtbar markiert. Damit die es nicht sehen.”
„Die?”
“Wanderer. Die haben ihre Freude daran, einen zu schädigen. Die würden meine Zeichen auslöschen, zerkratzen, sie anderswo anbringen. So ist ihr Charakter. Das ist der einzige Spaß, den sie kennen. Sie sind die einzigen, vor denen ich mich fürchte. Aber ich bin ja nicht unbewaffnet.”
„Bitte?”
„Meine Augen doch! Meine noch immer scharfen, ungetrübten Augen. Wahrscheinlich sind wir beide derzeit die einzigen Wesen, die im Labyrinth noch sehen können.”
,,Aber was soll ich tun? Es muß doch einen Weg zurück geben!”
,,Sicher, es gibt ihn. Aber finden, mein Freund, finden!” Er schlug die Beine übereinander und hob mit abgespreiztem kleinen Finger die Tasse. Vorsichtig, mit spitz vorgestülpten Lippen, nahm er ein Schlückchen. ,,Da haben Sie sich was Schönes eingebrockt.”
,,Wie hätte ich sowas denn ahnen sollen?!”
,,Ich hab's Ihnen gleich angesehen, daß Sie ein Wanderer sind”, sagte er. „Ich hatte von Anfang an keinen Zweifel. Aber daß Sie mit mir sprechen, zeigt, Sie sind noch sehr jung.”
[Korrektur: 7. August 2004.]
albannikolaiherbst - Montag, 2. August 2004, 21:55- Rubrik: FORTSETZUNGSROMAN
Mit flehendem Blick, denk ich heute, werd ich zu dem Loch hochgeschaut haben, doch eine nächste Spontanflucht gelang nicht. Vielleicht weil mich Clausnitzer am Arm nahm.
„Wir müssen uns jetzt wirklich beeilen.“
Fünf Minuten später stand ich am Kopfende des Tischs im Besprechungszimmer, und Clausnitzer, nach kurzer Begrüßung der Anwesenden, bat mich um den hinleitenden abstract. Verwirrt stand ich den Kollegen gegenüber, stotterte einige mikrobiologische Einleitungsfloskeln, dann, geradezu mechanisch, warf ich ein paar Formeln aus dem Ärmel, die von irgendwo aus dem Inneren meines Unbewußten stiegen, ohne daß ich selbst mit ihnen irgendetwas hätte in Verbindung bringen können. „Dimethyltryptamin“, sagte ich schließlich, „ist, wie Sie wissen, diesem aus Krötensekret gewonnenen Bufotenin außerordentlich ähnlich.“ Ich drehte mich um, während ich das Kreidestück aus der Kitteltasche fingerte, und schrieb den Term an die Tafel. Dann bat ich darum, den Overheadprojektor einzuschalten, und entnahm meiner Aktentasche die vorbereiteten Folien. Zugleich hatte ich keinerlei Ahnung, was ich da eigentlich sprach. Ich wurde immer verwirrter, aber schien etwas unmittelbar Bedeutungsvolles gesagt zu haben, denn die Kollegen wurden auffällig unruhig, tuschelten sogar; zweidrei starrten mich fassungslos an. Und stellten Fragen. Ich merkte, wie ich lächelte, daß ich amüsiert war, aber ich bekam nicht mit, worüber. Ein Mann wurde latent aggressiv. Glücklicherweise fuhr mein rechter Zeigefinger über die Oberfläche des Konferenztisches. Ein Altar, dachte ich, das ist ein Altar! Ich ertastete eine Vertiefung in der Platte des Konferenztisches. Während ich mich dahineinversenkte, sprach ich so beiläufig wie möglich weiter, spottete, glaub ich, sogar... und murmelte noch, als ich mich längst den Schacht hinabschob.
Zum ersten Mal drang ich nun gleichsam von oben in die Zwischenwelt ein, immerhin nicht kopfüber, sondern ich klomm mit den Füßen voran, langsam und immer wieder nach neuem Halt tastend, schachtabwärts. Die sich bisweilen verbreiternde, zweidreimal aber auch ziemlich engwerdende Röhre läßt sich, glaube ich, am besten mit einem Kamin vergleichen, in dem ein Bergsteiger klettert. Es war eine anstrengende Fortbewegung, ich hatte ziemliche Angst abzustürzen. Dennoch war das nicht ohne Reiz, es war ja durchaus komisch, was im Innern des Konferenztisches vor sich ging, vor dem, ich war mir ganz sicher, die Kollegen immer noch standen, um einem Mann zuzuhören, ihm zuzustimmen, ihn zu befehden, der, ohne daß sie es gemerkt hatten, ausgetauscht worden war. Denn selbstverständlich war von irgendwoher ein anderer Zilts in den Kittel gefahren, um meine kurze Rolle weiterzuspielen. Ich konnte nur hoffen, er sei vertrauter mit der Materie, als ich es eben gewesen war. Und angelte schon mit beiden Füßen im Freien. Unter mir der Lichtdunst, der mich keinen Boden erkennen ließ. Sollte ich einfach loslassen? Doch die Säle waren hoch, ich wollte mir nicht den Knöchel verstauchen. Und was, wenn am Grund unter mir ein anderer Schacht wieder hinausführte und ich einfach durchfiele? Aber es blieb keine Wahl.
Tatsächlich war dieses Relais kaum mannshoch, und es gingen ausschließlich Schächte nach oben von ihm ab. Ich mußte mich bücken, um den Kopf aus meinem Eingang zu bekommen. Mußte sogar ungefähr hundert Meter gebückt weiterschreiten, bis sich die Decke allmählich hob und der sonst diskusweite, flache Raum, der mich spontan an eine Umwälzmündung erinnerte, aus deren Decke Hunderte Klimaröhren führten, nicht nur verengte, sondern zu einem der Gänge wurde, wie ich sie kannte. Nach vielleicht weiteren fünfhundert Metern kam ich in einem der üblichen Verteilersäle heraus.
Aber ein älterer Mann saß zwischen drei Tapetentischen, die er u-förmig aneinandergestellt und mit Büchern, unzähligen Blättern, Stiften und lauter, meist leeren Bonbontüten angefüllt hatte, neben ihm zwei Kaffeebecher. Er trug einen braunkarierten Anzug, Stulpenstiefel und Seidenfliege. Es gab eine Couch und weiter hinten eine Kommode, aus deren unterer aufgezogener Schublade Wäsche quoll, ein paar Wasserkanister, eine Waschstelle. Die Szenerie hatte etwas völlig Unglaubwürdiges. Aber es war keine Fantasmagorie, denn als ich hüstelte, drehte er sich, den Federhalter noch in der Hand, herum und sagte mit frischer, fast aufgeräumter Stimme: „Sieh da, sieh da! Ein Wanderer.“
Ich blieb stehen, schwieg wieder. Es läßt sich nicht anders sagen: Der Mann hatte, so freundlich er auch wirkte, etwas Bedrohliches.
,,Ja, da staunen Sie, nicht wahr?" sagte er und stand auf. Ging auf mich zu, elastisch, für sein Alter, meinte ich, viel zu agil. Mißtrauisch tat ich einen Schritt zurück. Er bemerkte es und blieb stehen. "Sagen Sie?“, fragte er, „verstehen Sie mich?“ Und wie in sich selbst: „Es wäre schon ein arger Zufall.“ Wieder zu mir: „Do you speak English? Parlez français? Italiano?“ Dann irgendwas, das russisch klang, asiatisch, schließlich: „Seguro que usted eres un español?“ Als ich aber nun immer noch nichts sagte, rieb er sich mit zwei Fingern der Rechten die Nase und murmelte wieder für sich selbst: ,,Nun, dann eben nicht. Ich sag's ja immer: scheues, verlorenes Völkchen.“ Freundlich sah er mich an. „Wie schade. Wirklich schade. Aber gut. Wissen Sie, mein Freund, dann gehen Sie halt Ihres Weges. Und lassen mich alten Mann meinen Studien nachgehen. Nein, nein, ich will nicht unhöflich sein, Sie können auch bleiben, legen Sie sich meinetwegen etwas auf die Couch. Vielleicht werden Sie ja gesprächig, wenn Sie etwas Vertauen gefaßt haben.“ Und mit dem Seufzer „was für arme Tiere!“ wandte er sich weg. An seinem Platz beugte er sich, als hätte er mich vergessen, abermals über seine Papiere. Schlug ein Buch auf, blätterte in ein paar aneinanderhängenden Listen oder Tabellen. Dennoch, er konnte mich nicht täuschen. Aus dem Augenwinkel, spürte ich, beobachtete er mich sehr genau, ja achtsam weiter. Als ginge nicht von ihm, sondern von mir Gefahr aus.
In diesem Momente war erneut eine Prozession zu hören: Musik aus Kofferradios, Germurmel, das helle blecherne Schellengeklapper. Schon traten die Leute wie ein zäher Fluß aus dem Gang und zogen sich, ohne auf uns auch nur zu achten, zwischen uns hindurch. Konsterniert starrte ich ein paar Minuten später dem sich durch den gegenüberliegenden Gang davonwindenden Zug hinterher, der dem lesenden Mann gewissermaßen durch das Wohnzimmer geflossen war. Auch er starrte hinterher, aber irgendwie melancholisch, als hinge er Erinnerungen nach.
,,Sagen Sie, wer sind die?" fragte ich endlich.
Langsam wandte er sich zu mir. ,,Ach, die haben sich beim Sterben noch einmal davongestohlen. Jetzt ziehen sie hier herum in ständiger Furcht, durch einen Schacht in ihren Tod zurückzufallen. Aber glauben Sie mir, die Wahrscheinlichkeit, daß das passiert, ist gering.“ Er lächelte. „Soso“, sagte er. „Sprechen können Sie also d o c h.“
albannikolaiherbst - Samstag, 31. Juli 2004, 20:25- Rubrik: FORTSETZUNGSROMAN
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(...)
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Der Ritt auf dem Pegasos ist nicht ganz ungefährlich,...
werneburg - 2018/01/17 08:24
Pegasoi@findeiss.
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albannikolaiherbst - 2018/01/17 07:50
Vom@Lampe Lastwagen fallen.
Eine ähnliche Begegnung hatte ich vor Jahren in...
albannikolaiherbst - 2018/01/17 07:43
findeiss - 2018/01/16 21:06
Pferde
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dann stimmt auch die zeitrechnung
http://alban nikolaiherbst.twoday.net/s tories/interview-mit-anady omene/
und...
Anna Häusler - 2018/01/14 23:38
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sehr bewegend dein abschied von der löwin, der...
Anna Häusler - 2018/01/14 23:27
Bruno Lampe - 2018/01/11 19:30
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Seit einer Woche war die Wasserrechnung fällig und ich somit irgendwie gezwungen, doch noch das Postamt ... Bruno Lampe - 2018/01/07 20:34
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Epifania del Nostro Signore und Apertura Staordinario des einen Supermarkts - Coop. Seit dem ersten Januar ... Bruno Lampe - 2018/01/03 19:44
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Das Jahr begann mit einer unvorgesehenen Autofahrt bzw. mit der Gewißheit, mir am Vormittag Zigaretten ... albannikolaiherbst - 2018/01/03 15:16
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