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Konzerte
Sie standen bis halb zum Ostbahnhof, draußen in der Nacht zum Einlaß; links von dem die andere Tür. Schon wartete der Profi. Uns empfing die surreale Maschinenhalle, heute ein Club... „ der Club“, bemerkte der Profi, „seit das mal irgendwo stand“ - noch war er skeptisch, „die kommen nur, weil es in ist, und warten drauf, daß sie nach dem Konzert abtanzen können.“ Er war nicht ohne Abfälligkeit und um so platter nachher. „Nein“, erwiderte ich, „die kommen tatsächlich zu dem Konzert.“
 Das clubcharacteristisch später anfing, viel später, als angegeben: wer da um neun schon da ist, darf eine Stunde draußen warten. Was viel viel hermacht, wenn da so die geschlängelte Menschentraube wächst und wächst, bis sie von >>>> Canisius‘ verblüffenden und oft mitreißenden Klangcollagen umspült wird, in die sie dann tauchen: sog. Klassik, jedenfalls E-Musik, die der Mann elektronisch auseinandernimmt, zueinanderstellt, ineinander überlagert, unten drunter teils fremd-, teils neurhythmisiert; alleine das lohnt schon. So daß ich mir einen reinen Canisius-Abend wünschte, eine Canisius-Nacht, in der wir abheben könnten im Verlaß auf musikalische Intelligenz: Ja, auch danach läßt sich‘s tanzen!   Es wurde voller und voller, siebenhundert schließlich, vielleicht achthundert Leute, eng aneinandergedrängt, durcheinander, langsam, drängend, - zur Bar so durchzukommen, daß man auch etwas erhält, ist von lethargischer Geduld bordürt. Aber das ist ganz egal. Videoprojektionen folgen der Bewegung der Musik, „a bisserl kitschig“, wie der Freund befand, „sogar ganz gräßlich kitschig.“ Da dann der Moderator - ein bißchen inside, ein bißchen Dieter Thomas Heck, wie in den Siebzigern, so retro, doch modern, denn es geht nicht um Schlager, nur der Conférence-Ton ist so flott mit seiner frechen Lippe. Glänzend steht, eine Verheißung, der große Steinway auf dem Podest unter den Projektionen. Handgemacht die Kameraführung schließlich, eine offene Technologie übers Mischpult, das Aimards Gesicht und Hände, und die Klaviatur, hinauf nach oben projeziert, so kann ein jeder sehen. Manche haben sich nah dem Podest auf dem Boden einen Sitzplatz ergattert und harrten da schon einiges aus.
 Auftritt Aimard: halb bescheiden, halb gerührt, ein in sich Gekehrter, der sich extravertiert und – eine Vorlesung anfängt. Er öffnet die Ohren. „‘ören Sie ‘i e r! Wie Liszt gewirkt hat...“ Er spielt, kombiniert, Liszt und Bartók, nimmt zwei Stücke in eines zusammen, alles nur kurz, nur angespielt, schon erklärt er wieder, führt eine Paraphrasierung Liszts vor, zeigt ihre Wirkung bei Stoppel, später Liszt in Messiaen: Echo der Predigt des Heiligen Franz vor den Vögeln. „Wie Sie wissen, war Messiaen ganz verrückt mit Vögeln“, sagt Aimard so naiv, daß wir alle lachen müssen. Da merkt er‘s und lacht leise mit. Schon auf den Tasten die Finger. Wie er sie seltsam dreht, eine Kuppe dabei noch aufliegen lassend. Das ist eine Figur, denke ich, die Finger spielen Tanzen. Und sowieso: Messiaen in einem Technoclub! Daß das funktioniert... Und wie es funktioniert!  (Auch wenn in der Pause, an der Theke, eine Hübsche sagt: „Muß er so viel erzählen? Wann spielt er endlich nur?“ Dazu BRSMA: „Die Leute sind‘s halt nicht gewöhnt, Musik auch über den Geist zu erfassen, als intellektuelles Vergnügen. Sie wollen unmittelbare Empfindung.“  Aber stimmt das denn? Und unterscheidet sich das vom Publikum, tatsächlich, eines normalen Konzertsaals? Nein, ganz sicher nicht. Man ist offener eher, hört dem erstmal Fremden zu, und es stört nicht, gar nicht, wenn irgendwo mal eine Flasche umkippt und durch die Füße kollert; auch nicht, daß an der Theke Leute, die im Saal keinen Platz finden konnten, de facto nicht, sich weiter unterhalten: im Gegenteil, das zieht die Musik aus ihrem bürgerlichen und für Liszt - wie so viele andere, die man zu „Klassik“ eingefroren hat - unberechtigt Musealen ins Leben unsrer Wirklichkeit zurück. Das ist einfach wunderbar.)  Halbe Stunde Pause, wir gehen in den Raucherraum. Der Profi nörgelt, daß es hier stinkt, raucht aber selbst. BRSMA und ich inhalieren aus Cigarillos und sehen uns die Frauen an; der Profi auch, aber weniger offensichtlich. Augenweiden. Auch das ist schöner als in jedem Konzertsaal, geschweige in den Foyers. Locker, doch dringlich, drängen Canisius‘ Klangwolken durchs Berghain. Man hat Ausblicke, Hinunterblicke, Hochblicke: seltsame Gründerzeitarchitektur an farbig spiegelndem Schwermetall, ganz unten steht ein – kleiner – Flügel als Artefakt aus Hänger und Flügel, violett. Netzmetallene Treppen, auch hinauf, Emporen, Übergänge, dunkle, düsterste Ecken, Geländer. Die Farbspiele heben daran das Konkrete des industriellen Nutzbaues auf. Schon hörn wir wieder Heck.   Der zweite Teil des nächtlichen Abends. „Isch ‘abbe zu viel geredet, ‘at man mir gesagt. Entschuldigen Sie. Jetzt ‘ören Sie fast nur Musik.“ Mit den Années de pèlerinage hört er auf , Lallée d'Obermann, einem der berühmtesten Stücke daraus: „Da ist er ganz menschlisch, ganz melancholisch und langsam, langsam wird es ‘hell und eine grósse Vechklärung!“ Dunkel, kondukthaft beginnt das und schwingt sich das auf, und immer stiller wird es im Saal und nachher – der Jubel.
Ganz bescheiden gibt Pierre-Laurent Aimard ein Stück des großen >>>> György Konráds als Zugabe, das „Pantomine“ heißt und mit dem Klavier nur stumm spielt – bis auf einen einzigen, den letzten nämlich, Ton eines gedachten Stücks. Es dürfte bis heute höchst selten gespielt worden sein.  Unter Wogen des Applauses geht Aimard nach hinten ab, und Canisius legt wieder auf: ein anfangs nicht kenntlicher Bach, durchgejazzt wie von Loussier, aber plötzlich Brandenburger Konzert, Nr. 3, glaube ich zu erkennen, ist aber unversehens eine Partita, dann schon eines der für Klavier transponierten Cembalokonzerte, das Canisius lustvoll, abermals, dekonstruiert und neu zusammensetzt.
Wenn alle Konzerte so wären, wir würden süchtig werden.
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yellow lounge mit Pierre-Laurent Aimard.
THE LISZT PROJECT
live-act: Pierre-Laurent Aimard (klavier)
djs: Canisius & Clé (Märtini Brös, Poker Flat)
vj: safy sniper.
>>>> Berghain, Am Wriezener Bahnhof 10243,
Berlin-Friedrichshain.
ANH und die Yellow Lounge >>>> empfehlen.
CD 0028947794394
Deutsche Grammophon

albannikolaiherbst - Dienstag, 25. Oktober 2011, 19:40- Rubrik: Konzerte
Der Abend des 29. September 2011 in der Hamburger Laeiszhalle geriet zum großen Fest für Chefdirigent Jeffrey Tate. Im Sonderkonzert der Hamburger Symphoniker, im Programmheft kurz und bündig "Tate Faust Schumann" übertitelt, präsentierte Tate sein Orchester in hervorragender Verfassung. Er hat es geschafft, dessen individuellen Charakter zu formen, schon unverwechselbar zu werden, mindestens in Norddeutschland. Dass es etwa bei den ersten Cellisten noch dringend Verbesserungspotenzial gibt, weiß er: "Meine Sorge ist, dass wir nicht genug gute Leute bekommen, denn ohne sie geht es nicht voran."Aber das sollte an diesem Abend keine Rolle spielen, wurde doch für Schumanns "Faust"-Oratorium eine hochkarätige Künstlerschar aufgeboten, wie sie besser nicht sein kann. Simon Keenlyside verkörperte die Titelpartie mit flexibler, wohlklingender Baritonstimme, fähig zu farbenreichen Nuancen. Juliane Banses kraftvoller Sopran erfüllte die Figur des Gretchens mit Leben - ein wenig mehr Textverständlichkeit wäre wünschenswert gewesen. Wunderbar in ihren Rollen etwa Monica Groop (Mezzosopran), betörend Iris Vermillion (Alt), Anja-Nina Bahrmann (Sopran) und Chen Reiss (Sopran) als Mangel, Schuld, Not, Sorge. Chen Reiss hinreißend kristallin, subtil in "Mitternacht" mit Faust im Duett. "Die Menschen sind im ganzen Leben blind, nun, Fauste, werde du's am Ende!" sind ihre dämonischen Worte am Schluss der Szene, die sie mit außergewöhnlicher Bühnenpräsenz mit klarer, die Seele berührender Stimme, vorbildlicher Intonation und musikalischer Sicherheit, Diktion, Vokalgestaltung, interpretiert, immer in engem Kontakt mit dem Publikum, für das sie singt, sich gibt. Georg Zeppenfeld erfreute mit gefühlvoller Gestaltung, transparenter Textverständlichkeit und tragender Bassstimme, anrührend mit strahlendem Tenor Steve Davislim. Der Staatschor Latvija und der Tölzer Knabenchor - beide bestens einstudiert - machten die Aufführung rund. Das diesmal auffällig aufmerksame Publikum tobte vor Begeisterung, als Tate schließlich mit sanft-entschiedener Geste die Hände sinken ließ, der letzte Ton verhallte. Mit minutenlangem Applaus, rhythmischem Beifallklatschen erwies es den Künstlern die Ehre, Tate im Fokus. Dennoch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Schumanns Werk nicht grundlos so selten aufgeführt wird. Sagen wir es offen: Er konnte nicht für Orchester komponieren. Er bedient die Symphonik mit der Klavierkomposition, komponierte so, wie er Klavier spielte. Da sind etwa die zahlreichen Tritoni, die am Klavier zwar mit Leichtigkeit zu fassen sind, für einen Geiger jedoch besonders in schnellem Tempo mühsam zu bewältigen. Schumann konnte auch nicht wirklich weiträumig für Chor schreiben, als Beispiel das "Dies irae". Im Zeitalter von MP3-Player würde man das heute als "extrem komprimiert" bezeichnen. "Die Chöre sind möglichst leicht zu halten. ... Genau begrenzter Umfang der Stimmen, der nicht zu überschreiten," so Schumann. Männerstimmen allein glücken ihm besser. Außerdem hatte Schumann keinen Sinn für Dramaturgie. Wenn die Stimmen wie oft auch hier im "Faust" ständig in Aktion sind, gelang ihm kaum die Abstimmung in der Farbgebung. Schumann hatte eine klare Vorstellung des "mehrstimmigen Ideals", wie etwa in den Zyklen für Männerstimmen, "Ritornelle" Opus 65. Doch die konnte er selten verwirklichen, weil er auf den Geschmack seiner Zeit Rücksicht nehmen musste. Im letzten Teil des "Faust" erlaubte er sich eine der Ausnahmen. Der Komponist arbeitete viele Jahre an seinem "Faust". Es fehlt vielleicht auch deswegen eine gewisse Geschlossenheit, weil es keine tatsächliche fortlaufende Erzählung gibt, verdeutlicht durch den Titel "Szenen aus ..." Angesprochen werden sollte ein Publikum, das den Stoff schon kannte, sozusagen als philosophische Vertiefung. Und so kam es jetzt auch in Hamburg an.
Es gäbe noch viel dazu zu sagen. Das würde den Raum hier allerdings sprengen. Unbestritten ist in Schumanns Werk der Geist des Faust in aller Tiefgründigkeit des Dichters getroffen. Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Komponist in der Faust-Thematik eigene psychische Befindlichkeiten zu verarbeiten suchte - problematisch allerdings für eine musikalische Darbietung. Man kann getrost behaupten, dass er zuviel wollte und er sich manchmal selbst ein Bein stellte in seinem Schaffen. Robert Schumanns kompositorische Stärken liegen wohl eindeutig im Sololied und in der Klaviermusik. Dennoch schmälert die kritische Auseinandersetzung mit seiner mehrstimmigen Vokalmusik kaum seine Bedeutung im Vergleich mit seinen Kollegen. Und schon gar nicht das eindrucksvolle Konzertereignis, das die Künstler um Jeffrey Tate im September in der Hansestadt boten.
Gabriele Helbig - Dienstag, 4. Oktober 2011, 06:38- Rubrik: Konzerte
Die Sopranistin Chen Reiss ist wieder in Hamburg! Am Donnerstag, 29. September, 19.30 Uhr, gehört sie zu den Solisten (neben Juliane Banse, Natascha Petrinsky, Iris Vermillion, Simon Keenlyside u.a.) mit "Szenen ... Faust", Schumann: Szenen zu Goethes Faust für Solostimmen. Jeffrey Tate dirigiert die Hamburger Symphoniker.
 Am 20. Oktober gibt Chen Reiss einen Liederabend mit Alexander Schmalcz am Piano, Hamburg, Laeiszhalle, Kammermusiksaal. Die neue CD gibt es >>>> dort.
Gabriele Helbig - Donnerstag, 29. September 2011, 07:03- Rubrik: Konzerte
Die Grundidee der >>>> Yellow Lounge ist so grandios wie ihre Notwendigkeit nüchtern: Wie erschließen wir, fragten sich die Kreativen ausgerechnet der traditionsreichen >>>> Deutschen Grammphon, der E-Musik (die ich Kunstmusik zu nennen entschieden vorziehe - Kunst im Sinne eines elaborierten ästhetischen Anspruchs) -... - wie erschließen wir der Kunstmusik neue Hörer? Wo gehen Menschen hin, da sich die „klassischen” Konzertsäle, nämentlich bei Kammermusik, zunehmend leeren?
Bereits die literarische Szene hatte es gezeigt: Slam und open mike sind Renner zeitgenössischer, „junger” Auditorien. Es ist ja nicht so, daß das Lebensgefühl von den Ästhetiken vermittelt wird, sondern Hörer bringen es, wenn zahlreich erscheinend, immer schon mit, und einem modernen entspricht das gefaßte, bewegungslose Harren nicht, das auf den gereihten Sitzen der bürgerlichen Repräsentanzen nicht selten zum Ausharren wird und manch einen zur Flucht in den Schlaf trägt. Ebenso sind die Zeiten der Pelze vorbei; Opernhäuser, die leben, werden von Studenten gestürmt (allerdings, muß gesagt sein, kaum finanziert). Und das Bildungsbürgertum, insgesamt, stirbt, das mehr oder minder dem Biedermeier entstiegene, das, minder oder mehr, sich einem überkommenen moralischen Kanon verpflichtet fühlt. Es darf in seinen Räumen nicht mal geflüstert werden, denn immer ist jemand bereit, einen zischend zu schurigeln, mindestens mit bösem Blick. Wer setzt sich dem aus, wenn man auch entspannt sein Bier trinken kann wie im Jazzclub bei ebenfalls großer Musik? und trinkt auch noch etwas dazu...
Wo finden wir unser neues Publikum, das einerseits auf Generäle vom Schlage Karajans nicht länger reagiert und sich andererseits - und erst recht - unter musealen Gobelins nicht wohlfühlt, weil zuviel Staub da drinnen hängt, zuviel Antiquariat? Und wann finden wir’s? Die Frage ist nicht unwichtig, weil die Uhrzeit, zu der Veranstaltungen stattfinden, ihr Publikum sortiert: wer morgens früh am Arbeitsplatz sein muß, fühlt sich schlichtweg nicht in der Lage, bis ein Uhr nachts und später auf der Straße zu sein; man muß denn schon eine starke Leidenschaft spüren.
So begab sich nun also der Berg der sogenannten klassischen Musikindustrie zu den Propheten der neuen basisdemokratischen Zeiten und implantierte ihre Yellow Lounge zu kaum faßbaren basisdemokratischen Eintrittspreisen in die Szenen um Techno und House. Als ich, ein auf die Gästeliste Mitgebrachter, >>>> das Berghain wieder verließ, tat ich’s durchaus mit schlechtem Gewissen: „Göttin”, dachte ich bei mir, „da hätte ich doch gerne die sechs Euro bezahlt... Schäm dich!” Tat ich auch. Nicht vorhaltend, stimmt, weil ich ja eh fast immer mit Pressekarte in Konzerten bin, aber doch ein wenig.
Jedenfalls veranstaltet die Yellow Lounge regelmäßig Konzerte der ernsten, fälschlich klassische genannten Musik in jenen teils fantastischen, teils baustellenhaften, jedenfalls oft kühlmetallischen, „Club” genannten Räumen und Sälen, von denen die alten Diskotheken beerbt worden sind. Und das Publikum ist auf begeisternde Weise gemischt, nicht nur in seiner sozialen Zugehörigkeit, sondern auch dem Alter nach: von sechzehn bis sechsundsiebzig ist quasi alles vertreten. Nicht nur, eben, die Szene.
 So auch, als in der Mittwochnacht >>>> Anoushka Shankar dort gastierte - von deren unfaßbarer körperlichen Schönheit hier nur einmal noch die Rede sein soll, ein bißchen weiter unten; die Frau wird sie zu oft schon haben rühmen gehört. Doch bevor sie sie uns zeigte, trat – da war es noch vor zehn - ein junger Geiger auf, zum ersten Karrieresprung gefeatured, der entertainernd englisch parlierte: deutlich zu glatt und deutlicher noch zu uns Affen ganz vielen Zucker geworfen: eine von Milstein in Bonbonpapier gewickelte Paganiniana. Nun ja, Instrumenal-Akrobatik fürs Zirkuszelt. Allerdings schwang da noch nicht das Problem im Raum, das im folgenden Konzert so ohrenfällig wurde. Man ließ nämlich den Laut der Instrumente über die großen Technoboxen verstärken. Das nimmt besonders orientalischer Musik die Aura, namentlich der indischen Klassik, die mit reichen Obertönen spielt. Nicht der Plot - die Melodie - ist hier Substanz, sondern, wie im Jazz, seine Verwandlung; die ist aber äußerst enggeführt – es wäre, von Variationen zu sprechen, nicht richtig, denn das Fließen der permanenten Repetitionen der je bestimmten musikalischen Idee, eines Patterns, variiert gleichsam die Gleichzeitigkeit. Es sind, in der Patternfolge selbst, oft nur minimale Verschiebungen, halb- und vierteltönig; vorangetrieben vom Schlagwerk schweben sie durch das zirkuläre Spiel der Tanpura, die die Grundstimmung jedes Stückes gibt, in einem Kontinuum, das nicht nur in den zweiundzwanzig definierten Mikrotönen der Oktave, sondern vor allem auch vermittels reich resonierender Obertöne pulst: So vibriert diese Musik in Tausenden ungefähren Klängen, indes das abendländische Konzept auf Identifizierung setzt. Für diese sind die riesigen Boxen des Berghains gebaut, nicht für eine Durchsichtigkeit, deren die indische Musik bedarf. Das war deshalb nicht gleich zu merken, weil der schwer betonte Boxenbaß für unabweisbare Präsenz sorgt: so hart schallten die Lautsprecher nach außen. Das klassische Konzept der indischen Musik ist hingegen streng introvertiert: wo sie den Geist meint, daß er sich löse, wird hier die Lösung vom Ich, und Befreiung, von den Boxen gleichsam erhämmert und werden die Einzelnen zur Masse verschlagen. Genau dem dienen Watt-Macht und das Erschauern des Brustbeins, nicht des Bewußtseins – eben nicht, im buddhistischen Sinn, Leere, sondern eine Stopfung, die eine Konzentration auf die Kunst hochdifferenzierten musikalischen Gestaltens prinzipiell nicht zuläßt. Es ist, als hätte man gregorianische Chöre wie Marschmusik grölen lassen.
Andererseits geht es grad um Vermittlung, nämlich darum, den Hörgewohnheiten des Publikums und seinen daraus geformten Bedürfnissen entgegenzukommen, ohne aber dabei die Seele dieser anderen Musik zu verraten, die wiederum seit ihren hohen Zeiten sich nicht mehr weiterentwickelt hat - anders, ganz anders als die abendländische Kunstmusik, weder de facto noch auch „nur” im Selbstbewußtsein. Insofern kann Frau Shankars Kunst gerade auch in der lockeren Barbarisierung der Formen zur Rettung ihrer strengen Hochkultur beitragen und, wenn es gutgeht, zu einer neuen, modern gewandelten Blüte indischer Kunstmusik. Man kann sagen, die Künstlerin gibt sie, in ihrem Spiel feingriffig bleibend, der ästhetischen Evolution zurück. Das ist schon einmal viel, auch wenn sich Zweifel hegen lassen, ob der Löffel lang genug sein wird, um mit dem Teufel die Suppe zu essen. Profanierung geht immer zulasten der Tiefe.
Frau Shankar mag das ahnen. Klug leitete sie den Abend mit einem Raga ihres Vaters ein, noch streng an der Klassik orientiert, damit die Hörer erst einmal merkten, um was es hier geht. Danach erst popularisierte sie und folklorisierte, da sie ja doch ihr neues Album vorstellen wollte, >>>> Travellers, das den Flamenco mit dem indischen Klangraum amalgamiert. Eine „Weltmusik” also, die in diesem Fall recht glückvoll ist, weil der Flamenco selbst schon hochsynkretistisch ist: zusammengesetzt aus sephardischen, griechischen, maurischen, auch aus schwarzafrikanischen Elementen, etwa in der Rhythmik. Da wirkt das Zuspiel von Sitar und Tanpura geradezu zwingend, in jedem Fall harmonisch. Besser noch als am vergangenen Mittwoch im Berghain ist das >>>> in diesem fast zweistündigen Stream zu erleben, den die Deutsche Grammophon und medici.tv kostenfrei ins Netz gestellt haben (Achtung! nur noch bis zum Ende dieses Monats); besser, weil die technische Präsentation sich nicht über die Musik wölbt, sondern ihr schlichtweg so dient, wie das in den auch religiösen Zusammenhängen des Musikfestivals von Girona erwartet werden kann.
Das Berghain aber ist rein weltlich. Deshalb war es legitim, daß Frau Shankar die musikalischen Patterns durchaus popartig betonte, ihre Wiedererkennbarkeit erleichterte, ja sie sozusagen sangbar machte. Und sowieso: Indem Anoushka Shankar das weltmusikalische Erbe ihres Vaters angetreten hat, braucht sie ein Kitschherz und scheute sich nicht, es vorzuführen, ja ebenso zu inszenieren wie die Grazie ihres Lächelns. So daß der andren Herzen, aller, auch meines, ihr zuflatterten und ihrem traumhaft schönen nackten Fuß, dem linken, der, im Sitarsitzen ausgestreckt, den eleganten Ballen und die Zehen sich rhythmisch mitbewegen läßt. Dennoch gibt sie dem, was ihres Vaters, Ravi Shankars, späte, nach europäisch-klassischem Modell gebastelten Orchesterkompositionen ganz unerträglich macht, eine deutliche Strenge zurück. Tatsächlich gelingt ihr die Melange, die ihrem Vater allein im Zusammenspiel mit Menuhin gelungen war. Es gelingt ihr ausgerechnet mit dem Mainstream. Das schon ist bewundernswert – bewundernswerter aber noch, daß sie sogar der prinzipiellen Weltmusikgefährdung entgeht, der etwa Jan Garbareks einzigartiger Saxophonklang zum Opfer fiel: der akkordisch übersüßten Multikulti-Esoterik. Nein, die Bachblüten blieben heraußen, und auch fürs tanzende Weltall der globalen Konzerne von Capra, Berendt & Co war kein Platz. Das war nicht zuletzt Pirashanna Thevarajahs >>>> Mridangam zu verdanken und seiner Virtuosität von Mundraum und Stimmband - ich schreibe bewußt nicht von Gesang -, sowie der konzentrierten Tanpura Nick Ables, deren Repetionen einem über die Variationen ausgespannten Klangzelt zu vergleichen oder als ein Teppich unter sie gelegt sind, dessen Wirkung durchaus an den Basso continuo erinnert, bzw. sogar dem modernen „Beat” des populären Musik entspricht. Im Schlagwerk - indische Perkussion und Cajón - lag man ohnedies, ohne eigens modulieren zu müssen, und um so mehr aufeinander, als der Flamenco auch die Gitarre nicht selten als Schlagwerk benutzt. Im Berghain hatte sie zudem den fehlenden Gesang zu ersetzen. Andererseits, und da sind wir wieder beim Pop, ist die simple Wiedererkennbarkeit des andalusischen Tanzes medial längst vermittelt genug, um im inneren Ohr selbst tonal ganz uneindeutige Vokalisen als banale Exotismen, also wie folklorige Klischees ablegen zu können, an denen als sperrig gar nichts mehr empfunden wird. Das kam Frau Shankars Konzert ganz besonders entgegen, nämlich ihrem Publikum; sogar bisweilen konnten wir, trotz der Enge, vereinzelt Menschen raven sehen. Was in das Bergghain, den Technoclub dieser Yellow Lounge,  einen guten Bogen zurückschlug, getreu ihrem Vorhaben, anspruchsvoller Musik neuen Raum zu erschließen. Das war an diesem Abend gelungen. Mehr ist dazu nicht zu sagen.
>>>> Traveller im >>>> Berghain.
Yellow Lounge, 7. September 2011.
Anoushka Shankar, Sitar. Pirashanna Thevarajah, Mridangam und indische Percussion.
Nick Able, Tanpura. Ramon Porrina, Cajón. Alvaro Antona, Gitarre.

albannikolaiherbst - Mittwoch, 14. September 2011, 07:40- Rubrik: Konzerte
>>>> Chen Reiss in München am 28.6.2011. >>>> Weiteres.
Filmmusik
Helbig - Donnerstag, 23. Juni 2011, 17:01- Rubrik: Konzerte
Das Oratorium "Jephta" war Händels letztes großes Werk. Er konnte es mit Mühe noch 1751 vollenden, ehe er erblindete. Das Autograph gibt erschütternde Kunde davon, wie sich sein Leiden innerhalb von acht Monaten verschlimmerte und sein Schaffen behinderte. Nicht nur das: Todessehnsucht, Ahnungen vom Jenseits, Unaussprechliches, das letztlich nur durch die Musik vermittelt werden kann.
Bei den gerade zu Ende gegangenen Händel-Festspielen in Halle wurde diese letzte vollendete Komposition des Meisters in einer ergreifenden Aufführung in der Ullrichs-Kirche präsentiert. Hochkarätige Sänger mit dem Händel-Festspielorchester Halle und dem Salzburger Bachchor zeigten eine ideale Umsetzung, wie man sie selten finden kann. Die Sopranistin Chen Reiss (Iphis) und der Tenor Paul Agnew (als Jephta, mit einer nicht zu überbietenden Interpretation der Arie "Waft her, angels, through the skies") bleiben unvergesslich in ihrer Darbietung - Chen Reiss wieder mit himmlischer klangschöner Stimme, durchgeistigt, ganz in der Rolle und im Dienste der Kunst. Sie gehört zu den besten ihres Fachs, die wir heute haben. Ihr ebenbürtig hier Agnew, daneben der Countertenor Franco Fagioli als Hamor.
Am 7. Oktober 2011 gibt sie einen Liederabend in Bonn, am 20. Oktober in Hamburg, Laeisz-Halle. Im Dezember wird sie in der Rolle der Pamina und Sophie (Rosenkavalier) an der Wiener Staatsoper auftreten. Im Mai 2011 gabe sie in vier ausverkauften Abenden am Theater an der Wien die Gilda in Verdis "Rigoletto", Regie: Luc Bondy. Demnächst erscheint ihre neue CD.
Helbig - Samstag, 18. Juni 2011, 12:24- Rubrik: Konzerte
Voran stand ganz sicher eine Idee des Dichters >>>> Christian Filips’, der der Berliner Sing-Akademie leidenschaftlicher Dramaturg ist und gestern abend auch einige deutsche Übersetzungen jener südamerikanischen Gedichte vortrug, die der große, ja riesenhafte Komponist >>>> Allan Pettersson seiner Kanate Vox Humana zugrundegelegt hat. Es war die Idee einer wahrhaftigen Passionsmusik, die zugleich konfessionell gebunden wie auch ungebunden ist, weshalb es sich geradezu organisch anbot, Petterssons Komposition mit Franz Liszts so späten wie radikalen Sakralmusiken zu kombinieren, bisweilen in Art eines Wechselgesangs, bisweilen aber auch nach Komponisten geclustert, wobei Filips zusätzlich für eine leitmotivsch durchgeführte Chronologie gesorgt hat: - zum einen über Liszts ausgedünnte Cia Crucis (dreimal fällt Jesus, dann wird er ans Kreuz geschlagen, dann stirbt er), - zum anderen, indem das Konzert in vierzehn Stationen, also eben den Passionsweg Jesu, unterteilt wurde, so daß bei aller Weltlichkeit der pettersonsschen Gesänge der Ritus gewahrt blieb. So gesehen war das Konzert in der Gethsemanekirche eine hochgradig musikalische Literatur, bei der leider das Finale oder, sagen wir, die Coda ins Übergewicht stürzte: Liszts über 30minütiges Stabat Mater nämlich noch hintanzustellen, nachdem die etwas mehr als eine Stunde währenden dreizehn Stationen zuvor in äußerster Konzentration zelebriert worden waren, schuf ein so gewaltiges Unverhältnis, daß eben die heilsame, ja heilende Konzentration wieder ganz verlorenging und aus der vor allem durch die Via Crucis wieder und wieder beschworene Liturgie die weltliche Aufführung eines Konzertsaalkonzertes wurde, - zu merken alleine schon an dem für Anlaß wie Ort unpassenden Applaus. Lang ist es offenbar her, daß man nach Requien nicht klatschte, einfach, weil’s sich nicht gehört, sondern das Requiem und die Meditation gehören einem Inneren allein.
Hier hat die Eitelkeit oder etwas, das unbedingt auch mal gespielt werden sollte, die gesamte Andacht gestört, und ich trat wie ernüchtert, meiner Ergriffenheit wider Willen entschlagen, in den gedunkelten Abend hinaus. Schade. Man hätte, wie aus Petterssons Vox Humana, auch dem Stabat Mater Liszts einen Auszug entnehmen können, der in der Gewichtung die nötige, vorher so beeindruckende Balance bis zum Ende aufrecht erhalten hätte.
Dies nimmt aber der Qualität der Aufführung nichts. Vielleicht hätte Filips seine Rezitationen im Ton etwas zurücknehmen können, um nicht gar so pfaffig zu klingen, vielleicht wäre da etwas mehr Nüchternheit angemessen gewesen anstelle des allzu Getragenen, für das, ohne das „allzu”, die Musik den Trauergrund schon ganz alleine sang... denn: w i e sie das sang! Man muß nicht gläubig, schon gar nicht konfessionell gebunden sein, um in diesem Konzert unmittelbar zu verstehen... nein: zu fühlen, für was der Leidensweg Christi nach wie vor zu stehen befähigt ist. Das war vor allem den klaren Leitung Kai-Uwe Jirkas zu verdanken, der die Symphonische Compagney Berlin wie selbstverständlich durch die oft schreiend schwierigen Passagen besonders Pettersons führte und zugleich geradezu aufwandslos mit den beiden Chören vereinigte, nämlich der Sing-Akademie wie dem Staats- und Domchor Berlin. Geradezu unfaßbar die Kombination des ersten Falls Jesu in der Via Cruci mit Cassiano Ricardos Gedicht auf einen toten Freund („Auf welches Herz fällt nächstens/wohl sein mörderischer Glanz?”), das Pettersson in schwedischer Sprache vertont hat, und zwar unter Beiziehung eines an den Tango gemahnenden Unterhaltungsklangs, über den wie Schnitte die Streicher ziehen. Und nach einer weiteren Pettersson-Vertonung erklingt plötzlich, schon in Liszts Komposition erschütternd, Paul Gerhards Sancta Veronika – wo das, was wir zu hören bekamen, eine musikalische Messe auf dem allerhöchsten Niveau einer Weltmusik war, von der etwa Gulda geträumt hat. Dazu noch Ferdinand von Bothmers ungemein präsenter, doch weicher Tenor voller Sangeskultur. Im besten Sinn, im innersten, erschüttert saß ich da, als -
ja, als es diese Unterbrechung gab. Da war die Meditation eigentlich zuende, ein kleiner Abschluß hätte noch hier hingehört, nicht aber, zumal mit Zwischenklatscherei, Liszts kompositorisch riesiges Aufbäumen, das – nach dem innig Vorhergegangenen, nicht musikalisch für sich – den Schmerz der Pietà durch Vergrößerung eigentlich kleiner werden ließ, es nämlich – hier, nicht in einer gesonderten Aufführung – aus dem Inneren der Hörer hinausnahm und spätromantisch objektivierte... es den Hörern wieder fortnahm, nämlich... man kann auch sagen: sie davon befreite, so daß sie getrost zum Abschluß applaudieren, sich ihre Betroffenheit hinwegapplaudieren konnten.
Schade. Ach schade. Ich hatte zum ersten Mal wirklich ein Passionskonzert gehört. Und war dann drum betrogen.
Vox humana.
In 14 Stationen mit Musik von
Franz Liszt und Allan Pettersson.
Sing-Akademie zu Berlin.
Staats- und Domchor Berlin.
Symphonische Compagney Berlin.
Kai-Uwe Jirka.
Julia Giebel, Sopran. Hilke Andersen, Alt.
Ferdinand von Bothmer, Tenor. Nikolay Borchev, Bariton.

albannikolaiherbst - Samstag, 23. April 2011, 20:55- Rubrik: Konzerte
 Lange nicht mehr war ein so zuversichtlicher Lothar Zagrosek zu sehen gewesen, und selten sprühte derart viel von ihm zum Orchester und von diesem zu ihm zurück wie am Abend dieses 16. Aprils, über den ich nun erst schreiben kann, meiner >>>> Augen-OP halber. Doch die Erinnerung an den Mahler ist frisch, was fast vier Tage nach einem Konzert schon ein Zeichen für sich ist. Daß die Aufführung derart gelang, ist aber ganz sicher auch ein Ergebnis der langjährigen Mahler-Erfahrung dieses Orchesters, die es vor allem unter Eliahu Inbal machen konnte, der in den Achtzigern die Referenzaufnahmen einiger Mahler-Sinfonien, seinerzeit mit dem RSO Frankfurt, erarbeitet hat und später Zagroseks heutige Position innerhatte.
Es sei hier gar nicht von dem stupenden Schönklang die Rede, den das Konzerthausorchester am Sonnabend abend zuwege brachte, sondern vor allem von den Seufzern, zu denen es Zagrosek verführte, von den Rissen, die mitten durch die klangwerdende Partitur gingen und von dem tatsächlichen Fernklang, ohne daß eine besondere Positionierung von Instrumenten nötig gewesen wäre – von dieser höchsten und unerbittlichen, wenngleich immer auch verklärten Ambivalenz, die Abschiede von alten Welten bedeuten und die den Beginn einer neuen, sich umorganisierenden fast prophetisch anzeigt: Da wird das Alte zum Klang eines im Wortsinn Wunderbaren, das die Ahnung indes kommender Katastrophen in sich trägt. Zagrosek dirigierte Mahlers Fünfte tatsächlich wie eine Abschiedssinfonie, doch eines Abschieds, der sich wehrt - was es rechtfertige, daß das Adagietto in dieser Interpretation sogar noch einen Hauch länger währte als jene Filmmusik zu Visconti Tod in Venedig nach Th. Mann, die es weltberühmt hat werden lassen. Denn zu recht weist Jens Schubbe in seinem Programmheft-Text darauf hin, Mahler habe das Stück erheblich schneller genommen, und zwar um mehr als fünf Minuten schneller, was bei einem so kurzen Satz Einiges bedeutet. Dafür läßt Zagrosek das Orchester an anderen Stellen geradezu jagen, ohne daß aber die nötige Durchsicht litt, besonders auffällig im scherzanden Mittelsatz, der bisweilen, schon des Schlagwerks wegen, etwas Stravinski-Expressives bekam. Die Bläser schmetterten musikantenkapellisch, gerade auch das Holz, die Oboe war hochgereckt wie bei Klezmer. Grandios der ohnedies grandiose Trompeter des Orchesters, aber hier muß endlich auch einmal die irrsinnige Muskalität des Paukisten genannt sein. Der Saal bebte. Nachdrücklich in der Erinnerung bleibt Zagroseks Focussierung bestimmter Orchestergruppen, etwa der ausgesprochen zügigen und zutiefst oszilliernden Celli zu Beginn des wie zum Zweck der Temperamtessteigerung fugierten fünften Satzes, der attacka auf das Adagietto folgt, mit einer nach dem fernen Anfangsruf alles Sentimentale geradezu hart wegwischenden Geste-zur-Strenge. Vibrieren aber tat der Saal vor allem an jenen Stellen, da die Themen wie collagiert erscheinen - also nicht wie komponiert, sondern wie gehört, ja nachgehört - und drängend auf eine immer nur kurzzeitige Vereinigung zustreben, über die sich gern das Horn hebt, das auf nichtortbaren Generalbässen der Posaunen zu stehen schien. Selbst da, wo die Partitur eine Orchester-Fermate vorsieht, riß nicht der Zusammenhang; Mahlers berüchtigte, fast permanente Anweisung „nicht schleppen!” stand wie ein Regiemotiv über der Aufführung; auch das mag die sehr spätromantisch-schwelgende Auffassung des Adagiettos rechtfertigen. Außerdem: Alle hatten L u s t, sie wollten das so spielen, w o l l t e n aufgehoben sein, beieinander, zusammen, miteinander. Es wird allerdings mein höchsteigenes, durchaus bedrücktes Empfinden sein, daß sich der hier erklingende Abschied auch auf das Binnenverhältnis von Orchester und Chefdirigent bezog: als wäre es allen ein Bedürfnis, gegenseitig, den Abschied voneinander in Würde und Schönheit zu nehmen. Sollte ich recht damit haben, vollzieht er sich in einem hohen Stil. Dann dürften uns, den Hörern, noch einige große, aber eben letzte Konzerte der Ära Zagrosek erwarten.
Eingangs, vor der Pause, wurde des in Auschwitz ermordeten Viktor Ullmanns Klavierkonzert gegeben: deutlicher modern, d.h. fast ohne Rückblick, wenn von impressionistischen Mitklängen abgesehen wird, vornehmlich im Andante tranquillo; die Funktion der mahlerschen Reminiszenzen an tänzerische Kleinvolks- ja Bauernmusik übernehmen hier frühe U-Klänge, manches wie mit dem Ohr Rachmaninovs, anderes nahezu mit Gershwin gehört, aber ohne eigentlichen Schmelz. Stattdessen drängt die Musik, es gibt einiges Stapfende, fast etwas Mechanoides; wie bei Mahler oft „fühlt man sich erinnert”, ohne daß das Stück aber historisch würde. Urbanisierte Musik metropolitaner Metronome mit den melodisch oft einfachen Reißern eines sich durchgesetzten, aber noch jungen Zwanzigsten Jahrhunderts: teils Chaplins Modern Times, teils Langs Metropolis und manchmal eine Spur Ravel; auch die Anklänge an Walzer sind bereits zur Filmmusik geworden. Auch dies freilich, also, musikalischer Synkretismus wie bei Mahler, doch keiner mehr, der den Naturlaut kennt oder ihn gar noch festhalten möchte. Da klang des jungen Pianisten Zugabe wie eine Beruhigung im Saal: Herbert Schuch meditierte ein bachsches Choralvorspiel in der Transkription Ferrucio Busonis. An diesem wiederum war es gewesen, Gustav Mahler die letzte lange Schiffspassage von den USA in den Tod mit kontrapunktischen Spielereien zu verkürzen.
So war um den ganzen Abend der Abschied gelegt: der Aufruhr, die Sehnsucht und die Entfernung.

albannikolaiherbst - Mittwoch, 20. April 2011, 18:57- Rubrik: Konzerte
 Das klingt kompliziert, war aber ein höchst einfacher, weil für Scelsis Musik ziemlich naheliegender Einfall >>>> Markus Feins, der die Reihe 2 x hören für das Konzerthaus Berlin konzipiert hat und als ein cleaner good American boy auch durchführt, dessen (an)ständiges Lächeln die alten Damen glücklich macht und das präzise, spezialisierte Wissen vergessen läßt - und die asketische Schwere, mit der sich die Neue Musik wegabstrahiert hat. Denn Fein ist in allererster Linie einmal Vermittler, viel mehr als Erklärer, und zwar auch dann, wenn seiner Vermittlung eine Reduktion einhergeht, die wider das Geheimnis läuft. Wenn er es aber fertigbringt – und das geschah -, ein an sich eher störrisches Publikum, sei’s des Unverständnisses gegen Neue Musik, sei’s ihrer elitären Gemeinden, dazu zu bringen, geschlossen zu Streichquartett und Sitar den kosmischen >>>> Om-Klang zu singen, dann ist das phänomenal und wäre absolut vermessen, sich über den Mann zu erheben. Selbst Ironie ist fehl am Platz, da sogar ich mitsang, der ich so spontan wie regelmäßig höchst aggressiv reagiere, fordert man mich von einer Bühne herab zum Gruppenklatschen auf. Vielmehr, der ganze in seiner nüchternen Klarheit wunderschöne Werner-Otto-Saal schwang. Wir wurden zugleich in die Musik hinaus- wie in uns selbst hineingeschwungen: Laute zu singen ist anders, als rythmisch die Rahmen zu halten; man atmet, sozusagen, nur noch ein – und atmet eben auch die Musik ein, die Fein vermitteln wollte. Das ist das, ich sage einmal, Kunststück daran. Scelsi wurde nicht mehr nur noch gehört, sondern so, wie er selbst, heißt es, stundenlang immer denselben Ton angeschlagen und sich in ihn versenkt habe, genau so taten nun wir es. Markus Fein nahm Scelsi im Wortsinn beim Wort. Es gibt genügend Äußerungen dieses Komponisten darüber, wie seine Musik zu verstehen sei, ja woher er sie habe; dem mußte nur gefolgt werden. Scelsis Affinität zu fernöstlicher Philosophie, namentlich Indiens und Tibets, ist bekannt, bis hin zu seinem selbstbekannten Glaube an Wiedergeburten; sie langt bis in die Titel, die, so gesehen, geradezu plakativ sind. Insofern lag es praktisch nahe, eine seiner Musiken direkt mit den Klängen des Ostens zu konfrontieren, auch wenn – das ist die Kehrseite – dadurch ein vielleicht doch zu einfaches – banalisiertes – Verständnis erzeugt wird, und zwar um so mehr, je„schlagender” die Höreindrücke sind, so daß ein schon eingehörter Hörer nachher ein wenig das Gefühl hat, an Orffschem Schulwerk mitgewirkt zu haben: funktionale Pädagogik pur. Es war den Musikern denn auch, als Markus Fein sie vorm Publikum befragte, ein gewisses Unbehagen anzuspüren, das sich aber sofort immer zerflatterte, wenn sie wieder spielten – und auch und gerade, wenn sie Teile der kurzen Streichquartett-Sätze zu den fernöstlichen Klängen... ja, ich möchte gern schreiben: improvisierten. Was ganz so freilich nicht stimmt, weil Scelsi seine Musik hat fest notieren lassen und weil wiederum ein Video sowieso improvisieren nicht kann. >>>> Yogendra immerhin, der als „Überraschungsgast” geladene Sitarspieler, versuchte es, blieb aber schon, der Kürze seiner an-interpretierenden Vorträge halber, im klassischen Indien-Standard hängen; das stand einmal sogar derb stanzig über der Streichquartett-Partie. Und die Tanpur wurde letztlich alleine von unserem, des Publikums, Om-Gesumme mit Scelsi legiert. Aber dies war eben auch ein bewußt aufgelockerter Vermittlungs-Abend und nicht eine wirklich konzentrierte Meditation in Sachen Neuer Musik. Was schon der Umstand indiziert, daß man zwei Fotografien Scelsis auf die Leinwand projezierte, der solche „Personality” abgelehnt hat, um auf einer Distanz zu beharren, die Markus Fein in Hörernähe aufheben wollte und zeitweise tatsächlich aufgehoben hat. Zumal gab die den Abend mitveranstaltende >>>> Körber-Stiftung nachher einen aus. Daran nahm aber ich nicht mehr teil.
Was an der betäubend intensiven Spielart des Pelligrini-Quartetts lag und an Scelsis Musik sowieso, die nach ihrer Aufführung verlangt, daß man für sich alleine sei und in die Nacht hinaustritt, um sie, die Nacht, zu hören und wie in sie hinein immer noch Scelsis Töne schwingen. Es sollte doch mit den Musikern noch gesprochen werden, das Publikum eintreten in einen Dialog. Wenn einer aber einen Zen-Meister fragt, was Zen denn sei, und wenn der antwortet, dann, so heißt es, wüßten es beide nicht -
Im Nachklang, jetzt, anderthalb Tage später, bleibt immer noch die Intensität des Streicherspieles erhalten, vielleicht eben deshalb, weil es s o einfach schließlich doch nicht ist, eine Musik zu „erklären” und letztlich auch nicht wünschenswert, sie der Restlosigkeit anheimzugeben. Doch bleibt auch der hohe Reiz des Ambibalenten, das in Markus Feins musikpädagogischem Ansatz steckt, indem hier eine Pädagogik für Erwachsene als zwischen Entertainment und Introspektion aufgespannte Talkshow inszeniert ist, was sich sehr wohl dazu eignet, den Hörern Neue Musik zu erschließen - und ihr sie. Wobei das Unternehmen in einer Tradition steht, die bereits in den Achtzigern bei den Frankfurtmainer „Happy New Ears” das ganze Schauspielhaus zu füllen wußte und immer noch zu füllen weiß. Bis auf den letzten Platz.
[Für den erkrankten Antonio Pellegrini sprang an der ersten Geige Friedemann Treiber ein. Meinen eigenen Text zu Giacinto Scelsi, für die FAZ geschrieben, finden Sie >>>> dort. Und meinen Gedichtzyklus zu Scelsi, eine Art Hommage, finden Sie in >>>> Der Engel Ordnungen. Sollten Sie diesen Gedichtband im Buchhandel nicht bekommen, können Sie ihn für 20 Euro >>>> direkt bei mir bestellen.]
 

albannikolaiherbst - Mittwoch, 16. März 2011, 09:50- Rubrik: Konzerte
Bekannte Schauspieler füllen Konzertsäle. Martina Gedeck und Sebastian Koch lasen im ausverkauften Kammermusiksaal der Philharmonie aus Briefen von Robert und Clara Schumann, die sie sich bis zur Hochzeit schrieben. Da störte es wohl wenige, wenn bei Gedeck deutliche Spuren des Besuchs von Berlinale-Parties zu registrieren waren, die sich in nachlässiger Diktion auswirkten, sogar in Lispeln, sodass Inhaltliches zu oft versank. Es ist wohl ein geschickter Schachzug des Veranstalters, dass er auf diese Weise ein breites, auch jüngeres Publikum anzog, das quasi nebenbei in den Genuss der Weltklasse-Sopranistin Chen Reiss und ihres Bariton-Kollegen Paul Armin Edelmann kamen. Die waren die eigentlichen Stars des Abends, präsentierten sie doch mit ihrer höchst fundierten, geschliffenen, wahren Interpretationskunst Schumann-Lieder, wie man sie so selten erleben kann. Noch in der letzten Reihe des Saales konnte man jedes Wort verstehen, ausgearbeitet bis ins letzte Detail. Außerdem ging in der exzellenten Akustik nichts an Stimmqualität verloren, die diese Ausnahme-Sänger zu bieten haben. Die Schere des Präsentationsniveaus öffnete sich gegen Ende der Aufführung bis zum Anschlag. Aber wen interessiert das tatsächlich? Eine große Menschenmenge harrte aus, um bei der anschließenden Autogrammstunde Frau Gedeck "mal nahe zu sehen". So waren die Sänger mehr oder weniger vom Schreiben entlastet. Das war ihnen zu gönnen, hatten sie doch die mit Abstand größere Gesamtleistung vollbracht. Reine Liederabende stecken in der Krise. Doch wenn Menschen auf Umwegen wie diesen an das Genre herangeführt werden, ist (fast) alles erlaubt. Und es wird vielleicht doch bald die Zeit kommen, wo man Chen Reiss und Paul Armin Edelmann "ungestört" genießen darf. Die Umkehr zur Innenschau ist jedenfalls kulturell im Trend - das könnte man auch aus dem Filmangebot der diesjährigen Berlinale ablesen - und ist hoffentlich nicht zu optimistisch gedeutet.
Helbig - Freitag, 25. Februar 2011, 06:56- Rubrik: Konzerte
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Die Dynamik
hatte so etwas. Hab's öfter im Kopf abgespielt....
Bruno Lampe - 2018/01/17 21:27
albannikolaiherbst - 2018/01/17 09:45
Zwischenbemerkung (als Arbeitsjournal). ...
Freundin,
ich bin wieder von der Insel zurück, kam gestern abends an, die Wohnung war kalt, vor allem ... albannikolaiherbst - 2018/01/17 09:38
Sabinenliebe. (Auszug).
(...)
So beobachtete ich sie heimlich für mich. Zum Beispiel sehe ich sie noch heute an dem großen Braunschweiger ... Ritt auf dem Pegasos...
Der Ritt auf dem Pegasos ist nicht ganz ungefährlich,...
werneburg - 2018/01/17 08:24
Pegasoi@findeiss.
Den Pegasus zu reiten, bedeutet, dichterisch tätig...
albannikolaiherbst - 2018/01/17 07:50
Vom@Lampe Lastwagen fallen.
Eine ähnliche Begegnung hatte ich vor Jahren in...
albannikolaiherbst - 2018/01/17 07:43
findeiss - 2018/01/16 21:06
Pferde
In dieser Nacht träumte ich, dass ich über hügeliges Land ging, mit reifen, dunkelgrünen, im Wind raschelnden ... lies doch das noch mal
dann stimmt auch die zeitrechnung
http://alban nikolaiherbst.twoday.net/s tories/interview-mit-anady omene/
und...
Anna Häusler - 2018/01/14 23:38
lieber alban
sehr bewegend dein abschied von der löwin, der...
Anna Häusler - 2018/01/14 23:27
Bruno Lampe - 2018/01/11 19:30
III, 356 - Merkwürdige Begegnung
Seit einer Woche war die Wasserrechnung fällig und ich somit irgendwie gezwungen, doch noch das Postamt ... Bruno Lampe - 2018/01/07 20:34
III, 355 - … und der Gürtel des Orion
Epifania del Nostro Signore und Apertura Staordinario des einen Supermarkts - Coop. Seit dem ersten Januar ... Bruno Lampe - 2018/01/03 19:44
III, 354 - Neujahrsnacht e dintorni
Das Jahr begann mit einer unvorgesehenen Autofahrt bzw. mit der Gewißheit, mir am Vormittag Zigaretten ... albannikolaiherbst - 2018/01/03 15:16
Isola africana (1). Das Arbeitsjournal ...
[Mâconièrevilla Uno, Terrasse im Vormittagslicht
10.32 Uhr
Britten, Rhapsodie für Streichquartett]
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Zuletzt aktualisiert am 2018/01/17 21:27
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