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FORTSETZUNGSROMAN
Leider hatte ich diesmal die Taschenlampe nicht dabei, sondern nur mein Feuerzeug, das ein mühsam flackerndes, huschendes Licht warf. Zudem ließen mich diese weichen, fast fleischigen Wände zögern, es zu benutzen. Aber ich mußte ja irgendwie etwas sehen. Zumal war es auch unter mir dunkel geworden, meine Mutter hatte längst die Deckenlampe eingeschaltet, deren Stativarme mich immerhin mit einem heimlichen Schatten bedeckten...
Wieder ist draußen der Wärter vorbeigegangen, wieder setze ich die Niederschrift meiner Erinnernungen für einzwei Minuten, die endlos sind, aus. Doch weiter:
... denn mit beginnendem Abend - längst waren in dem Wohnzimmer unten die Lampen eingeschaltet - hatte es auch in den Gängen und Schächten zu dunkeln begonnen. Dieser Wechsel von hell auf dämmrig und dämmrig auf hell ist das einzige Zeichen einer äußeren Existenz, die die Labyrinthe kennen. Jedenfalls habe ich niemals ein anderes beobachten können. In den Sälen herrscht allerdings auch „nachts“ ein mattes, verschleiertes Licht.
Und kaum war ich endlich hinein, trat ich wie auf einen dichten, fast federnden Teppich aus Moos. Es war aber keines, sondern, als ich mich bückte und mit der Hand darüberstrich, blieben kleine Splitterchen, wie von Glasfasern, in der angeschabten Haut. Ich brauchte lange, diese Spitzchen abzustreifen, war noch damit beschäftigt, da raunten gemischte Stimmen durch den Gang. Das hatte etwas von einem fernen Gesang, der in Kathedralen oft auch dann noch zu vernehmen ist, wenn außer einem selbst gar niemand drin ist. Also schritt ich weiter, ob diesen unwahrscheinlichen Sprechchören folgend, ob ihnen entgegen, ich wußte es nicht. Aber kaum war eine halbe Stunde verstrichen, der Boden wurde endlich fester, schon war er wieder mörtliger Stein... – sah ich sie. Es war ein Zug von vielleicht dreißig Leuten, ein paar Schwarze darunter, ich erkannte auch zwei Asiaten, aber die meisten waren Europäer, Amerikaner, das kann ich nicht genau sagen. Die Prozession floß, ohne mich zu beachten, an mir vorbei, vorn aus dem rechten Gang hinaus, durch den Verteilersaal, in einen linken Gang wieder hinein. Einige trugen Kutten wie Mönche, andere waren in Anzüge, Jeans, auch in Regenmäntel gekleidet, leuchtend schwarzer Lack. Alle Leute hatten Taschenlampen in den Händen, die sie wie Kerzen hielten. Und dazu sangen sie oder sprachen, das war nicht zu entscheiden; ich hatte Ähnliches bis dahin nicht gehört. Der Klang war nicht angenehm: sirrend, durcheinanderatmend, furchtbar nervös. Der Zug war derartig gespenstig, daß ich fast wieder den Halt verloren hätte und in einen der direkt vor meinen Füßen senkrecht abführenden Schächte gestürzt wäre. Ich drückte mich an die Seitenwand, wollte die Leute einfach vorüberziehen lassen. Nein, nicht einer schaute zu mir, dabei stand ich ganz offen da.
Das ärgerte mich plötzlich. So daß ich, bevor die ganze Erscheinung irgendwo in der Ferne ihres Ganges verschwand, vorsprang und einen dieser merkwürdigen Menschen an den Schultern faßte. Er blieb bei der Berührung unmittelbar stehen. Er gab keinen Laut von sich. Er wandte sich auch nicht zu mir. Momentlang zögerte ich, vielleicht eine Viertelsekunde, dann gab ich mir den nötigen Ruck und drehte ihn her.
„Wer sind Sie?“ fragte ich.
Er schwieg. Ich kann nicht sagen, daß er mich angesehen hat. Zwar waren seine Augen auf mich gerichtet, doch waren sie leer. Er hatte rein weiße Augäpfel ohne Iris und Pupille. Erschrocken ließ ich ab. Jetzt begann er zu murmeln und wie gezogen weiterzuschreiten, den anderen nach.
Was sollte ich tun? Ebenfalls folgen? Die junge Frau suchen vielleicht, die ich heute vormittag getroffen hatte. Meine Heimatwelt suchen? Ein Netz aus Welten voller Verbindungskanäle, ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Überwand das aber schnell. Es war ein Traum, ganz sicher. Wenn ich die Augen wirklich aufriß, endlich, dann blickte ich ganz sicher zur Schlafzimmerdecke. Ich r i ß sie auf, wirklich. Und sah immer noch das abgebundene Weiß der Wände, den vor lauter indirektem Licht unscharfen Saal, die Gänge, die an den Seiten, im Boden, in der Decke in ihn mündeten. Und mich beschlich die Vorstellung, die leeren Augen des Mannes seien tot gewesen. Doch hatte ich keine Zeit, diesen Gedanken irgendwie zu fassen, denn unmittelbar rief jemand in meinem Rücken: ,,Ach Zilts, da sind Sie ja endlich!"
Ich fuhr herum.
Hinter mir stand Clausnitzer, mein Chef.
„Gott“, sagte er, „wo stecken Sie denn bloß die ganze Zeit? Wir warten schon über eine halbe Stunde auf Sie! – H a b e n Sie den Vorgang?“
Ich brauchte zweidrei Sekunden.
Er zeigte auf die dünne Aktenmappe in meiner Hand. „Ah da“, sagte er. „Prima.“
Ich stand im Archiv des Instituts, in Arbeitskleidung, sogar den Kittel vorgebunden. Und furchtbar schwindlig war mir.
„Fühlen Sie sich nicht gut?“ Er sah mich gar nicht mehr verärgert, sogar leicht besorgt an.
„Doch doch, ich war nur...“
„Ist was mit Ihren Augen?“
„Meinen Augen? Nein. Wieso?“
Er winkte ab. „Dann kommen Sie jetzt bitte.“
Ihm hinterhergehend warf ich einen schnellen Blick zur oberen Wand und erkannte das Loch sofort, durch das ich hinabgefallen war. Offenbar hatte ich mich im Verteilersaal doch nicht mit der nötigen Obacht bewegt. Das mochte angehen, dachte ich, mir ist nichts passiert. Was mich aber erschreckte - vollen Ausmaßes begriff ich es allerdings erst später -, war die Tatsache, daß die Parallelwelten, durch die ich zu, ich muß es so sagen, geistern begonnen hatte, auch zeitlich offenbar nicht aufeinander abgestimmt waren.
albannikolaiherbst - Mittwoch, 28. Juli 2004, 12:12- Rubrik: FORTSETZUNGSROMAN
ZWEITER TEIL
In einer dritten, der meinen gleichenden, doch unvertrauten Welt fand ich mich wieder; erneut im Bett; anders als noch eben schienen mir seit meinem ersten Aufbruch keine zehn Minuten verstrichen zu sein. Die Ereignisse hatten etwas Zusammengeballtes, als ließe sich Zeit komprimieren. Ich war ziemlich erschöpft. Deswegen nahm ich erstmal davon Abstand, gleich in die Wand zurückzuspringen. Erst fand ich das Loch auch gar nicht, dann entdeckte ich es knapp unter der Leiste links, vielleicht einen Meter von der Gardinenstange entfernt. Ich träumte von Dickichten, die Bilder falteten sich, wie Einschüsse, plötzlich, ein grünes, pflanzliches Feuerwerk, vor meinen Augen auf. Darüber schlief ich tatsächlich wieder ein.
Ein Kuß auf die Stirn weckte mich.
,,Na, du schläfst aber fest!" Christine lachte. „Guck mal, was das für ein Sonntagswetter ist! – Es ist fast elf, also mach dich mal schnell fertig, damit wir nicht zu spät bei Deiner Mutter sind.
,,Hör einmal," begann ich, da saßen wir bereits im Auto. S i e fuhr. ,,Ich muß mir dir sprechen."
„Ach du Schreck, wie klingt d a s denn! Oder...? Nein, komm!“ Sie lenkte den Wagen spontan rechts ran. „Wenn da etwas mit einer ... anderen... Bitte nicht! Keine Geständnisse! Nicht ausgerechnet heute, okay?“
Ich mußte doch lachen. „Sorry, nein, es geht nicht um sowas.“
„Sag mal, ist dir gut?“ Sie zog die Brauen zusammen. „Du siehst blaß aus... das ist mir schon vorhin aufgefallen.“
„Ah so. Blaß. – Sonst ist dir n i c h t s aufgefallen?“
„Bitte?“
„Wirke ich verändert? Bin ich fülliger, sind meine Wangen fleischiger als sonst, drücke ich mich anders aus als normalerweise?
„Aber Joachim... wovon sprichst du?“
„Hast du nicht irgend etwas Fremdes an mir bemerkt... Ich habe mich wirklich nicht verändert? Komm, sieh genau hin! Es kann eine Kleinigkeit sein, das würde schon völlig genügen....“
Sie antwortete nicht, sondern zog die Brauen zusammen. Wurde jetzt ihrerseits blaß, wandte das Gesicht ab und stierte für einen Moment blind durch die Windschutzscheibe. „Was meinst du mit ‚verändert’?“ murmelte sie. Kniff die Lippen aufeinander. Unvermittelt riß sie, weil ich schwieg, ihren Kopf herum und rief: „Dann sag schon, was los ist! O bitte! Du immer mit deinen Frauen!“
„Ich s a g doch: nein! Keine Frauen. Ein Gefühl. - Ich... ich weiß auch nicht. Du verstehst nicht.“
„Ich hab keine Lust zu sowas, Joachim. Wirklich...“
„Ich kenne dich nicht.“
„Wie?“!
„Du kennst m i c h nicht.“
„Verzeihung, soll das jetzt ein Psychodrama werden?“
„Ich sag doch, daß du es nicht verstehst.“
„Also dazu hab ich ja nun ü b e r ha u p t keineLust!“
„Ich bin nicht dein Mann, Christine. Ich habe dich vor... hab dich vor einer Stunde das erste Mal in meinem Leben gesehen.“
Sie lachte trocken auf, verstellt, künstlich. Und wurde restlos häßlich dabei.
Ich hatte spontan den Impuls, ihr wehzutun. „Du bist häßlich“, sagte ich. „Hast du eine Ahnung, wie häßlich du bist.“
Sie bekam einen ganz starren Blick.
Da tat sie mir schon leid. Ich legte die linke Hand auf ihren rechten Unterarm. „Sorry“, sagte ich. „Verzeih mir bitte. Das war dumm.“
Es war ihr deutlich anzusehen, wie sie sich zusammenriß. Wieder kniff sie die Lippen zusammen. Sie startete den Wagen, schwieg.
„Es ist mir so rausgerutscht. Bitte. Ich hab es nicht so gemeint.“
Sie schwieg weiter, fädelte uns in die Fahrspur zurück.
Na gut.
Wir schwiegen, bis wir angekommen waren.
Es wurde einer dieser Tage, die ihre Beine behäbig in den Nachmittag strecken und nicht vorankommen wollen. Ich bin sowieso nicht gern bei meiner Mutter. Dabei war die starre Frau in letzter Zeit ausgesprochen um innere Güte bemüht, fast liebenswürdig an der Normalisierung unserer Beziehung besorgt. Natürlich wirkte es gestellt. Überhaupt war in ihrer Nähe alles höchst künstlich, von der überpräzisen Art, mit der sie die Endsilben der Wörter aussprach bis zu den anthroposophischen Schondeckchen, die das Stilmobiliar schützten. Sie hatte eine Art Brunch vorbereitet, ihr Mann war auch dabei, ein weichlicher Fünfziger, der nach Moschus roch und wie ein altgewordenes Meerschwein in dem Le-Corbusier-Sessel hockte. Tatsächlich war er das einzig Gutherzige, mit dem meine Mutter sich umgab, ein verlorener Autohändler, der zu weinen anfing, wenn er zuviel getrunken hatte. Es war schon vorgekommen, daß meine Mutter ihn schroff zurechtwies und vor allen Leuten nach Hause schickte, wenn sie auf Gesellschaften waren und er sich, wie sie das ausdrückte, danebenbenahm. Ich mochte ihn irgendwie, doch konnte man keine Achtung vor ihm haben, auch wenn ihn offenbar seine Art hatte zu Vermögen kommen lassen, jedenfalls seit er mit meiner Mutter zusammenwar. Aber er war nett, fast rührend.
Wenn ich schon Schwierigkeiten mit meiner wirklichen Mutter habe, so gab es keinen Grund, mich dieser Parallelmutter gegenüber zurückzuhalten. Sie war einfach nicht zu ertragen. Mir wurde fast handgreiflich bewußt, den drei Leuten in diesem hochgestylten Raum, worin selbst die wenigen Bilder erstickten, grundlegend fremd zu sein. Das war nicht bedrohlich. Nur schrecklich lästig.
„Wie bist d u denn heute darauf?“ Sie sagte nicht „drauf“, nein, meine Mutter sagte wirklich „d a rauf“. Zum Kotzen.
„Laß ihn, Gisela, er hat Anwandlungen seit heute früh.“ Schon stupend, wie genau Christines Satzmelos den Ton meiner Mutter traf.
Ich hielt die Bemerkung, die mir spitz auf dem Zungenhals hockte, unter knappem Auflachen zurück. Schwieg einfach. Aber als wir uns am Spätnachmittag im Anschluß an einen kleinen Spaziergang durch die Vorgärten wieder in diesem Schöner Wohnen niederließen und zu allem Leidwesen auch noch Canasta-Karten vorgeholt wurden, und als Don Quixana, wie meine Mutter ihren Mann bisweilen nannte, dazu eine Flasche Martell auf den Tisch stellte, lehnte ich mich ganz weit zurück, legte den Kopf in den Nacken, schloß die Augen und atmete laut durch. Es war zum aus der Haut Fahren! Ich gähnte, gähnte ein zweites Mal.
„Was ist? Spielst du nicht mit?“
„Nein“, sagte ich. „Ich spiele nicht mit.“ Eine solche Woge aus Sehnsucht und Verlorenheit nahm mich auf, hob mich, brach sich. Ich wollte so gerne zu meiner wirklichen Frau zurück, fast hätt ich geweint wie Quixana.
Christine und meine Mutter sahen sich an und zuckten simultan mit den Schultern.
„Wer nicht will, der hat schon.“
„Aber Junge!“ machte Quixana, dabei ist er keine fünfzehn Jahre älter als ich. „Er sieht ganz fahl aus.“ Das zu meiner Mutter. Und zu Christine: „Kommt er zu wenig nach draußen?“ Und zu mir: „Das Büro, nicht wahr? Ich weiß, wovon ich spreche. Das schafft einen. Nimm einen Cognac, hier“ und goß mir den Schwenker voll Mitleid. „Trink, damit du zu Kräften kommst.“ Es hätte nur noch gefehlt, daß er mir auf den Rücken patschte.
,,Ach was! Bis elf im Bett gelegen hat er!" So Christine.
Bleib mir bloß vom Leib.
Sie winkte ab. Zu Quixana: „Komm schon. Laß ihn.“
Die drei teilten die Karten aus, Quixana sah immer wieder her. Ich starrte zur Decke. Da entdeckte ich eine Handbreit neben dem Chromfuß der Deckenlampe eine Vertiefung, aus der es lockend und pastellrot herausschimmerte. Das Phänomen hatte etwas Fleischliches. Es wirkte wie die Außenhaut eines kleinen Organs, ja wie ein verirrtes, verletzliches Lebewesen, das sich dort in die Decke geschmiegt verbargen, vielleicht um die Nacht abzuwarten und sich im Schutz der Dunkelheit davonzumachen, in der es ein adäquateres Versteck suchen würde. Wovon lebte das Ding? Warum kroch es nicht tiefer?
Ich sprang auf eine der Lampenschalen, guckte zurück. Obwohl mein Sessel nun leer war, bemerkten die drei das nicht, sondern lachten, weil ausgerechnet Quixana das erste Canasta auslegte. Ich konnte völlig unbeachtet einen Arm zu dem Ding ausstrecken, das, als ich es berührte, nicht einmal zuckte. Es faßte sich an wie genäßter Samt. Lebte also offenbar n i c h t, sondern bezog die Vertiefung wie ein in sie hineingewachsenes Moos. Zweifelsfrei war dies ein Eingang ins Labyrinth, in ein anderes aber, wenigstens in ein anderes Segment. Ich tastete tiefer, suchte nach einem Halt. Meine Finger rutschten aber immer wieder ab. Ich brauchte diesmal wirklich lange, außerdem hing ich direkt über dem Tisch. Hätte ich den Halt verloren, ich wäre den dreien, die tief unter mir fast wie unbewegte Puppen saßen, mitten auf die Karten gekracht. In der Tat hatten die Bewegungen etwas Gefrorenes, nein: Es sah aus, als kämpften sich Arme und Hände durch einen unsichtbaren, zähen Morast. Oder als hätte ich mich derart beschleunigt, daß sich die Zeit unter mir viskos dehnte. Auch Gelächter und Gespräche dehnten sich, schließlich war nur noch ein baßdumpfes, rollendes, nahezu maschinelles Grollen zu hören.
Ich hatte also einen guten Vorsprung.
[eingestellt am 6. 7. 2004, 9.56 Uhr]
albannikolaiherbst - Dienstag, 6. Juli 2004, 09:55- Rubrik: FORTSETZUNGSROMAN
(Ich mußte einen Augenblick pausieren, da ich glaubte, draußen den Wärter zu hören. Es wäre furchtbar, nähme man mir mein Diktiergerätchen fort, das möchte ich wirklich nicht riskieren. Ich habe ohnehin das Gefühl, es bleibt mir nicht viel Zeit. Und niemanden gibt es, mich mit neuen Batterien zu versorgen. Dabei hab ich nur noch vier.)
Diesmal kam ich nicht gleich in den Trichter hinein, sondern hing einige Zeit über dem Kratermund. Es gab keine Wurzelschlaufen, an denen sich hätte Halt finden lassen. Immerhin bekam ich an der oberen Tapetenleiste Halt, so daß ich nicht zurückstürzte, sondern mich mit einem Fuß halbwegs bequem sichern konnte. Dennoch blickte ich lieber nicht hinab. Sowieso verhielt ich mich still. Denn noch zwar plapperte Christine im Flur, aber vielleicht käme sie mit dem Portable ins Schlafzimmer und entdeckte mich dann... Also warten. Dummerweise fing ich - fing es in mir - zu grübeln an, was in meiner Lage wirklich nicht opportun war. Aber ich entsinne mich genau, wie unvermittelt mir der Gedanke durch den Kopf schoß, daß meine Rückkehr in das Gangsystem eigentlich völlig sinnlos war: existierte nämlich schon eine der meinen analoge Welt, so konnte es ohne weiteres Hunderte, wenn nicht Tausende geben, eine jede völlig verschieden und doch gleich... mal mochte Links-, mal Rechtsverkehr herrschen, mal Christine blond, mal dunkelhaarig sein. All die Verzweigungen, die schon bislang aus den Verteilersälen abgegangen waren! Wie also je wieder den Weg zurück in meine Heimatwelt finden? Woran feststellen, daß sie es w a r? Da lebst du jahrelang mit einer Frau, nur um dann festzustellen, sie i s t es gar nicht. Wie es konnte jemand in solcher Unsicherheit aushalten? Nur eines wußte ich, auf ein einziges Indiz ließ es sich verlassen: Ich erinnerte mich sehr genau daran, wo in der Decke diese erste Vertiefung, dieses erste Kraterloch gewesen war. Daran würde ich es erkennen.
Aber --- ich? Wer würde es erkennen? Gab es nicht auch mich in Varianten? Konnte sich einer selbst begegnen? Wieso war ich übrigens eben nicht daheimgewesen? Meine Anwesenheit hatte „Christine“ in keiner Weise überrascht. Was war mit ihrem „wirklichen“ Zilts? Machten „wir“ uns immer alle zugleich auf den Weg, wenn es mich wie jetzt in die Zwischenwelt zurückzog? Dieses völlige Durcheinander, die Vorstellung unendlich vieler Meinesgleichen, die alle simultan an so einem Wandloch hingen, ließ mich schwindeln... und fast hätte ich einfach losgelassen und wäre rückunter wie ein Käfer auf den Boden geknallt.
Der Adrenalinstoß ließ mich nachgreifen und endlich hineinzerren. Diesmal war der Eingang nur schmal und ließ es nicht einmal zu, daß man auf Knien voranrutschte. Ich mußte mich ein paar Meter robbend in die Tiefe hineinzwängen, obwohl ich nun paar Sachen dabeihatte... und viel zu dick angezogen war. Dann schraubte mich der Gang unvermittelt in eine gewendelte Höhe, die ich wie einen Kamin erklomm, da es keinerlei Vertiefungen, geschweige Stufen gab. Stück für Stück stemmte ich mich hinauf. Ich brauchte fast zwanzig Minuten, bis ich klitschnaß vor Schweiß oben ankam. Mit einem letzten Ruck zog ich mich auf das Plateau.
Es war dunkel. Wie gut, daß ich an die Taschenlampe gedacht hatte. Ich lag am Rand der senkrecht abfallenden Röhre und leuchtete den Gang aus, der sich beidseits cañongleich in die Ferne dehnte. In dem übern Boden gleitenden Lichtkegel waren dunkelstumpf eine ganze Reihe weiterer Bodenöffnungen zu ahnen, das Plateau war durchlöchert davon, und zwar auch an den Seiten sowie der schmal gewöbten Decke. In einigen Gängen stand das milchige Licht, andere waren komplett dunkel. Sie konnten auch tot enden, wer sagte denn, daß es hier nicht ebenso viele Sackgassen wie Verbindungsschächte gab?
Langsam richtete ich mich auf. Nach rechts jetzt, links? Besser gar nicht an all die Weggabeln denken!
Vorsichtig schritt ich zwischen den Schächten hindurch, leuchtete in diesen, in jenen. Manchmal sah es aus, als bliebe der Lichtkegel in Samt stecken. Aber auch der Cañon selbst nahm kein Ende. Ich war schon wieder Stunden unterwegs, so kam es mir vor. Immerhin wurde es heller, als dimmte sich irgendwo langsam eine Lampe auf. Das war nicht wie bei morgendlichen Sonnenaufgängen, die ja ebenfalls so etwas Stetiges und Gleichmäßiges haben. Sondern ich kam mir beobachtet vor. Dabei stieß ich, anders als bei meinem ersten Eintritt, nirgendwo mehr auf solche Spuren von Zivilisation wie damals auf die aufgeschichteten Baumstämme. „Damals“? Was d a c h t e ich! – Ich mußte voran, es half nichts.
Ich erreichte abermals einen der Verteilersäle, als ich etwas hörte. Erst dachte ich, mir das nur einzubilden, aber dann wurde es deutlicher: Eine Art leises Wimmern schien indirekt, abgedämpft sozusagen, über den Boden zu ziehen, als drückte man jemandem ein Polster auf den Mund. Aber niemand war zu sehen, auch in den Gängen dieses Relais’ nicht. Dann hatte ich den Eindruck, das Wimmern steige aus dem Boden auf. Weshalb ich mich hinkniete und das Ohr auf den groben, gipsartigen Stein legte. Tatsächlich! Da weinte jemand. Und zwar aus der Richtung, aus der ich selbst hergekommen war, allerdings wie ein Stockwerk darunter. Wahrscheinlich gab es einen direkten Zugang, an dem ich in meiner Verwirrung vorbeigegangen war. Nun leuchtete ich die Wände und den Boden akribisch mit der Taschenlampe ab.
Ich mußte kaum mehr als fünf Minuten zurückgehen, um das Gejammer geradezu handfest in den Ohren zu haben. Doch anders als angenommen, kam es nicht von unten, sondern ganz offensichtlich aus einem Seitenschacht, in den ich mich irgendwie hinüberteufen müßte (ein Ausdruck, den ich selbstverständlich erst später lernte). Jedenfalls schien er sehr nah dem meinen, wahrscheinlich mit ihm parallel zu verlaufen.
Ich tastete die Wand ab, vielleicht gab es ein paar lose Steine oder Mörtel war herausgebrochen. Sie faßte sich wie tapezierter Rigips an. Als ich dagegenklopfte, klang es tatsächlich hohl. Deshalb holte ich aus und trat mit dem rechten Fuß dagegen. Und wirklich: Eine ansehnliche Delle. Das Weinen hörte unmittelbar auf.
„Ist da jemand drin?“
Ich erhielt keine Antwort, war mir aber sicher. Also noch zweidreimal in die Wand getreten, dann splitterte ein pappener Durchbruch. Er staubte allerdings furchtbar. Ich trat n o c h heftiger, trat aus der Hüfte, bekam eine veritable Öffnung hin, konnte mich durchzwängen.
In dem Nebengang kauerte am Boden eine noch in ihrer Ducke deutlich hochgewachsene Gestalt, die einen Annorak trug, die Kapuze übern Kopf gezogen. Dennoch merkte ich sofort die Frau. Sie wimmerte freilich nicht oder nicht mehr.
,,Hallo", sagte ich. ,,Hallo, Sie...“
Wahrscheinlich hatte sie Angst und stellte sich taub. Ein atavistischer Reflex, den ich aus meinen Experimenten mit Nagern gut kannte.
„Sie müssen meine Angst haben, ich will Ihnen nichts tun.“
Vorsichtig ging ich auf die Frau zu, wollte sie ja nicht gänzlich verschrecken. Ich streckte eine Hand aus, um sie sanft zu berühren, da schoß die Person urplötzlich hoch und schleuderte herum, wobei sie ein häßlich meckerndes Lachen ausstieß. Und auf nackten Füßen davonrannte.
Ich stand verschreckt da. Noch nie hatte ich solch ein Antlitz gesehen, weiblich, ja, aber keine der mir bekannten Völker hatten ähnliche Gesichtsmerkmale. War ich auf eine verschollene, anderswo längst ausgestorbene Gattung gestoßen? Völlig egal! Ein lebendes Wesen... und jemand, der mir vielleicht Auskunft geben, mir vielleicht zeigen konnte, wie ich nach Hause kam.
Bloß hinterher! Ich mußte die Frau erwischen, bevor sie in den nächsten Verteilerraum gelangte.
Sie war schon weit voraus, aber im Gang hallte das Klatschen ihrer Füße, und ich bin ein geübter Läufer. Keine Frage, daß ich sie einholen würde; sie hatte trotz ihrer Größe sehr fragil gewirkt und war vielleicht schon vom Weinen oder doch eher davon erschöpft, was es ausgelöst hatte, von Trauer, von Schmerz. Tatsächlich hatte ich sie dann auch schon vor mir.
„So bleiben Sie doch stehen!“
Ich sprang. Versuchte, das Geschöpf am Anorak zu packen. Es blieb auch stehen. Drehte sich um. Und mit ungeahnter Fratze, in der eine Art glühendes Lachen brannte, gab mir die Person einen Tritt. Und noch einen. Ich war viel zu überrascht, um mich zu wehren. Bekam einen weiteren Tritt ab, dann einen Hieb. Ich wich zurück, verlor den Halt, strauchelte, jemand riß den Boden unter meinen Füßen weg. Ich stürzte abermals hinab.
Und während ich fiel, jubilierte mir das Geschöpf ein gackerndes, spöttisches Lachen hinterher.
[eingestellt am 5.7.2004, 1.15 Uhr]
albannikolaiherbst - Montag, 5. Juli 2004, 01:24- Rubrik: FORTSETZUNGSROMAN
I
Schacht,
Bergbau: senkrecht ( seiger) oder schräg ( tonnlägig) angelegter Grubenbau von im Verhältnis zur Länge kleinem Querschnitt. Ein seigerer Schacht (Richtschacht) steht überwiegend im Nebengestein; der tonnlägige Schacht kann inner- und außerhalb der Lagerstätte verlaufen. Ein Tagesschacht geht von über Tage aus. Der Hauptschacht wird ständig zum Ein- und Ausfahren der Bergleute, zur Förderung, zum Ein- und Ausziehen der Wetter und zum Abführen der Grubenwässer benutzt. Sein Querschnitt, die Schachtscheibe, ist in versch. Abteilungen (Trume) unterteilt. Ein Nebenschacht dient nur einer der genannten Aufgaben (z.B. Förder-, Wetterschacht); ein Blindschacht verbindet mehrere Sohlen unter Tage. Das Niederbringen des Schachtes (Schachtabteufen) geschieht im festen Gestein durch Bohr- und Schießarbeit. Beim Senkschacht- oder Spundwandverfahren wird die geschlossene Schachtwandung als Ganzes vorgetrieben. Ein anderes Verfahren ist das Schachtbohren oder Großbohrlochverfahren mit Bohrern, die den vollen Querschnitt des Schachtes erzeugen. Lockere, auch Wasser führende Schichten durchteuft man mit dem Gefrierverfahren, bei dem durch Einleiten eines Kälteträgers ein Mantel aus gefrorenem Boden hergestellt wird. Eine Verfestigung und Wasserundurchlässigkeit des Gebirges erreicht man auch mit dem Zementierverfahren.
© 1999 Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG
4./5.7.2004, nachts
III
Gangsysteme
unter der Haut
unter der Insel
in Pyramiden
5.7.2004, 13.50 Uhr
Rechnet man das All zur Materie, dann wären Umlaufbahnen ebenfalls Gänge:

(c) ESA, Link: Bildklick
5.7., 14.15 Uhr
albannikolaiherbst - Montag, 5. Juli 2004, 00:26- Rubrik: FORTSETZUNGSROMAN
Aber es war dunkler darin als in dem anderen, so setzte ich die Füße von Anfang an nur noch vorsichtig auf. Ich strich sogar immer mit den Fingern die Wand entlang, manchmal, wenn es sehr sumpfig wurde, hielt ich mich an Vorsprüngen und so etwas wie herauslangenden Wurzeln fest; was sie wirklich waren, konnte ich allenfalls ahnen. Und immer weiter ging es hinab, ich hätte längst schon wieder unten angekommen sein müssen. Würde irgend eine Tapetentür aufdrücken, die es aus wasweißich für Zeiten in dem Altbau gab. Wahrscheinlich müßte ich mit ziemlicher Gewalt ziehen oder pressen, egal, jedenfalls bekäme ich es endlich hin und stolperte in mein Schlafzimmer. So simpel stellte ich mir das vor, während ich weiter- und weitertappte, bisweilen stehenblieb und lauschte. Aber ich weiß weder, wie w e i t noch wie l a n g e ich mich so vorgekämpft habe, als mir der Boden unter den Füßen wegblieb, das Gefälle war Absturz geworden, ich verlor den Halt und rutschte armrudernd tiefer, wurde schneller, konnte überhaupt nichts sehen, rutschte wohl die Schräge eines Trichters hinab, dann wurde es mit einem Mal hell, prallende Sonne, ich drehte mich zentrifugal durch die Wand, ein heftiger Schmerz schoß in den linken Ellbogen, aber ich schrie nicht, ich jagte nur weiter, schlug auf. Als ich zu mir kam, lag ich in meinem Bett und starrte zur Decke.
Nun ist das nur bedingt wahr. Zwar lag ich durchaus in einem Bett, sogar einem, das dem meinen auf verblüffende Weise glich; dennoch war es ein anderes, überaus fremdes. Insgesamt machte dieses Schlafzimmer einen verdächtigen Eindruck. Das lag gewiß nicht an den Schmerzen in meinem Ellbogen, auch nicht daran, daß ich mich offenbar erbrochen hatte. Ich schien nach dem Aufprall für kurze Zeit ohnmächtig gewesen zu sein. Offenbar hatte mich eben diese Abwesenheit gegenüber naiver Vertrautheit sensibilisiert. Nicht ein Sessel stand anders als gewohnt. Gerade darin lag die Tücke. Der letzte Gang hatte mich in eine Welt abgeschüttelt, die zwar analog meiner eigenen geordnet, sie aber eben nicht war. Schon entdeckte ich Unterschiede, Kleinigkeiten, ich geb es zu, Unterschiede aber doch, Differenzen... ich möchte sogar von „Anomalien“ sprechen. Etwa das Furnier des Ikeaschranks, aber auch... eben!: Christine besaß keine Trockenhaube! Das hätte ich gewußt, wenn sie etwas so Absurdes ins Schlafzimmer gestellt hätte. Außerdem befand sich der Krater, dieses Loch in der Decke, durch das ich ganz offenbar abgestürzt war, an einer völlig anderen Stelle als das, welches mir vorhin als Einschlupf gedient hatte. Sowieso war das Ding erheblich breiter. Kein Wunder also, daß ich mich nicht hatte halten können. Ich, in meiner Welt, hätte so etwas schon längst mit Spatelmasse gefüllt und dann überstrichen. Es gibt auch in m e i n e m Leben Nachlässigkeiten, gar keine Frage, aber dieses Ding da wäre mir peinlich gewesen.
Nein, ich hatte nicht, wie man so sagt, „nur“ geträumt. Meine verquere Situation war real. Ich hatte mich versehentlich in eine Parallelwelt locken lassen. Noch zwei Tage vorher hätte ich über sowas gelacht, ich bin immer Pragmatiker gewesen. Und grübelte pragmatisch darüber nach, wie ich wieder zurückkommen konnte, als eine derart vertraute Stimme, daß die Täuschung völlig auf der Hand lag, durch den Korridor rief: „Willst du nun endlich aufstehen, Faulpelz?“ Und dann kam sie auch schon herein, ähnlicher meiner lieben Christine, als es möglich ist. Die Frau war wie ein Klon, so gleich waren beide einander. Dennoch gab es in ihrer Stimme etwas, das mir die Nackenhaare sträubte. Außerdem blinzelte diese Frau mich so ausgesprochen spöttisch an, daß einer sich nur ducken konnte. Ach, wie ich mich irrte! Denn von den Wanderern, zu deren einem ich so ganz ohne Vorsatz geworden war, wissen die Menschen ja nichts.
Ich rührte mich nicht. Ich gab auch keine Antwort.
„Um Gotteswillen, Joachim, ist Dir s o schlecht?“
Schon zog sie mir die Decke vom Körper. Das war übrigens jetzt mal erleichternd. Sie hatte träge auf mir gelegen, ich hatte mich geekelt vor ihr, aus solch einem unbekannten Material war sie gewoben. Wenn „weben“ überhaupt das richtige Wort dafür ist.
„Aber Joachim, das muß sofort in die Wäsche! O Gottogott, sag doch einen Ton! Bist du bei Besinnung? Was ist los?“
Nein, ich schwieg. Ich starrte nach dem Trichterloch. Aber kam nicht heran. Es war drinnen ja sowieso zu steil.
„Meine Güte, was hast du denn da gemacht?“ Sie hatte den Ellbogen gesehen. Er blutete offenbar, ich selbst schaute nicht hin, sondern rang still mit der Erkenntnis, welch ein Alien ich war. Ich gehöre hier nicht her, ich muß möglichst schnell wieder weg.
„Gott, Schatz, bitte sag was!“
„Es ist nichts. Es ist wirklich nichts.“
„Aber du blutest! Und du hast dich übergeben!“
„Ich ... ich weiß nicht...“ Es war das klügste, verwirrt zu tun. „Ich habe sehr schlecht geträumt.“ Ich richtete mich auf, vorsichtig, rieb die Augen, blinzelte zum Fenster. Es war schon unanständig schönes Wetter.
„Aber das muß doch behandelt werden!“ Sie eilte ins Bad, kam mit Flüssigverband und Betaisodona zurück. „Wo hast du das bloß her? Möchtest du deinen Kaffee lieber ans Bett?“
Ich ließ ihre Sorge über mich ergehen, selten habe ich so viel Falschheit erlebt.
„So, das ist jetzt erstmal besser. Und wirklich, wasch dich... Meine Güte, soviel h a s t du doch gar nicht getrunken..!“ Ziemlich widerwärtig hüpfte sie, die verschmutzte Wäche vor sich hertragend wie ein Tablett, wieder hinaus.
Ich suchte nach einem Einschlupf, fand keinen. Auch draußen, vor dem Fenster, hatte sich nichts verändert. Die drei Buchen, die Wiese, der Jägerzaun. Die Einfahrt. Wie immer hatte Christine sie gestern abend offen stehenlassen. Drüben Schmidts, die nächste Reihe die Henkells, danach... Moment! Ich hatte die Namen unserer neuen Nachbarn vergessen.
Schweigsam kaute ich auf den Brötchenbissen.
„Irgend etwas ist!“ sagte sie.
„Nichts ist“, sagte ich.
„Aber du hast das doch nicht von Nichts!“
Ich hatte einfach keine Lust zu reden. Was hätte ich Christine erzählen können? Daß wir einander fremd waren?
Ich stand auf. Ich ging ins Schlafzimmer. Ich legte mich aufs Bett zurück. Christine stellte sich in die Tür, starrte mich an. „Also was machst du denn jetzt?!“ Ich sprang auf. Ich kramte paar Sachen zum Anziehen zusammen, zerrte die Tasche vom Schrank. Stopfte sie mit Jeans T-Shirts Socken Pullovern. Ging sogar noch mal, sicherheitshalber, auf die Toilette, Christine bis zur Tür hinter mir her.
„Was hast du vor?“
„Pinkeln. Merkst du doch.“
Ich kam wieder raus, schob Christine entschlossen zur Seite, schlüpfte in die Reeboks. Dann zog ich mir den Anorak über, stopfte noch die Taschenlampe in die Tasche, ließ meine Blicke schnell über die Zimmerwand gleiten. Christine wählte am Telefon, grüßte ihre ziemlich fade Freundin Mildred, war abgelenkt. Das nutzte ich. F a n d einen Einschlupf. War wieder fort.
[eingestellt am 3.7.2004, 13.20 Uhr; modifiziert 5.7.2004, 1.15 Uhr]
albannikolaiherbst - Samstag, 3. Juli 2004, 14:21- Rubrik: FORTSETZUNGSROMAN
Alban Nikolai Herbst
Joachim Zilts’ Verirrungen
Eine Erzählung.
ERSTER TEIL
Meine Wanderungen begannen im April. Niemand wird sie mir glauben, man wird allenfalls denken, ich hätte sie halluziniert. Mir wird ja ebenfalls nicht geglaubt, daß ich diesen Raum verlassen kann, wann immer ich will. Ich will aber nicht. Denn ich bin hier geborgen.
Es war also ein warmer Sonntagmorgen.
Christine hatte sich schon ins Bad begeben, derweil ich noch etwas döste und nun dem Prasseln der Wasserspitzen am Duschvorhang lauschte. Durch das offene Schlafzimmerfenster wurde ein Kinderlachen geworfen. Sonnenlicht stand etwas streifig auf der Scheibe. Ich verschränkte die Hände unterm Kopf und sah zur Decke. Wir müßten dringend renovieren, dachte ich, das Weiß hatte sich scheckig eingegilbt, wohl noch aus der Zeit, da wir rauchten. Langsam glitten meine Blicke unter der Zimmerdecke dahin, wie ein Käfer krallten sie sich an Unebenheiten fest und näherten sich dabei einer Art Krater. Imgrunde war es nicht mehr als ein Loch, von irgendeinem Bohrer für den Dübel da hineingedreht... aber seltsam! Wieso da? Kein Mensch brächte die Deckenlampe so seitlich an, so dilletantisch deplaziert. Dennoch, das Ding fesselte meine Aufmerksamkeit. Ich kletterte noch etwas näher heran und hatte das Gefühl, irgend etwas gehe davon aus, eine Art akustischer Schleier. Denn die Geräusche vom Hof, aus dem Bad, ja sogar mein eigenes Atmen bekamen etwas von gedämpfter Ferne. Und als ich einmal hinuntersah, fand ich das gesamte Zimmer wie von einem weißlichen Film überzogen, der etwas Nebelhaftes gehabt hätte, wäre er nicht so pergamenten trocken gewesen: derart stumpf, daß man angesogen wurde davon, festgesaugt und dehydriert. Deshalb vermied ich jeden weiteren Blick hinab, kroch weiter, hatte schon einen Arm in den Krater gesteckt, um nach etwas zu tasten, woran ich mich festhalten konnte. Es gab in etwa einem halben Meter Tiefe tatsächlich einen griffartigen Vorsprung. Es schien eine Pflanzenranke zu sein. Momentlang hing ich unter der Decke in der Luft, gab mir einen Ruck, faßte mit der zweiten Hand nach und brachte mich mit einem Klimmzug in die Lage, den rechten Fuß in die Kraterwand zu stemmen. Indem ich das Knie streckte, schaffte ich es mit dem ganzen Körper in den Krater hinein, stand sicher mit gespreizten Beinen darin, holte einen Moment lang Atem. Dann reckte ich mich etwas höher, um zu sehen, wohin diese Öffnung eigentlich führte. Natürlich tat ich das mit konzentrierter Vorsicht, denn die Gefahr, abzuruschen und im Zimmer unglücklich aufzukrachen, war ziemlich groß. Doch ich hatte Glück. Der Krater war an seinem Ende zwar eng, aber doch breit genug, daß sich ein Mann auf die Zwischendecke hindurchziehen konnte. So lag ich endlich sicher da oben. „Ist jemand hier?“ rief ich in die leere Weite hinein. Rechts von mir gab es einen Horst aus jenen kieferartigen niedrigen Gewächsen, deren Wurzeln mir beim Herkommen Halt gegeben hatten. Sie hatten holzige, eingedrehte Blätter, die sich ganz ähnlich den Wurzeln zu Spiralen aufdrehen wollten. Am Weg, der in das Gehölz hineinführte, waren gesägte Stämme aufgeschichtet. Also war ich nicht allein. Doch keine Seele da. Auch ließen sich keine weiteren Spuren von Kultur mehr bemerken. Es gab keine Türen, keine Häuser, keine Fenster. Wie ließ es sich hier überleben? In der Tat, ich bekam Hunger. Deshalb noch einmal: „Ist jemand hier?!“
Wie eine verschneite, erstarrte Landschaft breitete sich nahezu fünfzig Meter unter mir das Gebirge meines alten Bettes aus, und Schränke Stühle Kommode hatten etwas bedrohlich Monströses. Ich hatte weder eine Ahnung, wie ich zurück nach unten gelangen konnte, noch hätte ich das im Moment überhaupt gewollt. Und auf den Hunger folgte so etwas wie Panik. Die ich unbedingt niederdrücken mußte. Weshalb ich mich nicht bewegte, sondern die Augen schloß und in mich hineinfühlte. Keine Ahnung, wie lange ich da so gelegen habe. Es war Christines Stimme, die zwar von sehr weit her an mein Ohr drang, mich aber dennoch aus meiner, so muß ich das nennen, Duldungshaltung weckte.
„Joachim“, hörte ich, „Joachim, nun steh doch auf!“
Aber Christine kam nicht ins Zimmer, nichts darin bewegte sich, alles lag wie ein totes Modell. Environment, dachte ich. Wahrscheinlich hatte ich mir ihren Ruf nur eingebildet, ja mir unbewußt gewünscht, meine Frau rufe mich zu sich zurück.
Jedenfalls konnte ich nicht einfach so liegenbleiben, es mußte etwas geschehen. Da sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, war es leicht, mich über das Gehölz hinaus weiter umzuschauen. Eigentlich war der Raum eine Art kleiner Saal, der sich, überall leicht abschüssig, in diesen und noch zwei weitere Krater wie in Abflüsse senkte. Zugleich erinnerte er an eine Zelle, von der einige Schächte abgingen, bzw. mündeten sie in ihr. In welchen ich auch hineinschaute, jeder verlor sich an eine schummrige Weiße, die dem trocken-Nebelhaften nicht ganz unähnlich war, mit dem sich mein Schlafzimmer angefüllt hatte. Bei einem letzten Blick hinab sah ich es wie in Lichtschnee versunken.
Ich zögerte, als ich mich aufgerichtet hatte, dennoch. Vielleicht sollte ich meinerseits nach Christine rufen? Sie hätte die Leiter aus der Kammer holen und mich vielleicht wieder hinabsteigen lassen... aber dann fand ich das alles dermaßen irrsinnig, daß ich auflachte und einfach in den nächstbesten Gang schritt.
Er wandt sich sehr lange dahin und stieg nach etwa 10 Minuten steil an. In ihm – ja: schwamm dieses Dämmerlicht, ohne daß ich hätte sagen können, woher es stammte. Lampen gab es nirgendwo, das Licht war grundlegend indirekt. Doch schien ich diese Beleuchtung mir zu lassen, denn die Dämmerung wurde, ich muß das so ausdrücken, immer dunkler. Schließlich konnte ich kaum noch etwas erkennen, setzte mich sogar für ein paar Augenblicke, lauschte. Nein, man hörte überhaupt nichts anderes mehr als das eigene Blut in den Ohren. Mir wurde etwas kühl, eine Brise, die nach Keller roch, ließ mich frösteln. Immerhin trug ich nichts als meinen Schlafanzug. Außerdem wurde es deutlich feucht, ich merkte das im Sitzen ziemlich schnell, kam deshalb schleunigst wieder hoch. Erkälten wollt ich mich nun wirklich nicht. Sowieso, der Gang mußte irgendwo hinführen. So enorm ausgedehnt konnte eine Zimmerdecke nicht sein, es war ohnedies alles verdächtig überdimensioniert.
Dann kam mir eine andere Beleuchtung entgegen. Als wäre sie geschritten. Sie pulsierte wie ein Gas, in das man eintreten muß. Ich penetrierte eine Haut, stolperte schon, nein, rutschte aus, fluchte, wäre fast hingefallen. Fand Halt, stand vor einem kleinen Absturz hinein in das nächste dieser Verteiler-Sälchen. Denn auch aus dem führten Gänge heraus, es gab abermals ein paar Krater im Boden, und zwar einige mehr als in dem Raum, durch den ich vor knapp einer Stunde erstmals in dieses bizarre Decken- und Gangsystem hineingeraten war. Hier fanden sich sogar in der Decke Krater, in die man sehr weit hineinsehen konnte und die ebenfalls in einem weißen Nichts zu enden schienen.
Ich kletterte in den Saal, mein Gang mündete etwa einen Meter über dem Boden und wirkte wie ein Kanalisationsschacht, nur sauberer, nahezu steril... von der Feuchtigkeit abgesehen, die hier nun auch im Raum stand. Und eigenartig! Denke ich zurück, dann kann ich mich überhaupt nicht erinnern, jemals noch solcher Nässe in den Systemen begegnet zu sein.Im Gegenteil war es meist so trocken, daß einem die Luftröhre kratzte. Dauernd mußt du dich räuspern, die Flimmerhärchen in der Luftröhre werden geschädigt, eine Art chronisches Asthma greift um sich, du schnappst anfallsweise nach Luft... zugleich atmest du nicht etwa flach, nein, mit gleichsam vollen Lungen pumpst du sie nur immer weiter auf. Es ist, um es kurz zu machen, wirklich kein Klima für Menschen. Vielleicht liegt es daran, daß sie in den Gängen ihre Gefühle verlieren und so mitleidslos, so gemüthlos werden. Ich mußte, das war mir klar, schnell wieder hinaus. Da ich aber nicht hinabspringen wollte – es ließ sich durch keinen der Bodenkrater etwas erkennen, ich sah wie auf lockeres, doch undurchsichtiges Gewölk hinab -, schritt ich kurzentschlossen in einen wiedernächsten Gang, nämlich den ersten gleich rechts von mir. Und hatte Glück: Er führte hinab.
(wird fortgesetzt)
[eingestellt: 2.7.04, nachmittags; modifiziert (1): 2.7.04, 23.45 Uhr]
albannikolaiherbst - Freitag, 2. Juli 2004, 15:33- Rubrik: FORTSETZUNGSROMAN
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