Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

e   Marlboro. Prosastücke, Postskriptum Hannover 1981   Die Verwirrung des Gemüts. Roman, List München 1983    Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger. Lamento/Roman, Herodot Göttingen 1986; Ausgabe Zweiter Hand: Dielmann 2000   Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2001   Wolpertinger oder Das Blau. Roman, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2000   Eine Sizilische Reise, Fantastischer Bericht, Diemann Frankfurtmain 1995, dtv München 1997   Der Arndt-Komplex. Novellen, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1997   Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1998 (Erster Band der Anderswelt-Trilogie)   In New York. Manhattan Roman, Schöffling Frankfurtmain 2000   Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin Verlag Berlin 2001 (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie)   Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, Schreibheft Essen 2002   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Bis Okt. 2017 verboten)   Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Poetische Features, Elfenbein Berlin 2004   Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen, tisch7 Köln 2005   Dem Nahsten Orient/Très Proche Orient. Liebesgedichte, deutsch und französisch, Dielmann Frankfurtmain 2007    Meere. Roman, Letzte Fassung. Gesamtabdruck bei Volltext, Wien 2007.

Meere. Roman, „Persische Fassung“, Dielmann Frankfurtmain 2007    Aeolia.Gesang. Gedichtzyklus, mit den Stromboli-Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage ohne ISBN, Galerie Jesse Bielefeld 2008   Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen, Manutius Heidelberg 2008   Der Engel Ordnungen. Gedichte. Dielmann Frankfurtmain 2009   Selzers Singen. Phantastische Geschichten, Kulturmaschinen Berlin 2010   Azreds Buch. Geschichten und Fiktionen, Kulturmaschinen Berlin 2010   Das bleibende Thier. Bamberger Elegien, Elfenbein Verlag Berlin 2011   Die Fenster von Sainte Chapelle. Reiseerzählung, Kulturmaschinen Berlin 2011   Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks Bern 2011   Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I, Kulturmaschinen Berlin 2012   Isabella Maria Vergana. Erzählung. Verlag Die Dschungel in der Kindle-Edition Berlin 2013   Der Gräfenberg-Club. Sonderausgabe. Literaturquickie Hamburg 2013   Argo.Anderswelt. Epischer Roman, Elfenbein Berlin 2013 (Dritter Band der Anderswelt-Trilogie)   James Joyce: Giacomo Joyce. Mit den Übertragungen von Helmut Schulze und Alban Nikolai Herbst, etkBooks Bern 2013    Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman. mare 2015.   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Seit Okt. 2017 wieder frei)
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Konzerte

Brennen, mehr b r e n n e n! Carl Loewes „Johann Huss“ in der Zionskirche zu Berlin am 28. Oktober 2012.

Das Liedschaffen Carl Loewes, eines der kompositorischen Meister des 19. Jahrhunderts, steht, man kann sich bemühen, wie man mag, immer im Schatten Franz Schuberts - was vor allem dann ungerecht bleibt, wenn man im Vergleich beider Balladen anhört; besonders Loewes Erlkönig-Vertonung von 1824, sein, nicht zu fassen, Opus 1, übertrifft in ihrem deklamatorischen Stil Schuberts Vertonung von 1815, die lyrischer ist, deutlich an Dramatik. Das gibt ihr etwas, von heutiger Hör-Erfahrung zurückgeschaut, ausgesprochen Modernes. Davon einiges hat auch der Johann Huss: einen extrem spürbaren Willen zum intensiven Ausdruck des musikalischen, kann man sagen, Plots. Nicht freilich in erster Linie der Melodik. So etwas bezahlt sich mit Quote. Doch fühlte ich‘s gestern, am Huss, auf der Haut, wie sehr Oratorien für die sakrale Musik eigentliche Opern sind oder daß sie es doch sein können - auch wenn seinerzeit eine „Veroperung“ sakraler Stoffe sicherlich als blasphemisch empfunden worden wäre. Eine kleine Ausnahme mögen die christlichen Hirten- und Erbauungsspiele nach Art von Vaughan Williams‘ „The Pilgrim‘s Progress“ sein - doch das entstand schon im 20. Jahrhundert, wenn auch deutlich der Spätromantik verpflichtet. Für den zu Loewes Zeiten noch vergessenen Johann Sebastian Bach, als dessen nicht Wieder- sondern Entdecker-überhaupt Carl Lowe, neben Mendelssohn, mitgilt, haben Simon Rattle und Peter Sellars meinen Eindruck >>>> nachdrücklich bebildert; ich werde nicht müde werden, auf diese Inszenierung hinzuweisen.
Auch im Huss gibt es eine Hirtenszene, das verbindet die ästhetischen, will hier sagen: Mainstream-Konzepte, zu denen deutlich politische Anspielungen in den damaligen Zusammenhängen der böhmischen Freiheitsbewegung gehören; interessant ist aber vor allem, daß der Huss nicht etwa eine Heilsgeschichte oder einen Ausschnitt aus ihr erzählt, sondern ein, recht eigentlich, Märtyrerschicksal und damit, einerseits, einen ganz anderen Kampf vorausspiegelt, nämlich den zwischen der katholischen Kirche und den sich aufklärenden Wissenschaften; Huss brennt 185 Jahre vor Giordano Bruno. Sondern mit dem Huss-Stoff als Oratorium kreiert die Musik den, sozusagen, ersten Heiligen der Reformation - was theologisch geschickt ist, aber schon deshalb nicht gelingen kann, weil so etwas mit der Bescheidungs-Verfaßtheit dieser religiösen Ausrichtung nicht ineins geht; es ist schlichtweg zu wenig „Heidentum“ in ihr. Loewes Textdichter hat das möglicherweise selbst gespürt: „Ich hoffe nicht, daß du den Johann Huss dem Welterlöser gleichzustellen wagst“, sagt König Siegmund, woraufhin seine Frau das - eben nicht beantwortet, sondern erdend zurückfragt: „War‘s nicht in beiden Fällen Priesterwut, die mit zwei falschen Zeugen sich verschworen?“ Man beachte das hier ziemlich raffinierte Imperfekt, das den Nazarener und Huss zugleich wieder in eins nimmt; der zweite Fall geschieht ja soeben erst, also zur Handlungszeit des Oratoriums; von einem „war“ kann die Rede nicht sein.
Wie der Prozeß ausging, wissen wir. Es war nicht Wahrheit, emphatische, Anlaß des Konzils, sondern sein politisches Ziel war die Wiedervereinigung der unter anderm durch Huss bedrohten gemeinsamen Umfassenheit - deshalb communio, Kommunion. Interessanterweise stellte gestern der Organist Winfried Müller-Brandes in einer kurzen Ansprache, die zwischen Mendelssohn Bartholdys den Spätnachmittag einleitender Choralkantate „Verleih uns Frieden“ und das Huss-Oratorium geschoben wurde, ausgerechnet den Begriff der Ökumene ins Finale seiner Art Predigt und griff damit letztlich auf das - eigentliche - Ziel des Konzils zurück: (wieder) den, eben, ganzen Erdkreis zu vereinen. Nichts anderes meint auch communio. „Und wenn auch einmal die Geister gegeneinander entflammen“, sagte Müller-Brandes, „aber die Herzen füreinander brennen, dann könnte Reformation sogar zur Ökumene führen.“ Man erinnere sich, um sich die theologische Tragweite dieses Satzes klarzumachen, daß der Scheiterhaufen-Mord an Giordano Bruno erst im Jahr 2000 vom Vatikan - doch nicht etwa als päpstliches Unrecht gestanden, sondern zum Unrecht erklärt wurde: von einer der nach wie vor mächtigsten politischen Organisationen der Welt. Dreißig Doktoren, hieß es am Ende des Konstanzer Konzils von 1414, hätten gegen Huss gesprochen; der „Beweis“ gegen ihn war eine Mehrheitsentscheidung. Insofern ist Loewes Huss auch eine Parteinahme für den eben nicht einer Communio - wir sagen heute „Community“ -, sondern der Wahrheit verpflichteten Existenz und damit Parteinahme für das, was einst Zivilcourage hieß. Der Einzelne, auch gegen die Guppe, trägt Verantwortung. Huss ist ermordet worden, weil er nicht korrumpierbar war. Daß gestern dieses Oratorium in einer Kirche aufgeführt wurde, in der 1932 Pastor Dietrich Bonhoffer, umgebracht im letzten Kriegjahr im Konzentrationslager Flossenburg, gepredigt hat, klammert die spätmittelalterliche Historie unmittelbar an unsere jüngste - und daß, aber, die Kirche nicht bis auf den letzten Platz gefüllt war, macht einen da ziemlich beklommen. Es sagt, auch, etwas über politische, bedenkliche, Kontinuitäten. Kein Star hat gesungen, noch gespielt und dirigiert. Kein Tribun, dem man hätte, gemeinsam!, community'sch, zujubeln können.
Dabei war mit Joseph Schnurr besonders die Titelpartie hinreißend lyrisch besetzt, der bisweilen den elegisch-weiten Ton englischer Tenöre hatte, und der junge, in den Höhen nahezu helle Baß Lars Grünwoldts, der die Tiefen dann um so resonierender intonierte, gab „die Bösen“ mit einer solchen Ernsthaftigkeit, daß man schon spüren konnte, es sei den seinerzeitigen Machthabern durchaus nicht um etwas gegangen, das sie als Unrecht empfanden, sondern das sie wirklich bewegte. So etwas glaubhaft, allein mit der Stimme, darzustellen, ist in keiner Weise leicht. Schön, wenn auch nicht so charakterstark wie der Ausdruck ihrer Kollegen, der Sopran Antje Marta Schäffers. Über die Solisten war jedenfalls nichts zu klagen. Sogar die drei Chorsolisten Johannes Krieg, Tobias Schwinger und Sebastian Thieme meisterten das knifflige Problem, mit starken Solosängern als ebensolche konkurrieren zu müssen. Sei‘s, daß sich besonders Schnurr sensibel dann - unmerklich nämlich - zurücknahm, sei‘s, daß sie für Kurzes wirklich sich hinaufhoben, die Partien gelangen ohne auch nur die Spur, ja einer Erinnerung an Aufführungen, in denen sowas schiefging. Das tat und tut es in den meisten Fällen - Meine Hochachtung, also, die Herren.
Ich schrieb von Loewes dramatischem Willen oben. Das geht jetzt ein bißchen gegen das andererseits vollkommen sauber spielende und klug von Anke Meyer geleitete Orchester. Nämlich wäre etwas weniger Klugheit gut gewesen, die, wahrscheinlich, um die Schönheit des Vortrags nicht zu gefährden, auf ein beinah durchgehend moderates Tempo setzte, so daß ich mich manchmal an Gustav Mahlers Partituranweisung erinnerte: „Nicht schleppen!“ Mitunter ist ein Wagnis nicht nur geraten, auch auf die Gefahr hin, daß einem der Fluß durcheinandergerät, so daß man ihn schnell wieder kanalisieren muß, aber doch Angst hat, ob man‘s auch kann - sondern das Wagnis ist gefordert. Das betrifft vor allem die Mengenszenen, die einiges mehr an Chaos gebraucht hätten, sowohl im Chor wie im Orchester. Das betrifft aber auch die dynamische Aktion der Instrumente insgesamt; zu wenig stach da heraus, zu viel sich flößender Mischklang war, der manchmal sogar, gerade dort in der Kirche, den Eindruck von Orgelspiel machte; kein Stamm, aus den abwärts treibenden Stämmen, bäumte sich da auf - kurz: das war alles Communio selbst, gebunden; viel zu zivilisiert wurde musiziert - protestantisch, könnte man sagen. Hier hätte tatsächlich katholisches Heidentum hingehört, mänadisches, denn Carl Loewe war nicht, wiewohl von dem gefördert, Carl Friedrich Zelter, sondern ein, in seinem Besten, Expressivkomponist: Romantiker eben und nicht ein Klassizist der Diplomatie. Wie das im Ganzen hätte klingen können, merkte ich dennoch, am Schluß, der Nr. 25, die der Flammenchor singt: Da ging es dann momentlang so her, wie sich das mit allem Entsetzen gehörte. Davor aber war nicht genug Feuer im Feuer. Es muß allerdings hinzugesagt werden, daß, in einer winterkalten, nämlich komplett ungeheizten Kirche zu spielen, der Musiker Finger auch nicht erhitzt - allein schon aus physiologischen Gründen. So eingemummt und fröstelnd saßen sie alle da.

Carl Lowe
JOHANN HUSS. Oratorium für Soli,
Chor und Orchester (1841).
Joseph Schnurr - Antje Marta Schäffer - Lars Grünwoldt.
Sängerchor der Ev. Brüdergemeinde
>>>> Rixdorfer Kantorei.
Winfried Müller-Brandes.
>>>> Junge Philharmonie Brandenburg.
Anke Meyer.

Zorn und Zartheit. Jörg Meyer über Magdalena Kožená in Kiel.

>>>> D o r t

So schön habe ich das noch nie gehört. Magdalena Kožená. Gustav Mahler, Ich bin der Welt abhanden gekommen. In der Digitalen Konzerthalle der Berliner Philharmoniker.

>>>> d o r t.

Magdalena Kožená
Berliner Philharmoniker, Simon Rattle


[Siehe auch >>>> das heutige Arbeitsjournal um 11.06 Uhr.]

Zum Weinen schön und dennoch, am Ende, ein Absturz. Saison 2012/13 (II). Die Berliner Philharmoniker, von Simon Rattle befeuert, mit Brahms und Bronfman, sowie der dritten Sinfonie Witold Lutosławskis.

[Eine erste Kritik aus der >>>> Digital Concert Hall.
Die Stax auf den Ohren: zu schreiben, während man hört.]


Es ist wohl d o c h etwas mit Brahms, >>>> meine Abwehr brach in die Knie; hier war nun gar nichts, außer dem Schluß, akademisch. Langsam, aber so, daß drin schon ganz die Ballung, läßt Rattle seine Phiharmoniker >>>> das Klavierkonzert beginnen, dieses zweite, als stünde es in moll. Thema in den Hörnern, schwer von Bronfman, aber wie leicht, übergleitet, Thema und fast schon Abschluß. Doch bricht auf: beharrend im Klavier, nachdrückend im Klavier, ganz ganz weites Dur aus den Streichern, weiches absteigendes Modulieren, drunter die Bässe, Aufschwung. Und noch einer, energisches Abermals-Beharren: eine Ouverture, Rattle hat ganz recht: das Stück ist, nicht nur wegen der für ein Konzert ungewöhnlichen Viersätzigkeit, eine Sinfonie. Der schwere Yefim Bronfman durchstapft sie, man kann direkt den Anschlag hören; auch seine Klangperlen sind schwer, aber nicht, niemals lethargisch, sondern von Feuer. Das brennt in dem Mann. Genau diese Schwere gibt Brahms‘ zweitem Klavierkonzert die männliche Präsenz, die es braucht: Ausdruckswille paart sich mit Verantwortung darin. Von hinten rufen die Posaunen. Nein, Abklärung ist nicht, statt dessen der Wille immer wieder, daß es gut werde. So spricht das Klavier mit den Hörnern, ergänzt ihre Versprechen um sein komponiertes Ja.
Absolut perfekt die Phiharmoniker. Rattle hat die Balance restlos ausgehört, scheut keinen Überschuß darum und muß ihn auch nicht scheuen, kann es plötzlich regnen lassen, nur eine Wolke, die ihren süßen Schatten auf das Thema legt: eine Spur Chopin klingt mit, Melancholie >>>> mit einer kleinen Hand, darüber aber - Wille! - Liszt, die thematischen Bögen der Spätromantik. Einhalt. Einmal Atmen. Dann Schluß des ersten Satzes, geradezu klassisch im Akkord. Pause. Neuer Aufbruch, die Erzählung noch einmal, doch quasi slawisch gewendet; dazu passen die Mollkommentare der tiefen Streicher, über die das Klavier gleich wieder sein Weiter! Weiter! hinwegruft. Jetzt beharren die hohen Streicher, Tschaikowski, denkt man, aber Brahms führt auch das ins Thema des Klaviers zurück. Pizzicato-Retardieren.
Dagegen Crescendo: Flöten hinauf, Dialog mit den Streichern, Zusammenfassung, stehender Tanzschritt, mit dem ein fast fugiertes Sprechen anhebt, um in den Klavierpart zurückzuleiten, der resümmierend das akkordische Seitenthema einschiebt, halb triumphierend, halb aber müde vom Tag. Erneuter Einhalt in den Hörnern, wiederneuer Aufbruch zum Satzende, bevor es dann zu den fassungslos schönen Dialogen, zeitlos verklärten Gesprächen, kommt, die der erste Cellist, dem der Dritte Satz quasi gewidmet ist, mit dem Pianisten führt. Wie die Geigen dazu singen, hat etwas vormahlersches, und überhaupt ist dieser Satz aufgelöst in Zwiegespräche Liebender, leichter, man hört das Klavier quasi improvisieren: so mag der Komponist gesessen haben und menschlich vor sich hinprobiert, die Zigarre zwischen den Zähnen, geschwelgt und verliebt und sein Thema begriffen, unsers, und beharrt, denn er ist keiner, der sich auflösen läßt, auch nicht von den Stimmungen. Bronfman meditiert, die Bläser singen, hoch drüber steht die Klarinette. Über die kondensmatten Fensterscheiben laufen Regentropfen. Sie fallen draußen von den Zweigen. Nun ist er da, der Herbst. Und das Cello, wahnsinnig schön, nimmt sein Thema wieder auf: Komm jetzt, sagt es zum Klavier, komm jetzt. Das leicht die Füße aufsetzt, so schwer es ist. Und wieder die Führung übernimmt, den Arm um die bereite Frau. Man muß das gehört haben, wie das Cello schließlich den Kopf beugt und ihn Bronfmann an die Brust legt.
Das macht glücklich. Also, vierter Satz, will jetzt - lebenslustvoll - triumphiert werden. Was nicht ganz gelingt, weil ja da die Themen und der Regen draußen sind. Die wolln bewältigt werden. Dennoch: klares Dur des Klavierparts. Jedes Lächeln, schreibt Goethe, leuchte über einem dunklen Grund. Und das Temperament beharrt: Noch einmal ein Aufbruch, fast schon Abschied: wie darüber hinaus! Die Streicher nehmen erzählerisch das retardierende Zwischenmotiv wieder auf, und Bronfman kommentiert. Man kann dieses Konzert gar nicht oft genug hören, dachte ich, denke ich wieder, während ich‘s zum nun dritten Mal im Ohr habe und erstaunt bin, wie Brahms das hinbekommt, mit einem Lauf ins Finale zu führen. Der schwere Mann rennt ja, flitzt, flitzt in den Geigen, spottet mit drei Pizzicati... ah! ja! das war doch auch Dur... - Und eh ihm noch etwas dazwischenkommt, nicht noch einmal die Schwermut, schließt er - akademisch. Na, denk ich, prima aus der Affäre gezogen.
Keine Sekunde vergeht, da ruft hell eine Frau: „Bravo!“
Der Applaus hätte Zugaben gern. Bronfman, zu recht nach diesem Stück, verweigert sie. Eh sich die Leute einklatschen können, stehen die Philharmoniker auf und gehen in die Pause. Worinnen Simon Rattle von Lutosławskis erzählt, ihren Begegnungen, und wie er, als ein junger Mann, zum ersten Mal diese Dritte gehört. Er habe sie, Lutosławski, für Solti und das >>>> CSO geschrieben, ein Orchester, bei dessen Nennung das Herz des High-End-Begeisterten wild zu pochen anfängt: die Pressungen damals... die LPs von Decca...
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Nun aber Witold Lutosławskis. Dritte Sinfonie, 1983, Solidarność und Befreiung. Der sozialistische Realismus zerfällt. Mit lìgetischen Flächen hebt die Sinfonie an, erst ein Schlag, dann die Flächen. Auch hier wird e r z ä h l t, doch durch all die Zerfällnisse hindurch, in die Brahms‘ Versprechen mit hineingeführt haben. Keine breiten Themengänge mehr des Mischklangs, sondern ausgebreitete, pizzicatokonturierte Polyphonie mit ziehenden, sich verschleifenden Geigen, ja ziehenden Posaunen, woraus sich etwas formt, das melodiehaft ist, wie eine Melodie, aber nicht plotwillig: nicht bereit, in verordnetem Schulterschluß zu marschieren. Statt dessen: Sym/Phonie der Einzelnen. Mit einem Mal wird klar, wie ausgesprochen klug es war, Brahms zweites Klavierkonzert und diese dritte Sinfonie zu kombinieren, daß beide nicht nur, etwa in der Präzision der Faktur, verwandt sind, sondern worauf der musikalische Chef des Hauses, Rattle eben, insgesamt seinen programmatischen Akzent legt: wie er vermitteln will mit großer Musik, sie aber auch miteinander. Auch in Lutosławskis Stück gibt es ein Klavier, das allerdings nicht vordergründig solistisch geführt ist, sondern als eine Klangfarbe, die dem nicht selten dominanten, höchst virtuos komponierten Schlagwerk zuspielt. Es steht auch nicht vorne, sondern mitten im Orchester. Dann ein reißendes Laufen der Geigen, darüber Glocken und fanfarenartig, doch ebenfalls im Lauf, schneller noch, rennend, die Posaunen.
Es gibt für diese Musik noch keine Bilder, die metapherntauglich wären.... oder doch, gibt sie, nur steigen sie nicht auf, sondern schießen vor und zerplatzen, so sehr drängt das und drückt immer wieder nach in den verschränkten, ineinander verwobenen Partien dieser Einsätzigkeit.
Und Lutosławski, wie Brahms, kann auch schwelgen - ab (ich hab die Partitur nicht hier) Minute 11 etwa und später noch einmal, im Epilog, ab Minute 26 -, kann sich aufschwingen wie d e r: doch ist das ein wie durch Aufnahmen der Zwanziger gefilterter Romantiklang. Mit dem die Sinfonie auch, beinahe, endet. Tatsächlich endet sie mit schließlich vier Posaunenstößen.
Rattle legt die Sinfonie energetischer, auch schärfer an als etwa Antoni Wit in seiner berühmten >>>> Einspielung mit dem polnischen Nationalorchester, die ich vorher- und jetzt noch einmal vergleichsgehört habe. Dort sind die Romantikbezüge größer, insgesamt die Linien weicher als bei den Berlinern Philharmonikern jetzt, versöhnlicher, sogar ein bißchen sentimental manchmal. Mitunter läßt sich‘s nicht recht begreifen, wie unterschiedlich die Partituren ausgelegt werden können - wozu aber Lutosławskis selbst die Instrumentalisten motiviert hat: in die Dritte Sinfonie sind, wie freigelassen, „Zufallsstellen“ komponiert, die selbstgestaltet werden können - ein Verfahren, das Maderna wiederaufnimmt, nämlich sein >>>> Quadrivium von 1969, allerdings weniger radikal, weniger experimentell, sondern in, noch einmal, lìgetischer Tonwebkunst.
Atemlos, wie Rattles Philharmoniker nie nachlassen, einen gepackt immer weiterzuziehen, fast ohne Einhalt, wie man dann aufatmet, gerade auch nach den von Hörnern über Streicher aufsteigenden Himmelsleitern zu den Trompeten und ihren triumphale Fanfaren, unter denen aber die rutschenden Streicherklänge wieder liegen, abgenommen von einer bedeutungsvollen, geradezu wagnersch raunenden Fin-de-Siècle-Geste aus Celli und Bässen. Und wie am Ende dann doch so etwas wie ein deutlich melodisch konturiertes Thema durch die Hörner in den Saal dringt und zum Finale des Epilogs führt. Großartig.
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Aber dann.
Dabei hat der Saal doch begriffen.
Woher diese.... Verzeihung, aber: Geschmacklosigkeit, anstelle daß man nun schwiege, solche Zugaben zu präsentieren? Sir Simon wendet sich zum Publikum und sagt: „Wir wollen noch zweimal zwei Minuten Musik spielen.“ Oh, denke ich, spannend. Erwarte vielleicht zwei weitere Stücke Lutosławskis, vielleicht auch anderer Stücke, die sich auf ihn beziehen, ein kleines Requiescat vielleicht. Doch was gibt es? Ein kapriziöses Stückerl von Tschaikowski, wie als wenn es nötig wäre, sich mit Lutosławski zu versöhnen, gut, ist ja ganz hübsch. Und aber was denn d a n n? Von Dvořák einen slawischen Tanzreißer. Enttäuscht, ja angeekelt breche ich die Übertragung ab. Und bin noch >>>> wütend bis spät in der Nacht.

"Amoretti" mit Christiane Karg und Arcangelo (Leitung Jonathan Cohen)

"Amoretti" - das sind die berocken Putten, pausbäckige Kindergestalten in Skuptur und Malerei, die Schlösser und Kirchen schmücken, oft spärlich bekleidet, manchmal engelsgleich mit Flügeln. Für die Sopranistin Christiane Karg war das genau der passende Titel für ihre gerade veröffentlichte CD (Berlin Classics Edel Kultur), - prägnant, griffig, unverwechselbar, - nachdem sie etwa Ideen wie "Vergessene Lieder" glücklicherweise als zu kompliziert verworfen hatte. Auf einem kleinen Hauskonzert am 22. August 2012 in der Hamburger Villa Jako sang sie nicht nur einige gekürzte Arien daraus, sondern plauderte über Entstehungsgeschichte und Konzeption des Albums. Es begann in Glyndebourne, als sie Jonathan Cohen traf. Das war der Anfang einer intensiven künstlerischen Zusammenarbeit, die nicht nur in diese höchst gelungene Kompilation mündete, sondern weitere so wunderbare Ergebnisse zeitigen soll. Der große Zuspruch für ihr erstes Album "Verwandlung" mit der Thematik der Jahreszeiten ermutigte sie zu diesem zweiten Schritt. "Mit dieser neuen CD ist eine Verwandlung der ganz anderen Art entstanden," schreibt sie im persönlich verfassten Text im Booklet. "Das Ergebnis ist eine Auswahl um Mozart und seine Jugendopern, die bereits von einer enormen Reife und Genialität zeugen, gepaart mit Werken aus der gleichen Zeit von Gluck, der als Zwischenglied zwischen italienischer und französischer Komposition fungiert, und Gretry, einem französischsprachigen Komponisten, der gänzlich aus unserem Bewusstsein entschwunden ist und dennoch mehr als sechzig Opern geschrieben hat." Christiane Karg, in Mittelfranken geboren, ist mit einer klaren, klangschönen Stimme ausgestattet, die sie technisch souverän durch alle Klippen führt. Luftig perlende, perfekt gestaltete Koloraturen erfreuen ebenso wie Intonation und Leichtigkeit der Präsentation. Ihre Bühnenpräsenz ist erfrischend und einnehmend. Auf der CD wird sie begleitet vom Orchester Arcangelo unter der Leitung von Jonathan Cohen. Gerade konnte man sie mit "Solveigs Lied" in einer Übertragung in 3sat (mit Brandauer in "Peer Gynt") sehen, das auf Youtube zugänglich ist. Das Konzept von Edel Music, die Künstlerin, die sowohl Opern- als auch Liedsängerin ist und 2006 bei den Salzburger Festspielen ihr Debüt gab, in kleinerem Rahmen näher kennen zu lernen als es im routinierten, distanzierten Musikbetrieb großer Säle möglich ist, geht auf, ist beispielhaft. So lässt sich langfristig das alte erhalten und neues Publikum gewinnen.

Saison 2012/13. I. Das Konzerthausorchester Berlin. Des neuen Musikchefs Iván Fischers Antrittskonzert mit Glanert, Brahms und Dvořák, darinnen Julia Fischer und Daniel Müller-Schott im Duett.

Übergehen wir mal, daß Klaus Wowereit, nach dem Intendanten, des Hauses Saison eröffnet hat, um den neuen Chefdirigenten des Orchesters, Iván Fischer, zu begrüßen - was einem Umstand den festlichen Rahmen geben sollte, dem ein unschön langer, durchaus zäher Streit vorausging. Nun trat das Publikum nach: Der frenetische Applaus, der dem neuen Musikdirektor nach jedem Dirigat gespendet wurde, hatte etwas durchweg Unangenehmes, ja Aggressives gegenüber dem Vorgänger, dessen moderne Programmgestaltung immer wieder auf Widerstand gestoßen war. Zagrosek war nicht der Mann für Galas, sondern ein bisweilen unerbittlicher Diener allein seiner Arbeit; blitzender Showstrass ging ihm ab; er wollte nicht, was das Publikum möchte, entertainen. Mir für immer unvergessen wird >>>> sein Orpheus Křeneks bleiben - eine auch szenisch im Konzertsaal überwältigend gelöste, man kann fast sagen: moderne Pioniertat. Weder das Publikum noch sein Orchester, mit dem er aber da schon zerstritten, dankten sie ihm recht. Leider war keine Näherung möglich. Ich bedauere das sehr und möchte mich, ihm angemessen knapp, vor ihm verneigen, anstatt den strengen Mann durch Jubeleien, die einen nächsten Kaiser, bloß weil der Star ist, ovatieren, so laut wie ungerecht mit vergessen zu machen. Die Ära Zagrosek ist für Berlin von hoher aufführungsästhetischer Bedeutung gewesen. Sie hat, ähnlich wie >>>> Sellars‘ und Rattles grandiose Matthäus-Passion, den Maßstäben einer heutigen Weltstadt entsprochen.

Iván Fischer, freilich, ist von anderem Schlage der Mentalität, erinnert in seiner Erscheinung ein wenig an Solti, dessen ungarische Herkunft er teilt, strahlt allerdings nicht ganz dieselbe Leidenschaftlichkeit aus, auch nicht im Dirigat, wirkt moderater, umgänglicher, durchweg freundlich - anders als Zagrosek hat er etwas väterlich Integratives, dessen Lächeln das Publikum sofort einnahm, auch wenn Sebastian Nordmann in seiner Begrüßung darauf hinwies, das Antrittskonzert sei Programm, also daß fortan nicht etwa darauf verzichtet werde, zugunsten der von Publikum und Orchestermehrheit begehrten Klassikreißer Neue Musik aufzuführen, sondern sie sei hiermit sogar ganz an den Anfang der neuen Ära gestellt. Nimmt man das indes, mit dem gewählten Stück Detlef Glanerts, ernst, dann wird ein Akzent schließlich doch auf dem Umgänglichen liegen. Es gibt ja auch Philip Glass und ähnliche Leute, die Neue Musik als einen Honigtopf betrachten, den man über dem Publikum ausgießt. Nicht daß Glanerts Komposition damit vergleichbar wäre, sogar gewiß nicht, doch irgend eine Zumutung, irgend ein Radikales, das einen verstören oder bewegen könnte, sie noch lange mit sich zu tragen, wurde, jedenfalls gestern, nicht laut.
Es ist allerdings ein Nocturne - also schon thematisch auf Kontemplation angelegt, Besinnlichkeit könnte man sagen, mit leise mal einer Anspielung auf naheliegenderweise Mahler, dessen gesamte Siebte ein „Lied der Nacht“ genannt worden ist. Dennoch war Glanerts rund zehn Minuten währendes Stück das interessanteste, weil eben auch gegenwärtigste des Abends, und zwar selbst dann, wenn es deutlich Rückschau ist, sowohl melodisch wie in seiner Faktur. Die Nacht sei der Wartesaal der Vergangenheit, schreibt Habakuk Traber im Programmheft, was die Verarbeitung konfliktuöser „Tagesreste“ milde übergeht, doch kann die Formulierung auf Glanerts Nocturne wirklich angewendet werden: Hier gräbt nicht das Unbewußte, hier kommt kein Ungeheures zutage, das wir nicht schon kennten, sondern selbst die härtesten Stellen ziehen noch an uns vorbei, ohne uns eigentlich erreichen zu können. Wir nehmen sie aber, wie opalisiert von Nachtglanz, immerhin wahr. Dazu gehören gleich zu Anfang, nach der kurzen, aber bereits da erzählerischen Flötensentenz, Posaunenklänge, die sich in die vergangenen Zwanziger/Dreißigerjahre der USA verorten lassen. Das ist nicht ohne Musicalei, dieses etwas BigBandhafte, dem ein Strawinski vorausgeht und folgt, einer freilich ohne die Kondition, derer wirkliche Raserei bedarf. Er bricht ins Schattenhafte weg, in Andeutungen, dann eine weite Tiefe, als kündigte sich ein echtes Thema an, etwa mal kurz in den Hörnern. Aber auch das wird immer wieder weggewischt, ohne sich exponieren zu können, so daß man anstelle von einem Nocturne besser von miniaturen Nachtstücken spräche, die schließlich, über Glockenschlägen, gleichsam offen mit der Flöte enden.

Dieses Rückwärtige, Rückwärtsgewandte, in das Glanerts Kompositon schaut, wurde besonders vom zweiten Programmpunkt des Abends betont: Brahms‘ Doppelkonzert. Wie schon so oft stand ich dem Stück auch diesmal ambivalent gegenüber, mit einer starken Tendenz zur Ablehnung. Allzu patriarchal-akademisch ist das gesetzt, aufruhrlos und in den elegischen Passagen stockfleckig sentimental. Dazu kam das von Fischer vorgegebene, für meinen Geschmack zu behäbige Rahmentempo. Wenn dieses Konzert etwas rettete, wäre es eine forcierte Eile, einfach eine Nervosität oder musikalische Hyperaktivität, die das derart Kommode vielleicht sich ein wenig zerreißen ließe. Da müßte einer mal reinschlagen, dachte ich, da müßte wer dazwischenfetzen; sogar eine E-Gitarre wäre mir recht, wenn bloß dieses wohlgestelzte IchKenneDasLeben verschwände, dieses IchWeißÜberAllesBescheid. Jugend, dachte ich, Jugend fehlt hier - nicht der „Aussage“, nein, aber der F o r m.
Frenetischer Jubel des Publikums. - Verausgabt hatte sich weder Fischer noch das Interpretenpaar, Julia Fischer und Daniel Müller Schrott, die halt vorzüglich eine Mugge musizierten. Daß sie auch anders können, zeigte die Zugabe - Johan Halvorsens Passacaglia -, die freilich für die beiden schon seit so langem Virtuosen-Repertoirestück ist, daß es sogar seinen Weg nach Youtube gefunden:
Hier war denn auch die - und nicht nur technische - Brillanz beider Interpreten zu hören, eine anschmiegsame Leidenschaft, möchte ich sagen, des Klangs, die ihr Instrument umarmt und völlig mit ihm eins ist. Das strahlt auf uns ab, schenkt sich uns, auch wenn wir Virtuosenstücke sehr wohl zu unterscheiden wissen, nämlich zum Beispiel von den beiden Cellosonaten von - ecco! - Brahms.
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Danach kam denn auch Fischer in Fahrt: Seinem maskulinen Temperament entspricht Dvořáks slawisches deutlich mehr als das hanseatisch gebondagte Brahms'. Hier ließ er denn das Konzerthausorchester ‚richtig mal abgehn‘. Der bisweilen etwas pappige Klang des Saals, der vor allem dem Doppelkonzert nicht guttat, war immer wieder momentlang vergessen, als die Musiker spielten, was ihr Zeug hält, doch eben das, was ein konservatives, zumindest gesetztes Publikum von ihnen erwartet. So kann man altwerden und dennoch, eben deshalb, meinen, man sei noch ganz im Leben. Das gilt für Leute um die vierzig auch, denen der wirkliche Wille - einer, der bohrt - schon verging. Viel Resignation ist in dieser Musik, aber viel Getändel auch, vor allem in den Tanzmotiven, die selbst in Böhmen nur noch kennt, wer kaum mehr voranblickt. Lauter alte Versprechen, die faktisch enttäuscht, ja zertreten worden sind und dies schon vor mehr als einem dreiviertel Jahrhundert, aber immer noch so angehört werden, als erwartete sie eine heile Erlösung. Eine solche Art Sinfonik war bereits nach Mahlers Neunter wirklich nur noch historisch zu hören, und ist es endgültig heute - so sehr verharrt sie, bei aller formalen Kunst, in der in ihr zudem erst anhebenden Pubertät eines kommenden, für uns Heutige indessen längst, wofür ich dankbar bin, vergangenen Jahrhunderts.

Es wird sich zeigen, ob Iván Fischer den modernen schlackenlosen Weg Zagroseks aufnehmen und ihn, doch unter günstigeren, weil allseits von gegenseitiger Sympathie getragenen Umständen, fortsetzen wird: auf eine moderne Musikästhetik hin, die ihre eigene Zeit reflektiert und aus ihr, nicht aus der abgeschabten Nostalgie, zu sinfonischer Schönheit findet, oder ob er das reaktionäre Bedürfnis nach Regression zu füttern vorzieht, das aus lebendigen Konzertsälen Museen vergangener Zeithöfe machen will, damit sich‘s drinnen bequem repräsentieren läßt: was man so hat und wer man so ist. Sicher, er wird sich zwischen diesen Polen bewegen müssen, schon, um nicht Abonnementen zu verschrecken. Doch läßt sich aus Glanerts Komposition manch eine Brücke bauen, die ihren Bogen eben nicht nur zurückschlägt. Insofern ist, vielleicht, das Programm dieses Antrittskonzertes mehr als nur geschickt gewesen und Fischer einer mit Feuer, der aber - pfiffig plant. So etwas würde m i r zum Fest.

Foto: ANH/iPhone.

Kostenlos in der Digitalen Konzerthalle der Berliner Philharmoniker.


Olivier Messiaen
Turangalîla-Sinfonie

Junge Deutsche Philharmonie

Tamara Stefanovich, Klavier
Thomas Bloch, Ondes Martenot

Kristjan Järvi

Anzuhören und anzusehen >>>> d o r t.
>>>> Besprechung des Konzerts.

Die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker. Meine Damen und Herren! Matthäus-Passion. Eine Liebeserklärung.

Jetzt habe ich sie einige Tage lang besucht, >>>> die digitale Konzerthalle der Berliner Philharmoniker, und weiß vor Begeisterung so wenig mehr aus noch ein, daß ich sie Ihnen hier ans Herz legen m u ß. In meinem Arbeitsjournal habe ich schon einige Male von ihr erzählt, doch ihr gebührt ganz unbedingt ein eigener Beitrag. Das Angebot gehört, jedenfalls für den Liebhaber großer Musik, zum allerbesten, das Sie im Netz weltweit erhalten können, sowohl in der Qualität der Bilder als auch vor allem in der der Musik. Hier haben Liebhaber und Geliebte gewirkt. Das meint auch die filmische Dramaturgie, die nach den Live-Aufnahmen auf das sorgsamste im Studio hergestellt wird; deshalb gelangen live übertragene Streams, die Sie ebenfalls empfangen können, erst nach Tagen intensiver Bearbeitung in das Ihnen zur Verfügung gestellte Musikarchiv. Ich habe das, nach >>>> dem Konzert der Jungen Deutschen Philharmonie, erst nicht verstanden; aber allmählich wurde es mir klar, und zwar wegen des unbesteitbaren absoluten Höhepunkts, bislang, der Sammlung: >>>> Peter Sellars' Inszenierung, die hier „Ritualization“ genannt ist, der Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs unter Simon Rattle mit Camilla Tilling, Magdalena Kožená, Topi Lehtipuu, Mark Padmore, Thomas Quasthoff, Christian Gerhaher, Kai-Uwe Jirkas Staats- und Domchors Berlin, sowie dem Rundfunkchor Berlin. Was Sie da zu sehen und zu hören bekommen, ist von einer fast unbegreiflichen Schönheit: so von Trauer voll und derart fern einem jeden „Event“.
Den Filmmachern und Toningenieuren läßt sich einfach nur Danke sagen, man muß hier ihre Namen nennen; bescheiden sind sie am Ende der Übertragung eingespielt: Daniel Finkernagel, Alexander Lück, Fabian Welther, Annett Gierschner, Stefan Zwickirsch, Uli Peschke, Peter Gross, Marco Buttgereit, Kai Mielisch, Ralf Bauer-Diefenbach, Heinz Naumann, Yorck Koch, Bettina Richter, Ingo Stolzenburg, Katharina Brunner und, als künstlerischer Chef der Produktion, Christoph Franke. Den Sängern, die alle Darsteller sind, auch die der Chöre, gilt sowieso der Dank. Und der Berliner Philharmonie.
Das Abonnement der digitalen Konzerthalle, jederzeit kündbar, kostet monatliche 14,50 Euro. Ds ist ein pures Geschenk, weit entfernt davon, die Kosten zu decken. Sie werden die Ausgabe niemals bedauern. Worüber Sie allerdings verfügen sollten, ist eine gute Soundcard und, wenn Sie nicht mit Kopfhörern hören möchten, die Verbindung zu Ihrer HiFi-Anlage. Außerdem einen schnellen Internet-Anschluß mit, selbstverständlich, Flatrate. Ob Ihr Anschluß sich eignet, wird von der Concerthall vor dem Abonnement in Sekundenschnelle geprüft.

Welch Wahnsinn, geschätzter Monsieur Messiaen! Das jubelnde Orchester. Die Turangalîla-Sinfonie der Jungen Deutschen Philharmonie unter Kristjan Järvi.

Turangalîla bedeutet also gleichermaßen: Gesang der Liebe,
Hymne an die Freude, Zeit, Bewegung, Rhythmus und Tod.
Die Turangalîla-Sinfonie ist ein Gesang der Liebe und eine
Hymne an die Freude, an eine übermenschliche, überschäumende,
blendende und maßlose Freude. So ist auch die Liebe, die sie dar-
stellt: schicksalhaft und unwiderstehlich -

Olivier Messiaen.
Das ist der Jungen Deutschen Philharmonie auf den Leib geschrieben, nämlich des Jungen Ausgelassenen halber, die ich bei einem Stück des tiefreligiösen Messiaens niemals erwartet hätte; die Turangalîla-Sinfonie kannte ich noch nicht, hatte auch tagsüber nicht die Zeit, mich auf den Abend vorzubereiten, indem ich mir etwa >>>> die Aufnahme, die ich mir mit dem Orchester besorgt hatte, für das dieses Stück eigentlich geschrieben wurde, anhörte, den Bostoner Sinfonikern unter Ozawa. So war ich nun fast von den Sinnen, als ich in das ausgelassenste, zugleich strukturierteste, abenteuerlichste, doch kalkulierteste und raffinierteste Lärmen geriet, das mir seit langem zu Ohren gekommen – ein Lärmen der tanzenden Lebensbejahung, zu dem Kristjan Järvi denn auch immer wieder tatsächlich tanzte, oben gefaßter Dirigent, doch mit den Füßen auf dem Dancefloor, und auch sein Nacken und der schöne, herbe Männerkopf swangen, um das Verb mal imperfektisch rechtzudeutschen. Drei Leute, älteren Jahrgangs, verließen, da ihnen dies alles wohl zu krawallen, den Saal, zu laut und viel zu ausgelassen, so gar nicht bürgerlich Distanz. Und die jungen Musiker gaben, was das Zeug nur hielt. Geradezu amüsant, wie sich die Schlagwerker ihre Rhythmen weiterreichten, hinreißend der Paukist, wie er seine Pauke kippt und abhört, und das ist jedenfalls in Ozawas Einspielung n i c h t zu hören, daß im, ich glaube, zweiten Chant d'amour an einer Ecke Bauarbeiter stehn, die dem Mädel auf der andren Straßenseite ihr Bewundern des sich wiegenden Popos mehrmals hinterherpfeifen – die >>>> Ondes Martenot vergißt es dabei fast zu wummern, während man im Sternenblut vor Freude nächtlich sogar Autos hört. Was durchaus nach Charles Ives klingt. Und überhaupt bedient die Sinfonie den Auftraggeber voll, indem sie bisweilen Musical wird, sich hochhebt in den Kitsch, da möchte man „Hollywood“ denken. Wäre nicht das Stampfen Stravinskis so eigentlich wütig im Spaß. So auch das meistens solistisch geführte Klavier, das deutlich von Skrjabin herkommt, mit derselbe entschlossenen, ja harten Virtuosität, die Arme der Stefanovich flogen nur so nach dem Anschlag. Leitmotivisch dazu, quasi insistierend, der Choral im brüllenden Blech: das thème-statue:
- fünf Terzen, die nach Messiaen für >>>> Prosper Mérimées Iller Venus stehen, auch sie schon zu einer Spielart von Liebe verführend, wie Turangalîla insgesamt um Tristan und Isolde gelegt ist, mit allem Seufzen, Schmachten, wo keiner danach fragt, ob das nun vornehm sei, allem Jauchzen eines >>>> Warschauer Konzerts - ja, genau diese Klangaura gibt es hier - und aller Zerknirschung wieder dann, die sich an der Form fängt: da jammert dann die Ondes Martenot, als im Dévelloppement de l'amour das große Stürzen anfängt, Orchesterstürzen nach dem kurzen Scherzo Turangalîlas 2. Nicht mal für Esoterik läßt Messiaen, der spiritualistische Mann, uns Zeit, keine Abfinderei, nein, setzt euch aus! in dem hellen, leuchtenden Wahnsinn oder Liebeswahn, für den die – ja, was ist es? wirklich Sinfonie? - geschrieben. Dem Tanzschritt nach ließe sich viel eher von einer monströsen Suite sprechen, indes als eines Concerto grossimo, grossissimo, grossississimo, in dessen fast anderthalb Stunden wenigstens dreißig Minuten lang Stravinskis Widergänger tobt: Jede Liebe >>>> Frühlingsopfer. Doch ist von Zeit nichts zu merken: Als es mit furiosem Tutti zuendeging, war's, als wäre neun Uhr noch nicht erreicht; dabei hatte es kurz nach acht erst angefangen mit dieser leichten schwersten Musik. Wer zu den Konzerten nicht gehen kann, der schaue in der >>>> Digital Concert Hall nach. Dort steht bis zum 12. April die Aufführung unentgeltlich zur Verfügung. Das ist ein Geschenk ---. Langer nicht Applaus-nein-J u b e l. Noch als der Saal schon zu zwei Dritteln leer, steht Publikum an der Rampe für seine Ovationen an.
Olivier Messiaen
Turangalîla-Sinfonie
Junge Deutsche Philharmonie
Tamara Stefanovich, Klavier. Thomas Bloch, Ondes Martenot.
Kristjan Järvi.
Die nächsten Aufführungen:
Fr 30.03.2012 / 20.00 Uhr    Erlangen, Heinrich-Lades-Halle
Sa 31.03.2012 / 20.00 Uhr    Heidelberg, Heidelberger Frühling
So 01.04.2012 / 19.00 Uhr    Frankfurt, Alte Oper
Mo 02.04.2012 / 20.00 Uhr     Hamburg, Laeiszhalle
Di 03.04.2012 / 20.00 Uhr    Ludwigsburg, Forum am Schlosspark

Sehnsucht des Beisammenspiels. Beide Brahms-Sextette im Konzerthaus Berlin.

Dies ist nicht nur ein weiterer Erfolg der ohnedies längst erfolgreichen Cellistin Sol Gabetta gewesen, sondern, daß der große Saal der Konzerthauses ausgerechnet für ein Kammerkonzert wirklich ausverkauft war, ist noch sehr viel mehr ein Erfolg des Konzerthausorchesters selbst, dem alle anderen fünf Musiker angehören – teils, wie Michael Erxleben und Ferenc Gábor, seit Jahren. Am Sonntag vormittag ließen sie hören, auf welch Können ihr Orchester und damit das Haus nicht nur bei ihnen zurückgreifen kann.
Und auch, wenn die große Menge Hörer sicherlich vor allem von der charmanten, ein wenig engelhaften Erscheinung der Gabetta angelockt worden war und von dem Ruf, der ihr und ihrem schon unanständig teuren Instrument vorauseilt, einer Leihgabe des >>>> Rahn-Kulturfonds, war spätestens nach dem ersten Satz des ersten Sextetts klar, daß sich hier keineswegs nachgeordnete Musiker eingefunden hatten, um für einen Star denTeppich zu geben, sondern, sei's wegen der möglicherweise bewußt sich gleichberechtigt ins Stimmgewebe einfügenden Virtuosität Gabettas, sei's, weil Brahms' Komposition gar nichts anderes zuläßt, es wurde kammermusikalisch im besten Sinn harmonisch vorgeführt, was des Klassizisten Ideal so auch war: Sturm und Drang eingewoben und -gebettet in ein möglichst durchsichtiges Klanggewebe, das zugleich nie das Primat der Form verleugnet. Nicht Gabetta, sondern vor allem Erxleben brach da mitunter ein wenig heraus, aber mit aller nur denkbaren Lässigkeit, die solch ein Drängen haben kann. Dann schneller Blick zu Gábor, ein kaum merkliches Grinsen, und der Bratschist schnitzt im Todeston ein Ungarisches aus der Partitur, das recht eigentlich erst viel später in Brahms Kompositionen durchschlug. Besonders drängend, ja wogend das Zwischenspiel im Andante mit den energischen Auf- und Abbewegungen, über die die Geige ruft.
Zugleich die Gabetta derart exakt, daß man die Kippen ihrer beim Spiel oft auffällig weit gespreizten Finger bis in den Balkon hinauf auf die Cellosaiten regelrecht klopfen hört: Percussion nennen Cellospieler diese Technik, die sich sehr bewußt zur Akzentuierung nicht nur des Tons selbst einsetzen läßt. Es ist nicht zu sagen, wie viele vor allem Jungmännerherzen der Cellistin da zuflogen; das dessen jedenfalls, der neben mir gleich links saß, klopfte heftig mit, und die Haut des linken freien Schulterblatts der elfenartig schlanken Frau glänzte verheißend zu uns hoch.
Ein wenig das Nachsehen hatten im Gefüge Teresa Kammerer, die Mitglied ist des von dem Bratscher Matthias Benker ebenfalls aus dem Konzerthausorchester heraus gegründeten >>>> Horenstein-Ensembles, sowie Justin Caulley; beide verstanden sich deutlich stärker als Begleitung, bzw. continuo-Fundierung der Stücke, nicht aber etwa Gabettas, als die temperamentvolleren Erxleben, Gábor und Gabetta selbst. Bei Erxleben hatte ich überdies den Eindruck, er warte nur darauf - aber das wäre dann nicht mehr Brahms gewesen -, daß ein Feuer wirklich einmal losbricht. Da hätte er dann an der Front ganz vorne gestanden. Was vollends deutlich wurde, als er, knapp vorm Ende des Rondosatzes, die andren alle zur Coda rief, ja sie in sie hineinjagte.
Das zweite Sextett ist raffinierter als das erste, auch bereits gebrochener und dadurch tiefer. Brahms schrieb es fünf bis sechs Jahre später im Alter von 32. Es ist auch ein Lebwohl. Sehr schön darin seiner Geliebten, Agathes, Name als seufzend entrufende Linie, und ein Klang insgesamt, der sich seiner Herkunft aus der Aura der allerspätesten Streichquartette Beethovens wirklich nicht zu schämen braucht – vor allem dann nicht, wenn der zweite Cellist, Stefan Giglberger, der klangschönst spielenden Gabetta so rigoros mit Läufen in den unteren Oktaven dazwischenfuhr, daß ich nicht umhin kann, es männlich zu nennen. So daß da, insgesamt, ein derart geschlossenes Ensemble spielte, wie Brahms' Sextette es nicht nur brauchen - sondern sie fordern es.
Ach, mögen doch diese und weitere Musiker des Konzerthausorchesters ihre >>>> artist in residence öfter zu solch gemeinsamem Spiel gewinnen: uns allen wär's zu wünschen.
Konzerthaus Berlin
Sonntag, 11. März 2012
Johannes Brahms
Streichsextette B-Dur op. 18 und G-Dur op. 36
Michael Erxleben - Teresa Kammerer - Ferenc Gábor
Justin Caulley- Sol Gabetta - Stefan Giglberger

 



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