Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

e   Marlboro. Prosastücke, Postskriptum Hannover 1981   Die Verwirrung des Gemüts. Roman, List München 1983    Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger. Lamento/Roman, Herodot Göttingen 1986; Ausgabe Zweiter Hand: Dielmann 2000   Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2001   Wolpertinger oder Das Blau. Roman, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2000   Eine Sizilische Reise, Fantastischer Bericht, Diemann Frankfurtmain 1995, dtv München 1997   Der Arndt-Komplex. Novellen, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1997   Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1998 (Erster Band der Anderswelt-Trilogie)   In New York. Manhattan Roman, Schöffling Frankfurtmain 2000   Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin Verlag Berlin 2001 (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie)   Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, Schreibheft Essen 2002   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Bis Okt. 2017 verboten)   Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Poetische Features, Elfenbein Berlin 2004   Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen, tisch7 Köln 2005   Dem Nahsten Orient/Très Proche Orient. Liebesgedichte, deutsch und französisch, Dielmann Frankfurtmain 2007    Meere. Roman, Letzte Fassung. Gesamtabdruck bei Volltext, Wien 2007.

Meere. Roman, „Persische Fassung“, Dielmann Frankfurtmain 2007    Aeolia.Gesang. Gedichtzyklus, mit den Stromboli-Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage ohne ISBN, Galerie Jesse Bielefeld 2008   Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen, Manutius Heidelberg 2008   Der Engel Ordnungen. Gedichte. Dielmann Frankfurtmain 2009   Selzers Singen. Phantastische Geschichten, Kulturmaschinen Berlin 2010   Azreds Buch. Geschichten und Fiktionen, Kulturmaschinen Berlin 2010   Das bleibende Thier. Bamberger Elegien, Elfenbein Verlag Berlin 2011   Die Fenster von Sainte Chapelle. Reiseerzählung, Kulturmaschinen Berlin 2011   Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks Bern 2011   Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I, Kulturmaschinen Berlin 2012   Isabella Maria Vergana. Erzählung. Verlag Die Dschungel in der Kindle-Edition Berlin 2013   Der Gräfenberg-Club. Sonderausgabe. Literaturquickie Hamburg 2013   Argo.Anderswelt. Epischer Roman, Elfenbein Berlin 2013 (Dritter Band der Anderswelt-Trilogie)   James Joyce: Giacomo Joyce. Mit den Übertragungen von Helmut Schulze und Alban Nikolai Herbst, etkBooks Bern 2013    Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman. mare 2015.   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Seit Okt. 2017 wieder frei)
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FORTSETZUNGSROMAN

Azreds Buch. Eine Erzählung. Eins.

Ich wohne zur Untermiete. Mein Vermieter heißt Mielke. Er ist dickli­ch und rotwan­gig. Hat oft ner­vöse Flecken auf Stirn und Hals. Wirkt auch meist müde. Manchmal aber bekommt er Anfälle von zielloser Hektik. Dann kann er einem lä­stig werden. Sonst aber ist er harmlos. Jemand erzählt mal von irgendwas Schlimmem, das Mielke auf dem Kerbholz ha­t. Mir ist das schnuppe.
Klar ist, daß Mielke sich fürchtet. Er hat ein komisches Mißtrauen ge­genüber Tieren, gegen Pflan­zen sogar. Ganz beson­ders fürchtet er Stürme. Bisweilen hält er nach dem Mond Ausschau. Der scheint ihm Panik zu machen. Trotzdem ist er kein Irrer. Er ist eher ein Spießer. Manchmal ist er arg ordinär, dann wieder pe­nibel. Außerdem hat er diesen schen­kelklatschenden Humor.
Anfangs ist er unzugäng­lich, brummig, bisweilen sogar grob. Ich hab fast ein Jahr lang das Ge­fühl, daß er mir das Zimmer nur widerwillig vermietet hat. Doch macht er auch nicht den Eindruck, auf solche Zusatzeinkünfte angewiesen zu sein.
Eines Abends fragt er mich, ob ich nicht eine Partie Halma mit ihm spielen wolle. Ich bin so verdattert über das Angebot, daß ich drauf eingeh. Seitdem spielen wir jeden Montag bis in die frühe Nacht. Al­ler­dings sprechen wir dabei kaum. Schließlich sitzen wir noch etwas beisammen. Spätestens um elf begibt er sich zu Bett. Plötzlich jedoch, Anfang Juni, wird er gesprächig. Erstaunt starr ich ihn an. Erst ist es nur wie ein Selbstgespräch. Er steht vom Tisch auf und setzt sich in einen Ses­sel. Plappert weiter. Nimmt die Zigarrenschatulle vom Schrank. Bietet mir an, aber ich rauche ja nicht. Er pafft. Er klöpfelt mit den Fin­gerknöcheln auf den Holzleh­nen herum. Das ist sehr penetrant. Ich will schon gehn, da ruft er:
„Bleiben Sie, Herr Baumann, bleiben Sie noch ein Weilchen bei mir!“
Ich nehme bei ihm Platz, räus­pere mich.
Er spricht jetzt deutlicher. „Ich - wie soll ich sagen? - habe mich sehr an Sie gewöhnt und bin Ihnen - nein, wehren Sie nicht ab!... bin Ihnen dank­bar für Ihre Ge­sellschaft.“
Was will er von mir?
„Jetzt habe ich doch jemanden,“ fügt er obendrein bei, „der ein Auge wirft auf mich und sich gewissermaßen um mich küm­mert. - Wir kennen uns jetzt doch schon lange, nicht wahr?, und Sie dringen niemals in mich, wenngleich ich... ge­wisse Absonderlichkeiten...“ Er schenkt mir ein, hü­stelt abermals, verstummt, sieht mit blassem Aus­druck zum Fenster. „Es gibt, müssen Sie wissen, in meinem Leben Ver­hältnisse... Verhängnisse, will ich einmal sagen, die es notwendig machen, mich zurückzuzie­hen und gänz­lich zu ver­schließen.“ Er reibt ein Streichholz an. Zittrig hält er’s an die weiß­graue Asche, pafft neue Glut. „Es ist nämlich an dem, daß ich et­was verwahre, vor dem man die Menschheit schützen muß,“ erklärt er.
Ich lache.
„Haben Sie jemals Spuren von Geisteskrankheit an mir bemerkt?“
„Ich bitte Sie!“
Neuerliches Räuspern. „Ich beobachte Sie jetzt über ein Jahr... be­obachte Sie genau, des­sen dürfen Sie versichert sein. Sie sind ein verantwortungsbewußter Mensch, und Ihnen darf man, glaube ich, unum­schränkt vertrauen. Sie geben nicht viel auf Gerede, dessen,“ ein Keckern, „bezüglich meiner Per­son, ich weiß wohl, einiges umgeht.“
„Man quasselt viel.“
„Denken Sie bitte nicht, mir sei das unlieb. Ganz im Gegenteil. Sie dürfen mir glauben, daß Ursprung des kursierenden Unsinns ich selber bin. Ich muß mich ver­bergen. Doch der Dämon ist schlau. Er ist be­reits in der Stadt. Ich bin mir absolut sicher. Es ist nur noch eine Frage der Zeit...“ Ver­stummt. Pafft. „Ich bin alt jetzt und habe ein Recht auf meine Ruhe, und selbst eine endgültige ist mir lieb. Aber ich muß Vorsorge treffen über mein Ableben hinaus.“
„Ich kapier nicht ganz.“
„Mögen Sie sich niemals fragen, weshalb einer wie ich einen Un­termieter ins Haus nimmt? Las­sen Sie uns offen reden! Mir ist vollkommen klar, daß Sie sich Gedanken machen über mich. Sie werden ahnen, daß es mir nicht um Mieteinnahmen geht. Nur: Dieser gewisse An­strich von Primitivität, den ich mir gebe... meine ziem­lich...“, er stockt, „...wenn ich einmal so sagen darf: - spießige Isola­tion... - Ich muß etwas ausholen. Tut mir leid. - Von Haus aus bin ich Archäo­loge. Ägypto- und Semitologe, um ge­nau zu sein. Und eines Tages, ich bin, glaube ich, gera­de dreißig, besucht mich ein überaus witzi­ger Irani, bis in die Fingerspit­zen gebildet, indessen nicht ohne hab­ituel­len Spleen. Er stellt sich mir in ir­ritierend altertümli­chem Englisch, das zudem das mittelöstli­che Idiom verzerrt, als Professor Djahangir Hazegnehad vor. Kaum in mein Arbeitszimmer gebeten, kommt er auf mich zuge­zappelt. Denn seine Extremitäten sind in fortwährend asynchroner Bewegung, als fehlte ih­nen ein steuerndes Zentrum. Rück­sichtslos wirft er seinen gesteppten Mantel über meinen Schreibtisch. ‘Welch ein Glück,’ ruft er, ‘daß ich Ihnen endlich, endlich begegne!’ Er rümpft die Nase und wirft die Oberlippe auf, so daß man seine langen, nagetier­artigen Vorderzähne sehen kann. Möglicherweise ist das als Ausdruck wirklicher Freude gemeint, wirkt indessen gehässig auf mich, und Sie dürfen mir glau­ben, Herr Baumann, daß ich mich auch später nicht daran gewöhne. Seine mimi­schen Ge­stiku­lationen legen alle meine physiognomi­schen Vorurteile frei. Er läßt sich auf die Couch fallen, und nicht etwa, daß er darauf sitzen würde, nein, er liegt und baumelt über der Lehne mit den Beinchen. Dazu steckt er einen Zigarillo an. Ich bin derart perplex, daß mir zu protestieren gar nicht erst einkommt. Das scheint ihn zu amüsieren. Er macht einen damals üblichen Ägyptolo­genwitz in frühem Kanaanitisch und eröffnet mir, mit allergrößtem Interesse jede meiner Pu­blikatio­nen nicht zu lesen, nein zu trinken. Nun aber, durch meinen, ich müsse zugeben: aus­gesprochen theologi­schen Aufsatz im Archäologischen Monatsspek­trum, sei ihm schlagartig klar, ich sei der Mann, den er brauche. Er nehme mich also in Dienst. So seine Worte. Ich mö­ge meinen Ver­pflichtungen kündigen, frist­los, bitte sehr, für Konventionalstrafen stehe er ein. Der Vertragsent­wurf sei vorgefertigt. Er zieht ein Pa­pier aus dem Jac­kett. Ich frage, worum es überhaupt gehe. - ‘Wir reisen übermorgen nach Schottland,’ antwortet er. ‘Hier sind die Tickets. Eine Expedition.’ - Nun müssen Sie wissen, Herr Baumann, daß meine da­maligen Verpflichtungen, deren Existenz er offensicht­lich voraussetzt, so groß durchaus nicht sind. Ich halte mich mit gelegentlichen popularwissenschaftlichen Publikationen leidlich über Wasser. Deshalb rennt der Irani ei­gentlich offene Türen ein. Was ein Ägypto­loge aller­dings in Großbritannien finden will, ist mir ein Rätsel. Da ich dies ein­wende, lacht er und legt mir, anstelle ei­ner Antwort, einen Packen Geldnoten auf den Tisch. Mutwillig, in boshaftem Tri­umph - ganz recht, Herr Baummann! -, in boshaftem Triumph verkündet er zu wissen, wo sich die Handschrift Abdhul al Azreds ver­wahre. - Sie müssen zu­geben, daß das entschieden stark ist.“
„Abdhul..?“ - Ich habe nicht den leisesten Schimmer, wovon er spricht.
„O verzeihen Sie. Az­red also. Eine Legende. Er soll im 8. Jahrhundert leben. Nur literarische Quellen bezeugen seine Existenz. - Sagt Ihnen Cthullu etwas?“
„Nö.“
„Ein Dunkelgott, dessen Walten Azred eben in diesem Buch be­hauptet. Die Handschrift enthält zudem detail­lierte Auskunft über Bebet el Jjn, die irgendwo im Zweiströmeland unter­irdisch gelegene Dämonenstadt, worin man der Weltherrschaft harrt.“
„Ach du liebe Güte!“
„Eine Art Kloster wahrscheinlich. Schliemann schon sucht vergeblich danach. Insofern kommt mir das Ansin­nen Hazegnehads ziemlich bizarr vor. Andererseits... Gäbe es, denke ich, nun doch einen handfesten Hin­weis, es wäre phänomenal! Stellen Sie sich vor, was ein solcher Fund für die Karriere eines jungen Wissen­schaftlers bedeutet! Man hört und liest ja vielerlei Ver­rücktes, das man dafür auch hält; insgeheim in­dessen lockt es einen doch. Es ist aber nicht dies All­gemeine, was mich schließ­lich motiviert, den Vertrag zu unter­schrei­ben, sondern Ha­zegnehad macht sogar in Einzel­heiten einen derart in­formierten Eindruck, daß er mich nach kaum einer Stunde fast überzeugt. - Das Buch, um das es geht, wird offenbar zwi­schen 730 und 738 nach Christus geschrieben, und zwar als Bericht einer Reise, die Abdhul al Azred von Jemen zu den Ruinen von Babylon und von dort in die vor­gebliche Geister­stadt führt, worin er drei Jahre zu­bringt. Ha­zegnehad behauptet, Azred verfasse das Buch gar nicht selbst, sondern nehme frühere, weit vor die Zeiten­wende ins oberä­gyptische Per-Besket rückreichende Überlieferungen an sich, die er lediglich ergänze. Zu großen Teilen nämlich seien sie nicht in ara­bischem Dialekt geschrieben, sondern Hieroglyphen füllten die Sei­ten. - ‘Aber Professor!’ rufe ich. ‘Sie wollen doch nicht allen Ern­stes behaupten, das Ding existiert?’ - ‘Nicht weniger als Sie selbst. Es ist wahrscheinlich der längste zusammenhängende ägypti­sche Text, den es überhaupt gibt.’ - ‘Weshalb hört man dann nie et­was davon? Warum publizieren Sie niemals darüber?’ - ‘Ach was!’ Er springt auf, zappelt energisch an mich heran, zieht mich mit ei­ner für ihn erstaunlichen Kraft am Jac­kettaufschlag zu sich hinab. ‘Ich will es für mich behalten. Sollen etwa profane Leute Einsicht nehmen dürfen?! O nein, nein! Und außer­dem...’ Er verstummt mit pfiffig-spitzigem Aus­druck. *Außerdem ist es mir wieder weggenommen.’ - ‘Von wem?’ - ‘den Mönchen.’ - ‘Mön­che?’ - ‘Hören Sie, es ist so: Ich finde die Handschrift in einer Kapelle bei Glen Tromie.’ - ‘In Schottland?’ - Er nickt. ‘Jahrelang, glauben Sie mir, verfolge ich die Spur, gehe sämtlichen Indizien nach, bis ins 17. Jahrhundert zu Robert Blake. - Dessen Namen kennen Sie wohl?’- ‘Bedaure.’ - ‘Einer der mäch­tig­sten Scharfmacher der Inquisitionszeit. Ur­sprünglich einfacher Mann, Fleischhauers­sohn. Aber von geradezu wunderbarer Brutalität und denunziatorischem Genie. Aus politischen Gründen protegieren ihn die Presbyte­rianer. Er verlegt sich auf die Inquisition. Zwar überspringt sie Eng­land. Aber in Schott­land faßt sie Fuß, und nicht zuletzt durch ihn. Virtuos ­handhabt er sie. Dann aber, nach Crom­wells Sieg, muß der kluge Mann fliehen. Jedenfalls ver­schwindet er aus den Annalen. - Doch ich, mein Herr, kenne die wirkli­chen Begebnisse. Tatsächlich nämlich gründet Blake einen Ge­heimorden, der bis heute macht­voll existiert und sich jeweils aus wenigen, hand­verlesenen Männern rekrutiert. Gegenwärtig findet er besonders in den USA Zulauf und stellt dort mittelbar viele Funktionäre des öffentli­chen Lebens.’ Er lächelt. ‘Sein Zentrum ist allerdings wie je eine halbverfallene, unscheinbare Kapelle bei Glen Tromie. Dort, öffentlich zugänglich, verbirgt sich das Heilig­tum der Sekte’ - ‘Azreds Buch?’ - ‘Sehr richtig. Ich decke dies alles auf aus sa­gen wir: logisti­schen Gründen und...’, er zuckt wie be­schämt mit den Schultern, ‘muß es entwen­den. Stellen Sie sich vor! Ich komme an, niemand ist da, den ich bitten kann, mir Einsicht zu gewähren... nein, das Buch liegt ganz of­fen da, der Zeit, dem Verfall anheimge­ge­ben... Da bleibt einem, mein Freund, doch gar keine Wahl!’ - ‘Und weshalb besitzen Sie das Buch nicht mehr?’ - ‘Ach, Herr Doktor!’, ruft er. ‘Man jagt es mir wieder ab!’ - ‘Wer?’ - ‘Die Mönche. Eines Morgens ist es weg. Eine Fensterscheibe entzweigeschlagen, ein Einbruch.’ - ‘Nun gut, aber wozu brauchen Sie mich bei alledem?’ - ‘Sehen Sie mich an! Ich bin klapprig über die Jahre und verstehe mich gesund­heitlich nicht mehr auf Abenteuer. Es ist eine ziemliche Kraxelei dorthin. Andererseits kann ich ja nicht jemandem X-beliebiges ver­trauen. Ganz und gar unmöglich. Ich brauche wen, der wenigstens so inter­essiert an dem... dem Buch ist wie ich selbst. - Denken Sie an die Wissenschaften, mein Freund!’ - ‘Ich soll es für Sie stehlen? Ich bitte Sie!’ - ‘Aber was denn?! Wer hat denn etwas davon, wenn die Schrift unter den Händen solcher... Irren - denn es sind Irre, glauben Sie mir! -, ... wenn es verstaubt, verfällt und gänzlich un­gelesen, unentziffert bleibt?! Das, mein Herr, ist das Verbrechen!‘- Vielleicht, Herr Baumann, können Sie verste­hen, daß alledies mich doch zu reizen beginnt, wenn auch - ich gebe es zu -die Geschichte, die mir Hazegnehad auftischen will, an allen Ecken und Kanten klap­pert. Ginge es auch nur darum, ich lehnte vielleicht sogar ab, aber das Honorar, das Hazegnehad bietet, ist fürstlich!“
„Sie begleiten ihn also nach Schottland?“
Mielke nickt.
„Und finden Sie das Buch?“

[Wird morgen fortgesetzt.]

Azreds Buch. Eine Erzählung. Zwei.

2. Fortsetzung. Von >>>> hier:
„Sie begleiten ihn also nach Schottland?“
Mielke nickt.
„Und finden Sie das Buch?“
Er pafft. Er hüstelt. „Alles ist anders, als Sie denken. Von einem Orden nämlich gibt es keine Spur. Hazegne­had führt mich auf ein sumpfi­ges Hochland, winddurchjagt. Nur selten und versteck­t kauern Gehöfte darin und Baracken, die Schä­fern zum Un­terstand dienen. Obendrein ist Ha­zeg­nehad kein ange­nehmer Reisege­fährte. Nicht daß er mich irgendwie bedrängte oder be­lä­stigte, nein, meist läßt er sich gar nicht sehen, setzt mich gewis­sermaßen in den Gasthäusern ab und... ja, ver­schwin­det oft für Stun­den, wenn er mir aber Gesell­schaft leistet, dann... wie soll ich sa­gen? Er strahlt et­was Widerwärtiges aus. Allein seine Gegenwart macht aggressiv, die Art, wie er spricht, sich bewegt, wie er zu Zeiten die Unter­lippe und sogar die Ober­lippe schürzt. Das ist ganz widerlich! Dieses schmat­zende Geräusch, das seine Wangen einsaugt und losläßt... all dies... Und doch gibt er sich Mühe, mich bei Laune zu halten. Seine Bildung geht in der Tat über je­des Maß. Er hat eine Art, von Cheops zu sprechen, so bildhaft wie erschreckend, daß man den Eindruck ge­winnen muß, er kenne den Pharao von Angesicht. Zu­gleich ist Hazegnehad begabt in allerlei my­stisch-sym­bolischen Spekulationen, zum Beispiel wenn er von der Großen Pyramide spricht. Sie wissen vielleicht, daß sie heraus­fällt aus dem Grundriß der and­ren, weil ihre vier Seitendreiecke nicht eben, sondern in der Mit­tellinie nach innen geknickt sind?“
„Nein, wußt’ ich nicht.“
„Hazegnehad glaubt, die­ser Knick diene einer Lichtöffnung, die den Weltenbrand aus­löst, ganz ähnlich wie das Gangsystem dem Polsprung Vor­schub leistet, der Bedingung jeder Sint­flut sei.“
„Was soll um Gotteswillen ein Polsprung sein?“
„Das Buch verzeichnet die Theorie, es kehre sich aufgrund eines Gleitens der Erdkruste über den Erdkern die irdische Magnet­polung um. Tatsächlich können Bohrun­gen heute anhand des Gesteinsschmelzflusses zei­gen, daß dergleichen im Lauf der Jahrtausende vorkommt. Erst schwächt sich die Feldstärke des irdischen Magnetfeldes ab, allmäh­lich und bis auf 10 %, dann beginnt der Pol wild zu pendeln und wandert in einem zitterigen Kreis um die Nordregion. Und schließlich, mit einem heftigen Ruck, kippt er in die umgekehrte Richtung. Nun baut sich das Magnetfeld wieder auf. Dies sei im Gangsystem der Che­opspyramide darge­stellt.“
„Das klingt arg verrückt.“
„Soweit sich Feinschichten mit magnetischen Kristallen datieren lassen, dau­ert ein sol­cher Vorgang eintau­send bis viertausend Jahre. Daß der Ruck nicht ohne Katastro­phe abgeht, können Sie sich vorstellen.“
„Hm.“
„Wir sitzen im Frühstückszimmer eines Edinburgher Hotels, als Hazeg­nehad mir davon und anderes Seltsame erzählt. Stets tut er es wit­zelnd und doch - oder deshalb - sehr zwingend. Das bündelt meine Einbildungs­kraft auf einen ganz bestimmten Punkt. Ich habe das Gefühl, je weiter ich mich ein­lasse, desto weniger komme ich ihm noch aus. Draußen schüttet es Wasserei­mer, es ist kalt, ein heftiger Wind geht und peitscht Zweige ans Fenster. Übrigens... wenn ich sage, wir früh­stücken, so tue das nur ich, - ihn sehe ich niemals irgend eine Nah­rung zu sich nehmen. Er trinkt aller­dings. Aber lediglich Wasser... pures Wasser, erwärm­tes Wasser, mehr nicht.“
„Und dann?“
„Gut, wir reisen in den Norden, nach Glen Tromie. Ich sagte schon: ein ödes Land. Ich ha­be den Eindruck, er kenne das Gebiet genau, und stets weiß er, wo man wel­ches Gefährt nehmen kann und wo in welche Abzwei­gung zu biegen. Unsere vorletzte Sta­tion ist ein Dorf, in dem es kein Wirtshaus gibt; wir kommen bei einem Bauern unter, der sich ziemlich gut bezahlen läßt da­für. Am nächsten Morgen brechen wir zu Fuß auf, um jene Ka­pelle zu erreichen, von der mein Führer so oft, wenn auch in letzter Zeit immer sel­tener spricht. Es ist ein mühseliger, gewiß vier Stunden währender Marsch, quer durch aufgeweich­tes, morasti­ges, von waden­hohem zähem Gesträuch bewach­senes Land. Endlich erreichen wir unser Ziel. Oder noch nicht ganz. Doch hier beginnt nun mein Ver­hängnis. - Jetzt lächeln Sie wieder..! Das ist beleidi­gend für mich!“
„Verzeihung.“
„Wir langen bei einer Hügelkette an. Unversehens gibt es Birken, bisweilen Pap­peln; und wäre nicht der Him­mel wolkenverhangen, der Prospekt könnte sogar lieb­lich sein. In­dessen backt einem schwerer Schlamm an den Stiefeln. - ‘Ich fürchte,’ sagt Hazegne­had, den plötzlich kurzer Atem quält, ‘Sie müssen allein weitergehen. Verzei­hen Sie, es übersteigt meine Kraft. Außerdem möchte ich nicht gern, daß man mich erkennt.’ - ‘Wer soll Sie hier erkennen?!’ - ‘Aber der Wächter doch!’ ruft er da. ‘Sie bemerken ihn nicht, ich aber... ich rieche ihn schon!’ - Er beschreibt mir den Weg. Keine zehn Minuten von hier befinde sich die ge­suchte Kapelle. Ich könne sie gar nicht ver­fehlen.“
„Sie erreichen sie?“
Er lacht klamm. „Gewiß. Aber stellen Sie sich vor, Sie schla­gen sich durchs Unter­holz, geraten an eine Lich­tung, erwarten eine Kirche oder so etwas, aber alles, was Sie sehen, ist ein Me­galithgrab... Hünengrab, Sie wissen schon. Und trotzdem, Sie wissen sofort, Sie spüren es: Sie sind am Ziel. Von Menschen, geschweige Wächtern freilich keine Spur. Alles einsam, wie unberührt. Vorsichtig schreite ich näher, bleibe mehrmals stehen, lausche. Amselgezänk, eine Rohr­dommel mal. Ich bücke mich und zwänge mich unter dem Einstiegsquader ins Innere. Normalerweise ist in sol­chen Gräbern nicht viel Raum, aber in die­sem gibt es zwischen den riesigen Steinen einen recht weiten Platz. Um eine Feuerstelle liegen Abfälle herum, Servietten, Papierbe­cher, auch verschimmelte Reste einer Mahl­zeit, auf denen wimmeln Insekten. In einer Ecke zwei Rucksäcke, Schlafsäcke, ein verschnürtes Zelt. All dies sieht nach sehr über­stürztem Aufbruch von Campern aus. Ich ver­lasse den Bau, schaue mich um, rufe auch ein paarmal ein zögerndes Hallo?, umschreite das Hünengrab, be­trete es, mich duckend, erneut. Sollte ich in den zu­rückgelassenen Sachen nach­schauen? Vielleicht läßt sich herausfin­den, wer die Camper sind. Möglicherweise verbirgt sich ein Un­glück, und man muß Hilfe holen. Wie ich nun die Gepäcksa­chen aus der Ecke ziehe, öffne ich dahinter eine Vertie­fung, in die sie ge­drückt sind, und wieder dahinter lie­gen die Steine nur locker aufeinander. Es zieht von da­her. Man kann sie ohne Schwierigkeit beiseiteräumen. Ich lege eine Art Eingang frei, der sich umstandslos passieren läßt, wenngleich, Herr Baumann, dieses ei­genwillige, dräuende Gefühl, will ich einmal sagen, nun ganz besonders heftig wird. Zudem schlägt ei­nem ein unseliger Geruch entgegen. Ich kann nicht sagen, wo­nach es eigent­lich riecht. Es ist ein dumpfer, süßer Ge­ruch, der etwas Mode­riges hat und an Ka­nalisationsanlagen er­innert. Vermutlich bin ich der erste Mensch, der dieses Verließ be­tritt. Ach welch ein Irrtum! Ich bin nicht abergläubisch. Und doch. Hünengrab spielt ja nicht von unge­fähr auf Hügelgrab an. Und das Hügelvolk, Herr Baumann, ist wesent­liches Element gerade schottischer Legenden: Die Untertage lebenden Schwarzal­ben, fir sìdhe - sid heißt in Lappland Totenheim -, sind direkte Verwandte unse­rer Nibelungen. Die Wilde Jagd, die Tuatha de Dannan. Zerstören nicht die Christen die von ihnen Teufelsbetten ge­nannten Hünengräber eben deshalb so wü­tend, weil man in ihnen Thule fürchtet? All dies Zeugs spukt schlagartig durch meinen Kopf, und ich gewärtige, je­den Moment aus dem Hinterhalt angefallen und nie­der­gerissen zu werden. - Aber nichts dergleichen,“ er lä­chelt, „ge­schieht. Natürlich nicht. Statt dessen..“ Er schweigt erregt, wie um sich zu fassen.
„Ja und?“
„Ich rutsche aus, schlage auf und verliere die Besin­nung. Jedenfalls habe ich den Eindruck, aber habe ihn bei vollem Be­wußtsein. An einem Stein­vorsprung halte ich mich, gehe zwar in die Knie, schütze aber mei­nen Kopf, und als ich wieder hochkomme, hat sich die Höhle zur Gänze verwandelt.“
„Verwandelt?“
„Verwandelt. Und zwar, indem sie sich erschreckend gleichbleibt. Ich weiß, das klingt verrückt, aber sehen Sie: Es müßte ei­gentlich stockdunkel sein hier drinnen; tatsächlich je­doch kann ich sehen, an den Wänden sogar Gravuren erkennen, deren es zahllose gibt, eingetuscht, einge­ritzt, schwarzgrau, mitunter ziseliert, Ornamente in feiner ma­thematischer Harmonie, Symbole, Zahlen, Zahlen und wiederum Zahlen, - und kein Zweifel, daß diese künstlerisch-magischen Spuren nicht megalithischen Ursprungs, sondern erst sehr viel später entstanden sind, wahr­scheinlich im Mittelalter ir­gendwann. Es kreu­zen sich he­bräische, christliche und islamische Sym­bole, ver­schränken sich, will ich einmal sagen, in eine ungute und irgendwie schiefe Geo­metrie. Der Polythe­ismus läßt, Herr Baumann, die Antimaterie nicht zu, der Monotheismus erzwingt sie. Nun erleide ich den Ein­druck die­ser Schiefheit aber nicht nur wegen der Wand­malereien, sondern das gesamte Gewölbe hängt geradezu nichteuklidisch im Raum, will sagen: Es gibt keinerlei Verlaß. Jeder Schritt, den man noch so vor­sichtig setzt, kann unmittelbar in die Rutsche geraten, wie wenn Sie auf­grund von Spiegelillusionen vor Wän­den zurückschrec­ken, die es nicht gibt, gegen andere aber, die Sie nicht sehen, prallen Sie. Plötzlich steigt man auf einer unsichtbaren Rampe diagonal in die Hö­he, was ebenso unerwartet ab­bricht, so daß Sie stür­zen. Und das Licht, Herr Baumann! Ver­mögen Sie sich unter schwar­zem Leuchten etwas vorzustel­len? Alles ist wie umge­stülpt: Die Gegen­stände beleuchten das Licht in all sei­ner Schwärze. Man durch­schreitet Materielles und ver­fängt sich wie in Altweibersommer in Photonenströ­men. Vorn, keine fünf Meter entfernt, gibt es einen rohen hüfthohen Steinquader, dessen genarbte Oberfläche mit einer dünnen, fasrigen, teils zerfressenen, ihrerseits dunkel verfleckten Haut überzogen ist. Daneben, kopf­hoch, steht ein Holzrahmen, wie er Kürschnern zum Aufspannen von Tierfellen dient. Und tatsäch­lich spannt dünn etwas darin. Es ist zwei­felsfrei die Haut eines Mannes. Schlaff hängt noch das Geschlechtsteil daran. Auf einem Baumstumpf liegt, in Zwingen ge­preßt, ein Buch in Quartformat, Leimtöpfe und anderes Buchbin­dermateriel dane­ben; außerdem eine Schublehre, er­staunlicherweise ein ausgesprochen modernes Präzisi­onsinstrument. Ferner gibt es Formalinbehälter, große bauchige, kniehohe Flaschen neben zwei Plastikwan­nen. Ich erkenne Futterale für chirurgisches Be­steck, Retorten, Tätowiernadeln, Farben. Das Inventar nimmt zu, ja ist das Ge­wölbe anfangs, als ich die Au­gen nach meinem ziemlich schmerzhaften Aufschlagen wieder öffne, vollkommen leer, so pro­ji­ziert meine Wahrneh­mung nun immer mehr Gerätschaften hinein, figu­riert sich ein inflato­risch fantastischer werdendes Ensemble, von dem ich doch zugleich überzeugt und vollen Wis­sens bin, es seien nur Requisiten meines Albdrucks. Ich schreie auf. Da bleiben ledig­lich Steinblock und Kürschnerrahmen stehen. Ich fasse vorsichtig die seidendünn gegerbte Haut. Sie kni­stert elek­trostatisch und zersetzt sich dabei, wie wenn die Wärme meines Finger­drucks durch Eisblumen strömte. Aber ich bleibe ja stehen, wo ich bin, bewege mich kei­nes­wegs, denn das Erstaunliche, Herr Baumann, ist, daß ich ohne mich gehe, als hätte sich meine Wahr­nehmung von mir gelöst, ich will ein­mal sagen: Meine Physiologie wird ferngesteuert. Und wie je­mand quer durch Pro­gramme schaltet, in denen er Spielfigur ist, tau­chen unversehens neue und aber­neue Illu­sionen auf. Mal sind es Stühle, zehn, zwanzig, hunderte von Stühlen, durcheinandergerückt und aufeinandergesta­pelt, dann wieder Krüge, Glasvitrinen, Kaffeema­schinen sogar; manch­mal, wenn auch nur für Sekunden, sieht es aus, als stünde ich mitten in einem Warenhaus, dann wieder, als schaltete einer das Licht aus und knipste ein nächstes an, kann ich mich an einen Glas­tisch setzen, um gleich darauf, weil der Boden in Schräglage schwingt, tieferzurut­schen, abermals aufzu­prallen, mich umzuschauen, Funkgeräte auszumachen, Generalstabskar­ten, Zir­kel, Ge­wehre, Helme, Radaran­lagen.“
Mielke verstummt. Ich sehe zur Uhr. Es geht bereits gegen eins. „Und weiter?“

[Wird abermals morgen fortgesetzt.]

Azreds Buch. Eine Erzählung. Drei.

[3. Fortsetzung. Von >>>> hier:
Mielke verstummt. Ich sehe zur Uhr. Es geht bereits gegen eins. „Und weiter?“]
„Keinen Moment,“ sagt er, „bin ich be­reit, was ich sehe, für Natura­lität zu halten. Ich kapiere jedoch nicht, was sol­che Halluzinatio­nen begründet. Deshalb verlege ich mich, während ich träume, auf die Inter­pretation, es sei ein Traum. Meine Imago strudelt vor sich hin, bis die Wirbel plötzlich kontraktieren. Es folgt ihr Kollaps, und erschöpft komme ich aus meiner Ohnmacht zur Besin­nung. - Ich liege tatsächlich am Bo­den, huste in Staub, richte mich auf. Jetzt ist es so dun­kel, wie es sich, will ich einmal sagen, gehört. Ich trage ein Feuerzeug bei mir, damit leuchte ich um mich. Das Funzellicht gestattet einen nur ver­schwomme­nen Eindruck des Ortes. Tatsächlich steht ein Op­ferstein da. Ich weiß sofort, um was es sich han­delt. Auch den Kürschnerrah­men gibt es, in­dessen ist er leer. An­sonsten ist hier drinnen nichts. Glaube ich je­denfalls erst. Dann ein Ge­räusch. Ein erschöpf­tes Seuf­zen. ‘Ist hier jemand?’ frage ich. Wie­derum das Seuf­zen. Es bricht, wimmert. Ich taste mich heran, finde zwei junge Menschen. Das werden die beiden Camper sein. Wie Krempel sind sie in eine Ecke geworfen, ein Mäd­chen, ein Jungen, beide höchstens siebzehnjährig. Nur noch das Mädchen lebt. ‘Töten Sie mich,’ bittet sie. ‘So töten Sie mich doch.’ Die Leiber zusammengekrümmt, Arme und Beine mehrfach ge­brochen. Am entsetz­lichsten jedoch, daß der Junge abgehäutet ist. Blutig, haarig, verschmiert liegt die Haut neben dem blühenden Fleisch­kadaver. Ich würge. - ‘Töten Sie mich!’ Die Stimme verstummt. Ich schnappe das Feuerzeug zu. Ach, Herr Baumann, was bin ich feige! Und anstatt dem Ge­schöpf den Gnadenstoß zu geben oder wenigstens doch hinauszurennen und nach Hilfe zu rufen, bleib ich starr. Und außer­dem... da ist so etwas... etwas wie Neugier. Verstehen Sie recht: Mir kommt das Grauen als irgendwie in Ordnung vor, - in einer fremden, widerwärti­gen, aber doch harmoni­schen Ord­nung, und dem Gefühl, was hier geschieht, gehöre sich so, läßt sich nicht widerstehen. Wer bin ich, den Gang solcher Dinge zu ändern?! Es ist das Ritual einer andren Kultur, dessen Zeuge ich bin. Und wenn sie mich auch ekelt, so habe ich doch kein Recht, ihr den Prozeß zu machen.“ Er sieht auf, weinerlich: „Halten Sie mich jetzt für verworfen?“
Ich antworte nicht. Er will auch keine Antwort hö­ren.
„Ich bin... unvoreingenommener Beobachter, wenn Sie so wollen, bin Experimentator, ein...“, er kichert, „Tierversucher. Das trifft es. Sowie ich zu dieser Inter­pretation gefunden habe, ist es auch gar nicht mehr schwer, meinen Ekel zu fassen und das Feuerzeug abermals anzuschnipsen. Ich lasse die Menschenbün­del beiseite liegen, wider­stehe indes dem unvermit­telt in mir kei­menden Im­puls, die Haut des Jungen auf den Rahmen zu span­nen. Sie dürfen mir glauben, Herr Baumann, daß dies wirklich eine Lei­stung ist. Sie erfüllt mich noch heute mit Stolz. Denn der Vorstellung, dergleichen zu tun, inhäriert ein ich möchte einmal sagen: durchweg erotischer Reiz. Es hat etwas Konvulsivisches, Dio­nysisches, eine glattweg göttliche Erhebung, so etwas... so etwas zu tun und sich derart aus allem, was man darf, ja was auch nur zu denken und sich vorzu­stellen erlaubt ist, herauszuheben. Doch, wie gesagt, ich widerstehe dem. - Üb­rigens: Nur daß ich das vermag, begründet wahrscheinlich, daß ich noch lebe und den Dämon wenigstens vorübergehend zu be­zwingen weiß. Denn eines ist mir bewußt: Mit alledem, was mir begegnet, steht er in Kontakt. Er weiß, was hier ge­schieht. Und dann kommt er sogar selbst.“
„Wer kommt?“
„Nein nein!, er ist schon da. Er ist alle Zeit über hier. ‘So tun Sie es doch’, sagt er. Ich sehe ihn nicht, aber höre seine Fiste­lstimme. ‘Helfen Sie mir mit dem Ein­band. Es wird höchste Zeit.’ - Ich bin durchaus nicht erschreckt und drehe mich ihr zu. Hazegnehad trägt noch sein Cape und auf dem Kopf die Schiebermütze. Er schaltet eine batterie­be­triebene Höhlen­lampe ein, stellt sie auf den Altar. ‘Ich brauche einen ge­bildeten Assistenten.’ Er streift die Mütze ab, schlüpft aus dem Cape, hängt bei­des über in die Wand geschlagene Haken. ‘Nun helfen Sie schon, sonst taugt das da zu nichts mehr.’ - Ich starre ihn an. ‘Wer sind Sie?’ frage ich. - ‘Blake’, sagt er und schürzt die Oberlippe. Das gibt seinem Gesicht einen zugleich komischen wie fei­erlichen Ausdruck. Ich bin sprachlos. Er ergänzt: ‘Und auch al Azred nennt man mich. Und Anposenho­tep. Oder Anu­bis-Sachme, - dies aller­dings vor meiner Geburt, denn daß ich Araber bin, ei­gentlich, schließt den Ägypter aus. Man gibt mir den alten Namen erst in Ch­tullhu.’ Er bückt sich, zieht aus einem Re­gal zwei Kittel, wirft mir einen davon zu. ‘Wir müssen uns jetzt wirklich beeilen, sonst ver­dirbt uns die hübsche Haut. Das Buch braucht einen neuen Einband. Und ich brauch einen neuen Körper. Merken Sie nicht, wie abgenutzt meine Ge­lenke sind? Ach, Sie ahnen ja nicht, wie ich auf meine Erneue­rung warte! - Sie werden mir doch Ihren Körper zur Verfü­gung stellen?’ - Für einen Moment nur erstarre ich. - ‘Das Buch ist genügsam, aber irgendwann fordert auch seine astrale Mechanik ihr Recht. - Reichen Sie die Haut herüber! Und seien Sie doch so gut und bringen endlich das Mädel zum Schwei­gen. Es ist sowieso keine Seele mehr drin.’ Und auf meinen irritierten Blick: 'Ich trinke sie aus und stoße ein Sur­rogat hinein. So erhalten sich die Leiber länger. Es ist, als ent­zöge man Pflanzen ihr Chlorophyll und ersetzte es durch Formalin, - nur daß eben die Haut ziemlich spröd wird mit der Zeit, weshalb wir uns jetzt wirklich,’ er hebt die Stimme, ‘ wirklich wirklich sputen müssen!’ - ‘Was muß ich tun?’ frage ich, aber Sie können mir glauben, Herr Baumann, daß ich längst nur noch weglaufen will. - ‘Zuerst einmal,’ erklärt er in sachlichem Ton, ‘häuten wir auch das Mädchen, dann binden wir das arme Buch, und schließlich bringen Sie mich um. - Nein, nein, sein Sie nicht so entsetzt, Sie opfern nur mei­nen Leib. Ich selbst werde, wenn die Hülle abgestoßen ist, in Sie übergehen. Wir werden dann, glauben Sie mir, viel Freude haben aneinander.’“ Mielke atmet schnell und wird geradezu im Wortsinn kleiner, so sehr versinkt er im Sessel.
„Ihre Situation scheint mir im­merhin ei­nigermaßen aussichtslos zu sein.“ Ich benutze ganz bewußt den ironischen Ton.
„Aussichtslos?“ Er schüttelt langsam den Kopf. „Ist es nicht offensichtlich, daß er mich braucht und nicht ich ihn? Zudem scheint er auf mein freies Zutun angewiesen zu sein. Seine Macht ist also nicht unbe­grenzt und wohl allenfalls hypnotischen Cha­rakters. Und wenn er, will er zu seinem Ziel gelangen, das Buch neu binden und dann sich von mir töten lassen muß, um in mich schlüpfen zu können, dann muß ich mich ja dem bloß verweigern. Verstehen Sie?“
„Na ja.“
„‘Warum gehst du nicht einfach? frage ich mich. Warum drehst du dich nicht kurzerhand um und verläßt diese Höhle?’ - Die Vorstellung, das zu tun, ernüchtert mich über alle Maßen. Hazegnehad spürt das sofort. Er flü­stert et­was, das nach einem Fluch klingt. Und... quiekt, ja: quiekt. - Dann geht alles überaus schnell.“ Mielke zer­drückt den Zigarrenstummel im Aschenbecher. „Urplötzlich nämlich greift er mich an. Schießt auf mich zu, springt - ich sage Ihnen: er springt mir an die Brust, umklammert meinen Rücken und beißt mir seit­lich in den Hals. Doch er hat wohl auf meine Verblüf­fung ge­rechnet. Denn er ist nicht kräftig. Es ist ein leichtes, ihn an den Haaren zu packen und von mir ab­zuziehen. Ich bin voller Triumph! Wie ein nasses Wäschestück schwinge ich seinen Zwergenkörper über meinem Kopf. Er quiekt und winselt. Ich schleudere ihn quer durchs Ge­wölbe gegen eine Wand, wo er mit einem unsäglich häßlichen Laut aufprallt. - Im selben Mo­ment komme ich zu mir.“
„Bitte?“
„Erinnern Sie sich nicht, daß ich beim Betreten des Gewölbes den Halt verliere und zu Bo­den schlage? Ich bin ziemlich benommen von dem Sturz. Stockdunkel ist es um mich her und schrecklich still. Ich mache mit meinem Feuerzeug Licht. Ein starker Schmerz zieht von der linken Schläfe inwärts. Offenbar blute ich.“
„Keine Toten, keine Gehäuteten, - nichts?“ Ich lache verlegen.
„O, schon etwas, durchaus. Es gibt nämlich den Op­ferstein, einen rohen, derben Basalt­block. Und darauf... bitte sehr, Herr Baumann: Darauf liegt das Buch. Ein uralter, schwerer Foliant, der sich unan­genehm anfaßt und tatsächlich...“, er seufzt, „und tatsächlich mit ge­gerb­ter Haut gebunden ist. Ein Blick hinein über­zeugt mich sofort, daß der Wert meines Fundes gar nicht ab­geschätzt werden kann. Die Seiten mit altägyptischen Schriftzeichen gefüllt; überdies sind mit offenbar Tinte arabische Kommentare dazugeschrieben. Geradezu instinktiv und im Fieber nehme ich den Folianten an mich, stecke ihn in meinen Rucksack und mache mich eiligst davon.“
„Und Haze..?“
„Hazegnehad? - Das eben ist ja das Seltsame! Ich er­warte eigentlich, er sei mir nachgegan­gen oder erwarte mich wenigstens dort, wo wir uns trennen. Aber er ist weg, und auch im Dorf will um sein Verblei­ben niemand wissen. Bis heute ist er wie verschollen... oder nein: er­scheint bisweilen, und ich flüchte dann.“
„Sie haben das Buch noch?“
„Deshalb ja erzähle ich davon.“ Schwer stützt er sich aus dem Sessel. Schleppt sich quer durch den mittlerweile sehr dunklen Raum. Schaltet über dem Sideboard die Standlampe an, schlurft weiter auf das Bild zu, das in Brusthöhe gegenüber hängt. Es ist sehr auf­fällig, will in diese Spießerstube einfach nicht passen: Eine billiggerahmte Kopie der Anto­nius-Versuchung aus dem Isenheimer Altar. Mielke dreht den Rah­men bei­seite. Auch ich steh auf, geh zu ihm rüber, guck Mielke über die Schulter. Er zeigt, ohne was hinauszuziehen, in eine kastenförmige Öffnung. Ich kann nichts sehen, aber etwas Kühles, Lockendes weht heraus. Mielke schließt dreht den Rahmen wieder zurück. „Wenn er kommt,“ murmelt er, „dann müssen Sie das Buch herausholen und wegbringen von hier. Er darf es auf keinen Fall bekommen.“

[Die vierte Fortsetzung wiederum morgen.]

Azreds Buch. Eine Erzählung. Vier.

[Fortsetzung von >>>> hier:
„Wenn er kommt,“ murmelt er, „dann müssen Sie das Buch herausholen und wegbringen von hier. Er darf es auf keinen Fall bekommen.“]
„Ich verstehe nicht.“
„Ich verändere mich,“ erzählt er leise, als wir uns wieder setzen.
„Bitte?“
„O ja, ich verändere mich, als ich die Hieroglyphen zu entziffern versuche. Und erst darüber wird mir bewußt, wie ge­fährlich mein Fundstück ist. Denn sehen Sie: An­fangs, noch als ich Großbritan­nien verlasse und nach Deutschland zu­rück­kehre, bin ich voll guter Vorsätze. Ich will das Buch öffentlich zugänglich machen. Doch - wie soll ich sa­gen? - sie bindet mich an sich, diese schreckliche Hand­schrift, läßt mich ihr mit Leib und Seele verfallen. Nein, ich übertreibe keineswegs! Sie ver­leiht mir nämlich Macht, Herr Baumann. Sie fördert meine Karriere. Mein wissenschaftli­ches Ansehen steigt enorm in den folgenden Jahren. Nun ja. Aber zugleich... zugleich heben meine Vi­sionen an.“
„Visionen?“
„Ja, Visionen. Und nicht nur nachts, sondern oft un­vermittelt im Sonnenschein, wenn ich spazieren- oder zur Arbeit gehe, ja bei der Arbeit sitze, - plötzlich bricht der Schreibtisch inmitten auseinan­der und gibt den Blick in einen sich in völliger Schwärze verlieren­den Ab­grund frei, oder Hauszeilen, je links und rechts, wehen aus­einander und hinauf wie Theater­vorhänge - oder Menschen, die mir ei­gentlich vertraut sind, verändern sich binnen Sekunden... sie ver­formen sich, Herr Bau­mann, Lippen und Kiefern verzerren sich wie Gummimasken, Nacken buckeln nach kät­zischer Art, oder meiner Sekretärin sitzen Käfer auf Oberarmen, Schultern, Dekol­leté... Und weil bald auf gar nichts mehr Verlaß ist, schließe mich ein und ... und fange zu trinken an. Obendrein kommt es an der Universität zu gewissen Pein­lichkeiten.“ Er nickt. „Bevor mir gekündigt wird, kündige ich besser selbst. Da leb ich halt als Privatgelehrter. Nahezu dreiein­halb Jahre geht das dann so. - Ich wohne in München damals, nicht weit vom Engli­schen Garten, und als ich eines sonntags, weil ja auch meine Wohnung sich verändert, weil die Türklinken Leben be­kommen, sich die Tep­piche gänzlich uner­wartet ver­schieben, weil plötzlich die Kühl­schranktür klappt und mir die darin verwahrten Nahrungsmittel ihre Not entge­genschreien... als ich also eines sonn­tags in die Park­anla­gen geflüchtet bin, sehe ich ihn..!“
„Diesen Hazegne...?“
„Die­selben spasti­schen Be­wegungen, das­selbe Zucken der Gesichtsmuskula­tur! Es ist fürchterlich! Sofort drück ich mich hinter einen Baum. Dann laufe ich fort. Mein Gehirn arbeitet rasch. In­nerhalb einer einzigen Woche - und spitze auf je­des fremde Geräusch und öffne meine Tür keinem Schellen - löse ich meinen Haus­halt auf. Ich ziehe nach Hamburg, nehme kaum etwas mit mir. Ich richte mich völlig neu ein und - nein, lachen Sie nicht! - beauf­trage eine Detektei, nach dem Dämon Ausschau zu halten. Zwei Jahre später wird er in Eppendorf ge­sichtet. Wieder fliehe ich. Haben Sie eine Ahnung, was ein gefälschter Ausweis kostet! - Ins­gesamt fünf­mal bin ich seither zu jemandem anderes geworden.“
„Aber nun können Sie nicht mehr publizieren...“
„Sehr richtig. - Es ist das Buch.“
„Bitte?“
„Ich fasse an, was ich will, alles gelingt mir. Ökonomisch, verstehn Sie? Zu­letzt speku­lier ich in Häu­sern.“ Er schweigt einen Mo­ment. „Menschlich.. menschlich bringt mich das um. Das Buch bringt mich um, frißt mich von innen, denn es ist in mich geschlüpft. Es hat die Seele eines Insekts. Durch mich begeht es Verbrechen aus dem Hand­ge­lenk. Ich lehne mich zwar auf, verzweifelt, zermürbt, aber dann... dann muß ich doch wieder jemanden schlagen oder... überfahren. Ich kann nicht anders, ich halte drauf. Also schaff ich mein Auto ab. Da geht das mit den Rasierklingen los. Es ist entsetzlich! Doch das Buch überschüttet mich mit Visionen und schenkt mir einen wunderbaren, un­nennbaren Schmerz.“ Hinterm Dunklen stöhnt Mielke auf in seinem Sessel. „Dann - endlich! - will ich mich befreien. Aber es brennt nicht. Meine Güte, welch eine Über­windung, ein Streichholz dem Einband auch nur zu nähern! Sofort springt Ihnen eine der Hauswände ent­gegen, oder der Eßtisch platzt, oder sonst etwas Un­glaubli­ches, Zähes, Wi­derwärtiges geschieht. Da überwinde ich mich, da schleudr’ ich den Versu­cher ins Feuer. Aber hilflos und kläglich spückeln die Flammen dran herum und erlö­schen. Sie gehn gradezu ein. - Ich versuch es,“ er kichert, „dann mit... mit Weih­wasser - so sehr erniedrige ich mich, daß ich, wie ir­gend ein Dummkopf, Weihwasser aus Kirchen stehle und die Seiten damit be­sprengte. Ach wie absurd! Alles versagt ge­gen Chtullhu: Voodoo-Zauber, to­temistische Be­schwörungen, jedwedes Ritual. Dann endlich, endlich, entschließe ich mich zum Entzug und lese einfach nicht mehr drin. Das ist eine Qual, ja, aber ich stehe sie durch, ich hab mich in der Gewalt, ich ver­schließe es, schließe es weg, und nun... nun, Herr Baumann, bin ich sein Hüter. Allmählich mildern sich meine Vi­sionen. Ach, das Fernse­hen! Wahrhaf­tig! Welch karitative Erfindung! Es betäubt mich mit heilsamer Ohnmacht, ich mache mich stumpf, ganz stumpf. Nur so kann man leben, Herr Baumann.“ Er atmet langsamer, noch langsamer, dann flüstert er: „Und jetzt hat man den Dämon hier in Braunschweig gesehen. Und ich hab keine Kraft mehr.“ Sein Atmen wird Wimmern. Das wird ein Schnarchen. Mir dreht sich der Kopf. Leise räume ich Geschirr und Aschenbecher in die Kü­che und gehe zu Bett.

[Fortsetzung und der Schluß - morgen.]

Azreds Buch. Eine Erzählung. Fünf: Der Schluß.

[Fortsetzung von >>>> hier:
Leise räume ich Geschirr und Aschenbecher in die Kü­che und gehe zu Bett.]
Klar, daß Mielke krank ist. Ich bin ganz froh, daß er in den nun folgenden Wochen auf seinen Wahn nicht mehr zu sprechen kommt. Allerdings kann ich nicht abstreiten, daß von der Anto­nius-Versu­chung - also dem, was sich vorgeblich versteckt hinter ihr - etwas Lockendes ausgeht. Manchmal nun steh ich davor und widerstrebe dem Zwang, das Bild beiseitezu­drehen, um in der Öffnung dahinter nachzuschaun.
Dann geht den ganzen Tag über ein deutlicher, eigentümlich warmer Wind, wie ich das aus Italien kenne. Bei Einbruch der Dämmerung frischt er allerdings auf. Er pfeift um die Hausecken und treibt Papierschnitzel und Zigarettenschachteln über die Bürger­steige. Mir ist sowas nicht unangenehm. Gern sitz ich da drinnen und schau aus dem Fenster. Mielke indessen macht das Wetter nervös. Mehr noch: Es verursacht ihm richtig Angst. Er kaut das Zigarrenende naß und sieht grau und einge­fal­len aus. Die fetten Lappen seines Bulldoggengesichts wirken wie Pappe. Die Tränensäcke ge­schwol­len dabei, seltsam, auf seinen Nasenflügeln wie Sandpickel Schweißperlen. Er trinkt viel, ist schon nicht mehr sicher auf den Beinen. Ich geh ihm aus dem Weg. Doch klopft er spätabends bei mir an die Zimmertür und bittet mich hinunter. Bietet mir einen Cognac an und fragt:
„Glauben Sie an der Jüngste Gericht, Herr Bau­mann?“
„Was ist los mit Ihnen?!“
„Ich muß Sie an Ihr Versprechen erinnern. Nehmen Sie sich um Gotteswillen des Buches an! - Das Jüngste Gericht sind die letzten Mi­nuten vor dem Tod.“
Ich zucke die Achseln, steh auf, verlasse den Raum. Auf sowas hab ich nun gar keine Lust! Er versucht auch gar nicht erst, mich zum Bleiben zu überreden. . Allerdings kann ich nicht einschlafen. Schon, weil nun draußen ein Lär­men losgeht sondergleichen. Der Wind ist Sturm mittlerweile. Ich steht wieder auf, schau aus dem Fenster schaue, ein Straßenschild wackelt. An ih­ren quer über die Straße gespannten Kabeln schwingen Lampen wie wild. Dann Geschepper, runtergefallene Ziegel sind das, die zerspringen auf dem Bürgersteig. Bis ge­gen zwei wälz ich mich noch herum. Dann geb ich’s auf. Außerdem ein Schrei. Nein, das wird nur eine Böe gewesen sein. Noch eine Böe. Nein, tatsächlich ein Schrei. Ich kann da nicht einfach weghörn. Irgend etwas geht unten zu Bruch. Ich schlüpfe in den Ba­demantel, ziehe die Rollos hinauf. Hinter den Scheiben ein zerrupftes Grau, eine wirbelnde Masse. Ein Ast knallt gegens Fenster. Die Scheibe splittert. Schnell knistert ein Netz durchs Glas. Bloß die Rollos wieder runter! Und abermals von unten ein Schrei. Der ist nun aber der­art hilflos und verzweiflungsgeladen, daß ich nachschauen muß.
Mielke liegt am Wohnzimmerboden. Eine Art Anfall. Verrenkungen und Schaum vorm Mund. Ich halte den zitternden Mann mit aller Kraft fest. Endlich beruhigt er sich. Kommt zu Bewußtsein. Richtet sich auf, seufzt, zieht dann, sitzend, die Beine an den Körper, legt, fett und müde, seine Arme um die Knie. Aus Nase und Mund rinnt spärlich Blut. Zerbrochnes Geschirr liegt herum. Ich ziehe ihm einen Splitter heraus, der knapp über der rechten Handschlagader steckt. Das blutet entsetzlich. Ich binde ihm die Hand mit seiner Krawatte ab. Er scheint mich kaum zu er­kennen, schaut willen­los zu. Außerdem hat er sich, beim Hinfallen wohl, am linken Knie verletzt. Je­denfalls kann er das Bein nicht mehr strecken. Ich schleppe ihn zum Sessel. Mit einer Serviette versuch ich, die Blutung zu stillen. Will einen Arzt anrufen, aber der Anschluß ist tot. Wahrscheinlich hat der Sturm einen Leitungs­mast umgeworfen. Der Orkan heult derart ums Haus, daß ich den Gedanken, Hilfe zu holen, sofort verwerfe. Sowieso kann man Mielke in seinem Zustand un­möglich alleinlassen. Ich schlage den jammernden Menschen in eine Decke ein. Es ist halb drei Uhr nachts. Ich nehme im Sessel Platz, trink einen Schluck Cognac, versuche zu schlum­mern. Einmal, halb im Dösen, gleitet mein Blick zur Antonius-Versu­chung. Da wirbeln die grünewaldschen Figuren ganz aufge­regt umher. Welch hektisches Leben! Doch als ich die Vision fixiere, stellt sie sich still. Ich sacke in dem Schlummer zurück.
So vergeht diese Nacht.
Morgens hat sich Mielke leidlich gefaßt. Aber schweigt stundenlang. Das Telefon bleibt ge­stört. Und der Sturm läßt keineswegs nach. Im Ra­dio­gerät ein Katastrophenalarm. Als Mielke das hört, kichert er. „Die irren sich“, sagt er. „Das ist mein Sturm, ich schwöre, daß das mein Sturm ist.“
Ich ignoriere die Bemerkung. Der Orkan drückt die Läden in die Fen­ster. Mittlerweile sind noch zwei weitere Scheiben zerborsten. Man hört allerwo metalli­sches Knallen. Mitunter platzt etwas draußen. Der Baum im Vorgarten wird aus der Erde gerissen. Kracht gegen die Mauer. Dann ein Poltern, ja Kartätschen: als schlüge ein rie­siger Holzknauf an die Haustür. Ich springe auf. „Nicht öffnen, nicht öffnen,“ wimmert Mielke und zieht sich die Decke bis unter die Augen. Es fol­gen leisere, eher klop­fende Geräusche; bei jedem zuckt Mielke und kneift die Lider zusam­men.
„Ich seh mal nach“, sag ich. - „Nein! Nein!“ - „Nu komm Se... vielleicht braucht jemand Hilfe...“ - Da fängt er zu lachen an. Dann ein gestoße­ner; ein wegge­schnittener Schrei.
Ich geh auf den Flur, hor­che. Ich schließe die Au­gen, horche. Der Sturm hält momentlang inne wie ich. Und da, sehr deutlich, klopft es. Irgend jemand steht draußen, kein Zweifel. Ich spähe durch den Türgucker, kann aber nie­manden sehen. Es klopft abermals. Ich dreh den Schlüssel herum, und schon, plötzlich, stößt sie mir wer entge­gen. Ich pralle zurück und starre entsetzt auf ein Ge­schöpf, daß mei­nem Vermieter bis in die fieberkranken Augen gleicht und zu alledem ganz wie er gekleidet ist. Nur mißt es kaum einsfünfzig und wirkt durch und durch künst­lich. Mit einem Blick er­fasse ich die Verwüstung: ge­knickter Metallzaun, umgeworfene Autos, zerstörte Vorgärten. Man hört Polizei- oder Feuer­wehrsirenen.
„Entschuldigen Sie mein freches Benehmen,“ sagt das Geschöpf. Es hat eine fistelige, ble­cherne Stimme. Wenn es spricht, bewegt es asynchron die Ärmchen, als erzeugte erst dies den zum Sprechen nöti­gen Luftdruck. „Aber Ihre Schelle scheint nicht zu funktionieren. - Ach, ach, Ver­zeihung! Mein Name ist Azred. Man sieht es mir nicht an, doch bin ich,“ er spitzt voll Neugier an mir vorbei, „arabischer Geburt. Gehe ich recht in der An­nahme, man habe es Ihnen erzählt?“
Ich bin derart fassungslos, daß ich gar nicht auf den Gedanken komme, die Tür wieder zu­zuschlagen. Es wäre ohnedies zu spät, denn mit der Bemerkung, gewiß harre Herr Mielke seiner schon längst, und in­dem er mich kurzerhand beiseite- nicht -stößt, sondern -wischt, be­tritt Azred den Flur. „Es ist, Herr... Herr..?“
„Baumann.“
„Es ist, Herr Baumann, zwar ziemlich ungemütlich draußen, indessen wäre es bes­ser, Sie ließen uns nun allein.“
„Aber auf gar keinen Fall!“
„Nun, wie Sie wollen.“ Er lächelt und schürzt dabei die Oberlippe, was sein Ge­sicht ent­stellt und die beängstigende Ähnlichkeit mit Mielke völlig verwischt. Und plötzlich dreht er sich einmal um sich herum, be­schleunigt und schlägt mir die Nägel sei­ner linken Hand ins Gesicht. Ich schreie auf. Fau­chend hüpft er ins Wohn­zimmer. Der Schmerz ist fürchterlich. Ich brauche Sekunden, um mich zu fassen. Erst das Gebrüll Mielkes holt mich in die Gegenwart zurück.
Im Wohnzimmer springt der Dämon mit einem kräftigen Satz auf Mielkes Brustkorb. Dabei jauchzt er, trampelt ausge­lassen auf dem veren­denden Menschen herum. Und wird dem froschreiten­den Antoniusversucher ähnlich da­bei. Blut spritzt vom Ka­da­ver. Das berauscht den Kleinen offenbar. Er hat mich in seinem perversen Glück offensichtlich vergessen. Das muß ich nutzen! Ich haste zu dem Bild, ich drehe die Versuchung beiseite. Greife dahinter hinein. Wie tief es dort ist! Es verschlingt meine Hand, verschlingt meinen Arm weit über den Ellen­bo­gen hinaus. Da faß ich etwas Nasses, Sumpfiges, nein: Trocknes, ich weiß nicht. Es ätzt. Ich bezwinge mich, ziehe. Dann fällt der Strom aus. Man kann nichts mehr sehen. Aber mir ist das recht. Zumal ist der Dämon beschäftigt. Ich höre ihn saugen, schlürfen, dazwischen Gekicher. Und während Ab­dhul al Azred meinen Vermieter verzehrt, schleiche ich, das ungeheure Buch an meinen Bauch gepreßt, aus dem Zimmer in den Flur. Ich reiße die zugefallene Haustür auf und stürze mich ins Freie. Ich renne, renne nur, renne. Renne an gegen den aufgefrischten Sturm. Ich weiche hakenschlagend zerschellenden Ziegel­steinen und stürzenden Bäu­men aus. Ach was bin ich geschickt! Es ist eine Lust, den Orkan zu durchrennen! Ach welch ein Atmen! Das Pfeifen! Ein Jubel der unbesiegten Natur! Da er­reich ich das „Flipper“. Ich lache. Ich husch in die Kneipe, schlag die Tür hinter mir zu. Dieser Geschmack hinter den Zähnen! Und starr in einen Haufen erhitz­ter Gesichter. Und juble! Und heule! Und bin abermals am Leben geblieben! Und im Be­wußtsein dieser meiner unendlichen, blü­henden Kraft fall ich hungrig über die dummen Un­geheuer her.
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Joachim Zilts' Verirrungen, 9. Fortsetzung.

„Doch nun, lieber Herr Zilts, erzählen Sie mir bitte etwas von Ihrer Welt. Ich habe wirklich nicht oft die Gelegenheit... und kann ja, wenn ich das so ausdrücken darf, unten nichts erzählen.“ Er zeigte beiläufig zu einem Schacht, der frisch mit grüner Ölfarbe markiert war. „Sie wissen doch.“ Er bemerkte meinen Blick und zog momentlang die Brauen zusammen, als mißtraute er mir wieder. Aber sein Gesichtsausdruck löste sich schnell, und er lachte. „Ja ja, da... Sie sehen ganz richtig. Sie verstehen, ich darf mich nie weiter als vielleicht fünfzig Meter entfernen, aus reiner Vorsicht... ich nehme und bringe auch jedesmal den Lacktopf wieder mit, ich erzählte ja schon von diesem Wanderer. - Nebenbei, Sie b e n e h m e n sich auch schon wie einer. - Wollen Sie noch einen Kaffee?"
,,Das versteh ich nicht. Wieso? - Nein, nicht mehr, danke. - Warum benehm ich mich wie ein Wanderer?"
,,Weil Sie damit angefangen haben, es mir schmackhaft zu machen, diesen Raum zu verlassen.“
„Aber ich hab doch nur..!“
„Ich verüble Ihnen das doch nicht, Herr Zilts! Das ist nun Ihr Charakter... Wanderer ertragen die Einsamkeit nicht, sie möchten Gesellschaft. Ich hingegen ertrage Einsamkeit ganz gut. Außerdem hab ich Freunde da unten. Ich kann zwar mit denen nicht über die Lybarinthe sprechen, aber auch daran gewöhnt man sich. Und Sie müssen sich vorstellen, daß die Wanderer sich untereinander höchst selten verständigen können... sie stammen aus zu unterschiedlichen Kulturen. Bisweilen sieht man sogar Geschöpfe, die durchaus nicht menschlich sind. Seltsame Wesen, vor zwanzig oder dreißig Jahren kam mal einer vorbei, der sowas wie einen flüssigen Kristall als Kopf hatte, wenn es ein Kopf w a r, keine Ahnung. Ich hielt den Wanderer erst für ein mechanisches Gerät. Aber ich gebe zu, solche Treffen sind selten. Was es war, merkte ich erst, als mich das Ding hinter meinem Rücken attackierte... nicht mich, nein, aber es sprühte an meinen Markierungen herum. Ich hatte allerdings Glück, denn der Wanderer ließ sich leicht verscheuchen. - Wollen Sie die Stelle sehen, wo er meine Marke weggeätzt hat?“ Abermals zeigte er auf den Schacht, der in sein Zuhause führte. Er räusperte sich. „Was ich sagen will, ist nur: Sie werden ganz ebenso boshaft werden, glauben Sie mir. Aus reiner Verzweiflung. Und irgendwann werde ich mich auch vor Ihnen – ja, mehr noch als jetzt – in acht nehmen müssen. Wenn ich Sie denn jemals wiedersehen sollte.Was freilich n o c h unwahrscheinlicher ist.“
,,Aber es muß doch etwas geben, das ich dagegen tun kann!“
,,Ich wüßte nichts, Herr Zilts. Andererseits habe ich mit Leuten wie Ihnen keine Erfahrung, die letzte Aussagen zuließe. Vielleicht...“ Er wurde nachdenklich, brummte etwas vor sich hin, sagte schließlich: „Ich könnte natürlich... einen Assistenten... der mir hilft, Dinge entgegenzunehmen, wenn ich herkomme, der mir auch Sachen herunterreicht und der, wenn ich fortbin, auf die Einrichtung achtet. Das wäre schon eine ziemliche Erleichterung. Aber dann müßten Sie für immer hierbleiben, in diesem Raum, verstehen Sie?“
„Und Christine?“
„Bitte?“
„Meine Frau...“
„Sie haben noch immer nicht verstanden, Herr Zilts. Die Wahrscheinlichkeit, sie wiederzusehen, geht gegen Null. Und selbst w e n n Sie sie wiedersähen, sie wären sich nie sicher, ob sie es ist... wahrscheinlich würden sie Sie auch gar nicht erkennen. Stattdessen könnten Sie, wenn Sie wollten, bei mir lernen. Und ich bei Ihnen. Es wird sich so viel getan haben in den folgenden Jahrzehnten! Also sagen Sie mir...“ Und er erkundigte sich nach physikalischen Neuerungen, der Computer interessierte ihn über alles. Bei der Mondlandung klatschte er wie ein Kind in die Hände, und die Nachrichten über die Sonde, die gen Saturn fliegt, ließ ihn mit offenem Mund staunen. „Ja,“ sagte er dann. „Ja, Herr Zilts, ich ginge dieses Risiko ein mit Ihnen.“
Ich konnte nicht antworten.
„Es ist Ihre einzige Chance... die einzige, wieder so etwas wie Vertrauen zu entwickeln." Er verzog sein ganzes Gesicht zu einer faltenreichen, geradezu komischen Grimasse. Wie ein kleiner Hund sah er aus. Mit einem Mal war er mir unangenehm wie zu Anfang unserer Begegnung, plötzlich war wieder i c h voller Mißtrauen. Um ihm das nicht zu zeigen, sah ich auf meine Fingernägel.
Er setzte nach: „Es bleibt Ihnen eigentlich keine Wahl.“
Pause.
Ich hatte den Drang, an meinem Daumen zu knabbern, aber beherrschte mich. Ein hintergründiges Rauschen füllte den Verteilersaal, als wären in den Wänden elektronische Geräte verborgen.
,,Wo sind Sie eben eingestiegen?"
,,In eine Schreibtischplatte."
,,Und das erste Mal?"
,,In ein Loch in der Decke."
,,Was meinen Sie, wieviele Kilometer und Welten liegen dazwischen?"
,,Drei... nein, sechs... Ich weiß es nicht. - Und Kilometer? Nach irdischem Maß vielleicht fünf."
,,Gar keine Aussicht!" rief er. ,,Das müssen Sie doch endlich begreifen! - Ah...“ er wandte sich zur Seite, stand dann auf, kramte irgend etwas aus den Haufen auf seinem Schreibtisch, stieß einen kleinen Freuderuf aus und kam zurück. „Ich wußte - wußte! -, daß ich noch welche habe!“
Er hielt mir ein Lederetui mit Zigarren hin. „Rauchen Sie vielleicht?"
Ich dankte, winkte ab.
,,Meine Uhr sozusagen," sagte er. ,,Wenn alle Zigar­ren aufgeraucht sind, muß ich zurück, um neue zu besorgen. 'Ja', Herr Moosbach', ruft Erika immer - das ist meine Haushälterin -, 'was tun Sie nur dauernd mit den ganzen Zigarren?' Sie hat ja keine Ahnung, auch gar nicht die Intelligenz, um so etwas wie meine andere Zeit zu verstehen. Ist Ihnen übrigens schon aufgefallen, daß hier zwar die Uhren funktionieren, schon aus mechanischen Gründen, daß sie aber nichts mehr anzeigen, was Bedeutung hätte? Ich hab versucht, einen chronologischen Zusammenhang zwischen draußen und hier herzustellen. Es gibt keinen. Bleibe ich nach hiesiger Zeit, also nach dieser Uhr, 78 Stunden drinnen, komme ich draußen wieder genau zu der Stunde an, in der ich aufbrach. Bleibe ich nur fünf Stunden hier, ist es das gleiche... Aber egal, entscheiden Sie. Bitte, bitte bleiben Sie bei mir."
Ich schüttelte den Kopf.
„Von hier heimkehren zu wollen“, sagte er leise, „das ist, als wollten Sie zu Fuß nach Alpha Centauri."
,,Meinetwegen," sagte ich.
,,Na gut,“ erwiderte er. ,,Dann lassen Sie mich aber noch diese Zigarre rauchen, bevor Sie aufbrechen. Und erzählen Sie mir. Erzählen Sie mir alles. Ein Glücksfall wie mit Ihnen begegnet mir in 2000 Jahren nicht mehr.“

Joachim Zilts' Verirrungen, 8. Fortsetzung.

,,Wanderer? Ich versteh Sie wirklich nicht.“
,,Ach, das sind die... ja nun... also Wanderer, die irren hier herum. Denen ist der feste Wille abhanden gekommen, die sind gottlos sozusagen... nein nein, ich bin nicht gläubig. Aber ich hab auch ein Zuhaus.“
„Auch ich...“
„... schon schon!“ fiel er mir mit angehobener Stimme ins Wort. „Aber Sie werden es nicht wiederfinden. Nicht sicher sein können, es wiedergefunden zu haben... selbst wenn etwas sehr danach ausschaut. Sehen Sie“, er zeigte mit weiter Geste zur Decke, zu den Nebengängen, zu den Öffnungen im Boden. „Jeder Weg führt in eine Welt. Und manche wird der Ihren fast gleichen. Es wird nur kleine... Verschiebungen geben, die Küchenuhr hängt woanders... sowas. Wissen Sie noch, ob in Ihrer Wohnung die Lichtschalter rechts oder links der Türen angebracht sind? Es gibt doch Lichtschalter bei Ihnen unterdessen?“
„Ja sicher gibt es die.“
„Das dachte ich mir. Die Elektrizität muß alles übernommen haben bis 1990, daran hatte ich nie einen Zweifel.“
„Rechts.“
„Rechts?“
„Ja, sie sind rechts angebracht.“
„Sie sind sich sicher?“
Ich zögerte. Noch während ich das Wort so bestimmt ausgesprochen hatte, waren mir Zweifel gekommen... - wobei...: „Zweifel“? Nein. Es war bloß ein ungefähres, aber kein gutes Gefühl, das sich hinter dem Wort jetzt verbirgt.
„Ich seh Ihnen an, was Sie fühlen. Das ist normal, das ginge mir ganz genau so. Deshalb habe ich niemals eine andere Welt betreten, deshalb hüte ich mich bis heute davor, deshalb trete ich selbst hier noch, wo ich jeden Winkel kenne, ausgesprochen vorsichtig auf. Um nicht doch noch versehentlich hinunterzustürzen. Man muß sich bescheiden. Und Sie sehen ja, welches Glück ich habe... nach so langem Aufenthalt noch: Da spaziert mir jemand in meine Arbeitsstube und kann, prall von authentischer Erfahrung, erzählen! Das mir so ein unwahrscheinlicher Glücksfall geschieht!“ Er strahlte, merkte, wie unpassend das war, entschuldigte sich. „Sehen Sie einmal meine Situation“, sagte er.
„Ich habe keine Chance?“
„Finden Sie es verwunderlich, daß diese Leute an ihren Erlebnissen irre, daß sie halt Wanderer werden? Was bleibt ihnen denn? Sie finden nicht zurück, können aber die Heimat nicht vergessen und sterben hier nicht einmal.“ Er hielt unvermittelt inne, räusperte sich, nahm wieder ein Schlückchen und sprach schluckend über den Becherrand hinweg: „Wissen Sie, Herr Zilts, was vernünftig wäre?“
Ich schwieg.
„Das Beste wäre, sie nähmen jetzt irgend einen Schacht hinaus und arrangierten sich mit der dahinterliegenden Welt. Völlig egal, wie sie aussieht. Akzeptieren Sie sie und spielen Sie Ihre dortige Rolle.“
„Auf gar keinen Fall!“
„Hören Sie, ich bin mir fast sicher, daß es nicht wenige gibt, die diesen Ausweg begriffen haben, diesen einzigen Ausweg, Herr Zilts. Vielleicht heilt sogar d a s da dann wieder.“
Ich wußte, er meinte meine Augen.
„Weshalb wohl fühlen sich viele in ihrer Welt so fremd?“ fragte er leise. „Bis 1914 jedenfalls. Ich weiß selbstverständlich nicht, ob sich das bis 1990 geändert haben wird. Geändert hat.“
Ich schwieg.
„Aber ich will nicht in Sie dringen. Sie müssen das selbst entscheiden. Nur vergessen Sie nicht: Dort können Sie sterben. Hier nicht.“
„Und diese Prozessionen? Das sind alles Wanderer?“
„Aber nein! Ich nenne sie Halbtote, doch trifft das den Sachverhalt nicht. Oder eben nur halb. Hab ich davon nicht schon gesprochen? Die lagen alle im Sterben, hatten Unfälle, fielen von Häusern, Leitern... sowas. Aber bevor sie aufschlugen oder bevor sie einschliefen in ihren Betten, sahen sie die Eingänge, nahmen mit letzter Kraft Anlauf... Die nun wollen nicht mehr zurück, denn sie wissen genau, da draußen erwartet sie ihr Sterben... eines, das durchaus schmerzhaft, lange, voller Qualen sein kann. Deshalb haben sie sich für ihr jetziges stumpfes Dasein entschieden. Sie wollen einfach nur herumgehen. Nie hab ich einen schlafen gesehen. Vor dem Schlaf haben sie offenbar eine ganz besondere Angst. Vielleicht erinnert er sie an das, wovor sie geflohen sind. Immerhin sind sie, anders als Wanderer, harmlos. Während die nicht vergessen können, vergessen die Halbtoten so schnell, daß ihre Persönlichkeit verweht. Sie haben, glaube ich, nicht einmal mehr Schmerzempfinden. In gewissem Sinn sind es Maschinen ohne Bewußtsein und Hunger.“
„Das ist keine gute Wahl“, sagte ich.
„Man hat die Wahl nicht“, sagte er.
„Man hat sie!“
„Na dann viel Glück.“
„Immerhin kann man doch auch sein wie Sie.“
Er kicherte. „Vielleicht“, sagte er. „Darüber hab ich auch schon nachgedacht. Es wäre höchst unwahrscheinlich, daß ich einzigartig bin. Das stimmt. Dennoch bin ich eine... Monade. Und andere, die mir ähnelten, wären das auch. Denn keiner verließe jemals seinen eigenen Raum, außer um in seine angestammte Welt zurückzukehren, die Vorräte aufzufrischen, mal wieder ein paar kurze Gespräche mit Menschen zu führen, sei es auch nur, um von jemandem ein frisches ‚Guten Morgen, Herr Moosbach’ zu hören. Ein einziger Schritt in einen fremden Gang hingegen würde uns ebenfalls zu Wanderern machen. Sofern das richtig ist, überhaupt von einem ‚uns’ zu sprechen. Sofern ich hier nicht d o c h allein bin.“
„Das ist nun aber auch keine lebbare Alternative!“
„Finden Sie? Ich rieche so gern!“ Wieder kicherte er. „Erinnern Sie sich noch an den Strohduft junger Achselhöhlen? An das stumme Bauschen von Röcken, unter die eine Bö fährt? Ah, gehen Sie mir! So lange, Herr Zilts, ein Mensch bewundern, solange er schwärmen kann, so lange ist er nicht boshaft. Und man w i r d boshaft, wenn man immer nur sucht und sucht und niemals findet, niemals bleiben kann, Herr Zilts. Ich bleibe, Herr Zilts. Und gehe nur in eine einzige aller möglichen Welten zurück und komme nur aus ihr wieder her. Selbstbegrenzung ist die Grundlage von Glück.“
„Die anderen Welten locken Sie nicht? Das nehme ich Ihnen nicht ab... Sie sind Forscher, behaupten Sie.“
„Oh und wie! Was gäbe ich drum, sie sehen zu können! Aber eben nicht alles, nicht, daß ich nicht wieder ein Lächeln, irgendeines, ein frisches, fremdes, in meinen Augen spürte...“ Er verstummte, nahm abermals einen Schluck. „Schauen Sie, Ihr Kaffee wird ganz kalt.“
Auch ich trank, aber es schmeckte mir nicht, ich wollte weiter, wollte nach Hause.
„Sehen Sie“, sagte er endlich, „es g a b hier ein paar Monate lang so einen Plagegeist. Er hat alles Erdenkliche getan, um mich aus meinem kleinen Saal hinauszulocken, nutzte meine Abwesenheit, um das Schränkchen umzuwerfen, klaute Bücher, schmierte in meinen Aufzeichnungen rum, alles sinnloses Zeug, das nichts wollte, als die Notate unleserlich zu machen, einmal hatte er sogar einen Kaffeerest über meine Bücher gegossen, das war eine schlimme Schweinerei. Ich hatte vor diesem Kobold richtige Angst. Was muß in so einem Geschöpf vorgehen! Und jetzt sehen Sie mich an: Würde mir so etwas stehen? – Der Bursche hat sich übrigens seit über einem halben Jahr nicht mehr blicken lassen. Ich hatte, wie für Ratten, Fallen gegen ihn aufgestellt. Wahrscheinlich ist er irgendwo in einen Schacht gestürzt und durch einen anderen wieder rein und irrt nun in einem unendlich weit entfernten Quadranten dieses Universums herum, um jemanden anderes zu finden, den er trietzen kann.“

[Revidiert: 17. 8. 2004]

Die Reise zum Mittelpunkt des Internets. Zilts’ Labyrinth.

Mir kommt eben aufgrund des Kommentars Tilkowskis und meiner Antwort darauf ein Gedanke: Ist nicht Zilts’ Reise eigentliche eine, die das Netz vorweg- und damals bereits körperlich nahm? Das konnte ich, als ich die ersten Fassungen der Geschichte schrieb (zuerst um 1975, dann im August 1983), allerdings nicht wissen, ich war damals noch computer- und sowieso netzlos. Dennoch kommt mir der Text nun wie eine neoromantische Vorwegnahme vor.
Was aber folgt poetologisch daraus? Soll ich die laufende Umarbeitung auf Romanform radikalisieren und „Eine Reise zum Mittelpunkt des Internets“ nennen? Vielleicht der Form nach Alexander von Humboldt oder besser noch Hubert Fichte geschuldet? Eine poetische Ethnologie verschiedenster Netz-Kulturen schreiben, zu denen auch die pornographischen und gewaltverherrlichenden gehören müßten? Denn gerade für sie ist das Internet erhellend, weil sie Fantasien und Obsessionen von Menschen als offenkundige und ständig wirkende präsentieren. Weil aber ein solcher Reisebericht unvoreingenommen geschildert werden müßte, und zwar überall mit der gleichen treibenden Neugier, käme der Roman ziemlich umgehend mit dem Gesetz in Konflikt, das ja nicht erlaubt, was dennoch, und zwar in den seltensten Fällen durch Paßwörter geschützt, allüberall zugänglich ist (Zilts muß nur in die hinführenden Gänge gelangen) und vor allem die Umsetzung früher geheimer Lüste durch ständig neue Koloniebildung ganz ähnlich ausgerichteter Ethnien befördert und realisiert. Man müßte Chats als tribal organisierte communities begreifen, ihre Regeln aufzeichnen, ihren Veränderungen nachspüren, desgleichen viele Weblogs, zudem die verschlungenen Wege verfolgen, auf denen sich gewerbliche Websites durch die Dschungel ziehen, Fährtensucher werden und versuchen, all das ohne zu denunzieren in poetische Formen zu gießen.
Zilts betritt über einen der Gänge die Räume der Houyhnhnms, erreicht später Glubbdubdrib und meinethalben Käsänien, ist wie Rimbaud eine Zeit lang mit allerdings modernem Sklavenhandel (Asylantenhandel etwa) beschäftigt, wird in einen Völkermord verwickelt, handelt später mit Taucherflossen. Und all das ohne auch nur ironische Absicht. Nämlich um dem, was geschieht, nahezukommen, was von einer moralischen Voreingenommenheit gerade verhindert würde, die, was sie sieht, immer als Objekt sieht und als von sich selbst getrennt.
Ein solches Unternehmen wäre aber ein R o m a n, nicht länger Erzählung, und es verlöre den neoromantischen Charme, den sie einst herstellen wollte. Darüberhinaus gibt es diese Erkenntnisse und Erfahrungen und Sachverhalte, die niemand offenlegen s o l l. Man muß sich das sehr bewußt machen, um zu wissen, welche Sprengkraft das Internet besitzt und ein solcher Roman gleichfalls besäße. Denn es gibt kein Universum sonst, das so genau und so umfassend über den Menschen berichtet wie dieses vermaledeite Netz, das die anthropologische Kehre zugleich zeigt wie vorantreibt. Es macht Unschuld völlig unmöglich. Man muß nur eintreten.
Der zu schreibende Roman wäre einer der umfassend verlorenen Unschuld. Wäre Argo. - Anderswelt.

Joachim Zilts' Verirrungen, 7. Fortsetzung.

Inmitten des Schriftzugs hatte er innegehalten und den Kopf fast unter der linken Achselhöhle hindurchgedreht. So sah er mich an. ,,Das ist ja ganz erstaunlich..!”
„Sie müssen schon verzeihen”, erwiderte ich. ,,Ich habe nicht mit sowas”, ich zeigte herum, „gerechnet.”
,,Oh nein, kein Grund für Entschuldigungen! Ich verstehe das völlig... völlig, mein Lieber.” Er erhob sich. „Sie weichen jetzt nicht wieder zurück?”
„Nein, sicher nicht. Ich bin nur etwas verwirrt.”
„Das müssen Sie nicht.” Er kam vorsichtig näher. „Darf ich mich vorstellen? Ich heiße Moosbach, Anton Moosbach.”
,,Joachim Zilts,” antwortete ich in gleichem Ton.
Er streckte mir seine Hand zu. Zögernd nahm ich sie. Eine ganz weiche, eine fast aufgelöste Hand.
,,Fall Sie einen Kaffee mögen...? Setzen Sie sich, hier, bitte. - Oh, ja ich bin... ausgestattet. Warten Sie, die Thermoskanne. Und hier, eine Tasse... oh, staubig, Entschuldigung.” Er schritt zu der Waschstelle, goß aus der Porzellankaraffe etwas Wasser in die Tasse, wusch sie mit den Händen aus.
„Lassen Sie nur”, sagte ich, „das wird schon gehen.”
Es war nicht zu fassen. Vor mir stand dampfend der Kaffee.
„Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Herr...”
„...Zilts. Aber eigentlich müßten Sie mir einiges erklären...”
,,Oh gleich... gleich, mein Freund. Wir haben Zeit genug.”
,Aber nein! Ich will zurück. Verstehen Sie? Ich bin erst seit... warten Sie... seit wann bin ich hier? Seit heute früh? Nein, ich glaube...”
,,Sie wissen es nicht.” Er nickte. „Darf ich bitte?” Er beugte sich vor und zog mit dem rechten Zeigefinger die Haut unter meinem linken Auge herab; der linke Zeigefinger hielt das Lid. Die Bewegung hatte etwas Professionelles. Aber er pfiff, als er meinen Augapfel ansah, tonlos durch die Zähne. ,,Das ist typisch”, sagte er.
,,Was meinen Sie?”
Er blinzelte nervös, lehnte sich zurück und antwortete: “Lassen Sie nur. Noch ist es nicht ernst.”
„Was ernst?”
„Ist noch viel Zeit, junger Mann, sehr viel Zeit.”
„Hören Sie..!”
„Ich weiß doch! Sie haben tausend Fragen und alle auf ein Mal. Zu eilen hilft Ihnen nicht. Hier zählt keine Zeit. Wir werden nicht älter, wenn wir in der Zwischenwelt sind. Was meinen Sie, weshalb ich so oft herkomme? Sicher, man muß sich einschränken, und es gibt keine Elektrizität. Aber wenn man einmal in der Arbeit ist...” Er kicherte, was nicht angenehm war. „Hier, nehmen Sie ein Zuckerstückchen.” Er hatte sogar ein Döschen Sahne im Regal. ,,Sagen Sie mir: Aus welcher Zeit sind Sie gekommen?”
,,Bitte?”
,,Welches Jahr schrieb man, als Sie aufgebrochen sind?”
,,1990. 16. Februar. – Weshalb?”
,,Interessant, höchst interessant. - Wissen Sie, ich komme von 1912. Ich stamme aus Hamburg. Jetzt ist es da 1914. Schlimme Zeit.”
,,Ich verstehe nicht ganz... - Was tun Sie hier?”
,,Das fragen Sie noch? - Ach ja, Ihre Pupillen...”
,,Was ist mit meinen Pupillen?”
„Die Iris trübt sich, das wird sie blind machen. Aber werden Sie deshalb nicht nervös. Es kann noch hundert Jahre dauern, bei anderen, glaub ich, noch länger... dreihundert Jahre vielleicht. Genau weiß ich das aber nicht. Ich bin unter andrem dabei, es zu erforschen.”
„Was zu erforschen?”
„Die Verwandlungen, Herr Zilts. Die Ewigkeit.”
Hätte er nicht so gegenwärtig gewirkt, ich hätte ihn für einen Schwachkopf gehalten. Aber das war er offenbar ganz und gar nicht, trotz seines Kicherns, das andererseits etwas von dem eines Drogenkranken hatte.
„Sie nehmen Halluzinogene?” fragte ich.
„Aber nein!” Er lachte auf. „Schmerztabletten, bisweilen, meines Rückens wegen. Und manchmal etwas, um einschlafen zu können. Es ist nicht einfach, hier zu schlafen, es ist sogar das Schwerste. Aber wer draußen schläft, altert. Und die Zeit zieht dann völlig ungenutzt vorüber. Deshalb hab ich ja die Couch hergebracht”, er klopfte aufs Polster, „hören Sie?: Hochklappbar, ich hab Decken und Kissen da drin. Praktisch, nicht wahr?”
„Das haben Sie durch solch ein... ein Loch gebracht?”
„Das war kompliziert, da haben Sie recht. Aber ich hatte mich vorbereitet, bevor ich ein erstes Mal einstieg.”
„Sie wußten davon?!”
„Sagen wir, es war eine Theorie. Raumzeit-Nähte, wenn Sie so wollen. Schon Zeno... na, das wissen Sie doch. Kierkegaard hielt das Paradox für die einzig wirkliche Wirklichkeit. Daß man mich ausgelacht hat, muß ich Ihnen sicher nicht sagen. Aber es war damals, in Ihrem Damals, am Anfang des Jahrhunderts, nicht wahr?, alles ein wenig primitiv. Ich hab, was ich mitnehmen wollte, an mir festgebunden. Mühsam, ja, aber es klappte. Auch mit der Couch hat es dann später geklappt. – Und Sie?”
„Ich?”
„Wie sind Sie hereingekommen?”
„Es war ein Zufall. Ja, Zufall.”
,,Das ist schlecht,” sagte er. ,,Wirklich schlecht.” Und, ehe ich etwas erwidern konnte, abermals: ,,So ganz ohne Absicht? – Ah, das dachte ich mir.”
„Was dachten Sie sich?”
„Waren Sie schon einmal zurück?”
,,Das ist es ja gerade. Ja, ich war schon zweidreimal... viermal, verzeihung... draußen. Nein, doch nur zweimal, glaube ich.” Ich hatte keine Ahnung mehr. „Doch immer war es anders. Und selbst, wenn nicht: Woran soll ich erkennen, daß ich wieder in der richtigen Welt bin?”
Er kicherte. „Gar nicht”, sagte er. Gab sich einen Ruck, legte mir eine Hand auf den Arm. „Das müssen Sie vergessen, dieses Wort. Es gibt keine ,richtige' Welt, es gibt keine ,falsche'. Und es ist auch nicht wahr, daß alles Schein sei. Aber wahrscheinlich sind Sie verheiratet.”
,,Ich habe eine Frau, ja.”
,,Schlecht.” Er nickte. „Sehr schlecht. Sie lieben Sie?”
„Verzeihung, ich wüßte nicht...”
„Da werde ich Ihnen nicht helfen können. Ich selbst habe meinen ersten Weg und den Weg hierher markiert. Unsichtbar markiert, nur für mich sichtbar markiert. Damit die es nicht sehen.”
„Die?”
“Wanderer. Die haben ihre Freude daran, einen zu schädigen. Die würden meine Zeichen auslöschen, zerkratzen, sie anderswo anbringen. So ist ihr Charakter. Das ist der einzige Spaß, den sie kennen. Sie sind die einzigen, vor denen ich mich fürchte. Aber ich bin ja nicht unbewaffnet.”
„Bitte?”
„Meine Augen doch! Meine noch immer scharfen, ungetrübten Augen. Wahrscheinlich sind wir beide derzeit die einzigen Wesen, die im Labyrinth noch sehen können.”
,,Aber was soll ich tun? Es muß doch einen Weg zurück geben!”
,,Sicher, es gibt ihn. Aber finden, mein Freund, finden!” Er schlug die Beine übereinander und hob mit abgespreiztem kleinen Finger die Tasse. Vorsichtig, mit spitz vorgestülpten Lippen, nahm er ein Schlückchen. ,,Da haben Sie sich was Schönes eingebrockt.”
,,Wie hätte ich sowas denn ahnen sollen?!”
,,Ich hab's Ihnen gleich angesehen, daß Sie ein Wanderer sind”, sagte er. „Ich hatte von Anfang an keinen Zweifel. Aber daß Sie mit mir sprechen, zeigt, Sie sind noch sehr jung.”

[Korrektur: 7. August 2004.]

Joachim Zilts' Verirrungen, 6. Fortsetzung.

Mit flehendem Blick, denk ich heute, werd ich zu dem Loch hochgeschaut haben, doch eine nächste Spontanflucht gelang nicht. Vielleicht weil mich Clausnitzer am Arm nahm.
„Wir müssen uns jetzt wirklich beeilen.“
Fünf Minuten später stand ich am Kopfende des Tischs im Besprechungszimmer, und Clausnitzer, nach kurzer Begrüßung der Anwesenden, bat mich um den hinleitenden abstract. Verwirrt stand ich den Kollegen gegenüber, stotterte einige mikrobiologische Einleitungsfloskeln, dann, geradezu mechanisch, warf ich ein paar Formeln aus dem Ärmel, die von irgendwo aus dem Inneren meines Unbewußten stiegen, ohne daß ich selbst mit ihnen irgendetwas hätte in Verbindung bringen können. „Dimethyltryptamin“, sagte ich schließlich, „ist, wie Sie wissen, diesem aus Krötensekret gewonnenen Bufotenin außerordentlich ähnlich.“ Ich drehte mich um, während ich das Kreidestück aus der Kitteltasche fingerte, und schrieb den Term an die Tafel. Dann bat ich darum, den Overheadprojektor einzuschalten, und entnahm meiner Aktentasche die vorbereiteten Folien. Zugleich hatte ich keinerlei Ahnung, was ich da eigentlich sprach. Ich wurde immer verwirrter, aber schien etwas unmittelbar Bedeutungsvolles gesagt zu haben, denn die Kollegen wurden auffällig unruhig, tuschelten sogar; zweidrei starrten mich fassungslos an. Und stellten Fragen. Ich merkte, wie ich lächelte, daß ich amüsiert war, aber ich bekam nicht mit, worüber. Ein Mann wurde latent aggressiv. Glücklicherweise fuhr mein rechter Zeigefinger über die Oberfläche des Konferenztisches. Ein Altar, dachte ich, das ist ein Altar! Ich ertastete eine Vertiefung in der Platte des Konferenztisches. Während ich mich dahineinversenkte, sprach ich so beiläufig wie möglich weiter, spottete, glaub ich, sogar... und murmelte noch, als ich mich längst den Schacht hinabschob.

Zum ersten Mal drang ich nun gleichsam von oben in die Zwischenwelt ein, immerhin nicht kopfüber, sondern ich klomm mit den Füßen voran, langsam und immer wieder nach neuem Halt tastend, schachtabwärts. Die sich bisweilen verbreiternde, zweidreimal aber auch ziemlich engwerdende Röhre läßt sich, glaube ich, am besten mit einem Kamin vergleichen, in dem ein Bergsteiger klettert. Es war eine anstrengende Fortbewegung, ich hatte ziemliche Angst abzustürzen. Dennoch war das nicht ohne Reiz, es war ja durchaus komisch, was im Innern des Konferenztisches vor sich ging, vor dem, ich war mir ganz sicher, die Kollegen immer noch standen, um einem Mann zuzuhören, ihm zuzustimmen, ihn zu befehden, der, ohne daß sie es gemerkt hatten, ausgetauscht worden war. Denn selbstverständlich war von irgendwoher ein anderer Zilts in den Kittel gefahren, um meine kurze Rolle weiterzuspielen. Ich konnte nur hoffen, er sei vertrauter mit der Materie, als ich es eben gewesen war. Und angelte schon mit beiden Füßen im Freien. Unter mir der Lichtdunst, der mich keinen Boden erkennen ließ. Sollte ich einfach loslassen? Doch die Säle waren hoch, ich wollte mir nicht den Knöchel verstauchen. Und was, wenn am Grund unter mir ein anderer Schacht wieder hinausführte und ich einfach durchfiele? Aber es blieb keine Wahl.
Tatsächlich war dieses Relais kaum mannshoch, und es gingen ausschließlich Schächte nach oben von ihm ab. Ich mußte mich bücken, um den Kopf aus meinem Eingang zu bekommen. Mußte sogar ungefähr hundert Meter gebückt weiterschreiten, bis sich die Decke allmählich hob und der sonst diskusweite, flache Raum, der mich spontan an eine Umwälzmündung erinnerte, aus deren Decke Hunderte Klimaröhren führten, nicht nur verengte, sondern zu einem der Gänge wurde, wie ich sie kannte. Nach vielleicht weiteren fünfhundert Metern kam ich in einem der üblichen Verteilersäle heraus.
Aber ein älterer Mann saß zwischen drei Tapetentischen, die er u-förmig aneinandergestellt und mit Büchern, unzähligen Blättern, Stiften und lauter, meist leeren Bonbontüten angefüllt hatte, neben ihm zwei Kaffeebecher. Er trug einen braunkarierten Anzug, Stulpenstiefel und Seidenfliege. Es gab eine Couch und weiter hinten eine Kommode, aus deren unterer aufgezogener Schublade Wäsche quoll, ein paar Wasserkanister, eine Waschstelle. Die Szenerie hatte etwas völlig Unglaubwürdiges. Aber es war keine Fantasmagorie, denn als ich hüstelte, drehte er sich, den Federhalter noch in der Hand, herum und sagte mit frischer, fast aufgeräumter Stimme: „Sieh da, sieh da! Ein Wanderer.“
Ich blieb stehen, schwieg wieder. Es läßt sich nicht anders sagen: Der Mann hatte, so freundlich er auch wirkte, etwas Bedrohliches.
,,Ja, da staunen Sie, nicht wahr?" sagte er und stand auf. Ging auf mich zu, elastisch, für sein Alter, meinte ich, viel zu agil. Mißtrauisch tat ich einen Schritt zurück. Er bemerkte es und blieb stehen. "Sagen Sie?“, fragte er, „verstehen Sie mich?“ Und wie in sich selbst: „Es wäre schon ein arger Zufall.“ Wieder zu mir: „Do you speak English? Parlez français? Italiano?“ Dann irgendwas, das russisch klang, asiatisch, schließlich: „Seguro que usted eres un español?“ Als ich aber nun immer noch nichts sagte, rieb er sich mit zwei Fingern der Rechten die Nase und murmelte wieder für sich selbst: ,,Nun, dann eben nicht. Ich sag's ja immer: scheues, verlorenes Völkchen.“ Freundlich sah er mich an. „Wie schade. Wirklich schade. Aber gut. Wissen Sie, mein Freund, dann gehen Sie halt Ihres Weges. Und lassen mich alten Mann meinen Studien nachgehen. Nein, nein, ich will nicht unhöflich sein, Sie können auch bleiben, legen Sie sich meinetwegen etwas auf die Couch. Vielleicht werden Sie ja gesprächig, wenn Sie etwas Vertauen gefaßt haben.“ Und mit dem Seufzer „was für arme Tiere!“ wandte er sich weg. An seinem Platz beugte er sich, als hätte er mich vergessen, abermals über seine Papiere. Schlug ein Buch auf, blätterte in ein paar aneinanderhängenden Listen oder Tabellen. Dennoch, er konnte mich nicht täuschen. Aus dem Augenwinkel, spürte ich, beobachtete er mich sehr genau, ja achtsam weiter. Als ginge nicht von ihm, sondern von mir Gefahr aus.
In diesem Momente war erneut eine Prozession zu hören: Musik aus Kofferradios, Germurmel, das helle blecherne Schellengeklapper. Schon traten die Leute wie ein zäher Fluß aus dem Gang und zogen sich, ohne auf uns auch nur zu achten, zwischen uns hindurch. Konsterniert starrte ich ein paar Minuten später dem sich durch den gegenüberliegenden Gang davonwindenden Zug hinterher, der dem lesenden Mann gewissermaßen durch das Wohnzimmer geflossen war. Auch er starrte hinterher, aber irgendwie melancholisch, als hinge er Erinnerungen nach.
,,Sagen Sie, wer sind die?" fragte ich endlich.
Langsam wandte er sich zu mir. ,,Ach, die haben sich beim Sterben noch einmal davongestohlen. Jetzt ziehen sie hier herum in ständiger Furcht, durch einen Schacht in ihren Tod zurückzufallen. Aber glauben Sie mir, die Wahrscheinlichkeit, daß das passiert, ist gering.“ Er lächelte. „Soso“, sagte er. „Sprechen können Sie also d o c h.“
 



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