|
Konzerte
 Zu fragen wäre, ob der Raum gut war. Er bot sich für den Anlaß an, ja. Denn Carla Bleys Arrangements waren durchkomponierte Variationen über bekannte Weihnachtsthemen. Doch der schwere Gründerzeitraum der Passionskirche legte solchen Stein und solches Holz auf die Musik, daß sie einiges von weihevoller Hommage bekam. So auch das Publikum: graues Haar, wohin man sah. Gewissermaßen beging man eine Chistmette der Erinnerung an vergangene Jugend: so sehr war zu spüren: die Zeit des Jazz' ist vorüber. Vor fünfundzwanzig Jahren hätten die Leute energiegeladen in Schlangen vor dem Eingang angestanden; hier jetzt war zwar der untere Kirchenraum voll, aber die Emporen hatten gewaltige Pubikumslöcher. Eingeweihte waren zusammengekommen, doch nicht, um zu wollen, nicht, um zu drängen, sondern der Stand ist erreicht, man hat pünktlich sein Gehalt auf dem Konto, kann deshalb die horrenden 35 Euro für den Eintritt locker verschmerzen; ansonsten putzt man wochenends sein inneres gesellschaftskritisches Automobil und bereitet sich dabei allmählich auf den Lebensfeierabend vor. Darüber täuschten auch die gelegentlichen, irgendwie rituellen Jubelrufe nicht hinweg, nicht gelegentliche Begeisterungspfiffe. Ein großes menschlich-allzumenschliches Vorüber umarmte sich in dem inneren Kirchenbau zu einem Akt abgefundener Getragenheit. Die Christmas Carols unterstrichen das selbst noch dadurch, daß die hinreißenden Musiker des Bläserquintetts signifkant jünger waren als acht Neuntel ihrer Zuhörer. Eine Musik, die nicht wenigstens einen Kreis junger Anhänger hat, stirbt aus. Das zu spüren, war das Traurige an diesem Abend.
Es gab der Musik zugleich ihren besonderen Ausdruck entferntester Melancholie. So auch das Paar, das zu feiern man hergekommen war und das in warmer lebensgeschichtlicher Distanz von den übrigen Musikern spielte: Carla Bley selbst und der Ausnahmebassist Steve Swallow, der versonnen und mit leisester, verklärter Ausdruckskraft auf seinem J-Bass vor sich hin improvisierte; beide, Bley und Swallow, w e n n solistisch, musizierten ohnbedies eher als Duo denn in einem Septett. Nicht selten traten sie vom Podium sogar zur Seite, um den anderen, jüngeren, einfach zuzuhören, als wäre es nun d e r e n Zeit, zu der sie auch einzweimal behutsame Tanzschritte wagten. Leidenschaft ist keine Sache mehr des Alters: das war so sehr unter der Haut. Nicht nur bei der nun siebzigjährigen Carly Bley, die am Klavier kaum mehr zu hören gab, als bisweilen das reine Skelett ihrer Arrangements, bisweilen das Thema als Introduktion, bisweilen eine analytisch durchlaufende Reduktion aufs Tonmaterial, sondern eben auch bei Swallow, der, vorgebeugt, die Augen immer nah am Notentext hatte, sehr nah, wegen der Kurzsichtigkeit. Es kommt auf Virtuosität nicht mehr an, ist man ebenso über die Jahre eines musikantischen Zirkuspferds hinaus wie der gealterte Voltigeur, der seine Kapriolen darauf exerzierte. Das war gestern abend ebenso zu merken wie, dort freilich aus anderen Gründen, bei dem späten Keith Jarrett, dessen letzte Solostücke wie meditierender Hindemith klingen. Es läßt sich mit gleichem Recht sagen, die Luft sei raus, wie, sie sei in einen perfekten Schwebezustand übergegangen. Dem tut ein Kirchenraum nicht gut, weil er verdoppelt. Besser hätte das Kesselhaus-Team dieses Konzert drum in den eigenen, nüchternen Saal in der Kulturbrauerei gelegt: es wäre die spielerische – ecco: - Arbeit betont worden, die guten Jazz immer ausgemacht hat. Dann wäre mehr übergesprungen, sowohl von der Musik ins Publikum, als auch und vor allem von diesem auf die Musiker, die sich dann aus der vorgeführten stabilen Harmonie hätten womöglich lösen, die dann womöglich hätten wirklich loslegen können, auch und gerade weil Bleys Arrangements so bis ins Letzte in einen Schönklang ausgetüftelt sind, der schon die Ewigkeit, möchte man meinen, in den Ohren hat. So traten wir in die Nacht hinaus. Anderthalb Stunden am Stück war gespielt worden, und schweigend und dunkel lag nun der Christmarkt da. Wie Geschichte, die auf dem kleinen Platz verging. Carla Bley, Klavier & Arrangements.
Steve Swallow, Bass.
Tobias Weidinger, Trompete.
Axel Schlosser, Trompete.
Christine Chapman, Horn.
Adrian Mears, Posaune.
Ed Partyka, Bass-Posaune & Tuba.
[Fotos: Chohan.]
albannikolaiherbst - Freitag, 5. Dezember 2008, 10:21- Rubrik: Konzerte
der erste abend endet gleich der fanfare eines --: leichenzugs. hurtmold e convidados heisst es dieses wochenende im --: auditório ibirapuera drei abende lang. es ist ein lied der los hermanos, além do que se ve (etwa: jenseits des sichtbaren; mehr als man sieht), die vor einem jahr --: ihren unaufhaltsamen aufstieg abrupt beendeten, dem hurtmold (hurtschmold gesprochen) ein lost hermano, marcelo camelo an der gitarre und rob mazurek als convidado an der trompete, voranspielen. ein instrumentiertes --: begräbnis von ornans.
nossa, que lindo. bärtige helden, beinahe alle, wie einst courbet. bis auf marcos gerez am bass. ein bass mit gesicht, --: der eine unverwechselbare rhythmik vorschlägt. ihr realismus hat lebensgröße, und kann dabei doch nicht anders, als den klangkulissen dieser stadt etwas hinzuzufügen. und sie könnten tatsächlich dem realismus eines courbet das lied spielen. denn, was war der anderes, als ein arrangement nach neuen regeln. eine kombinatorik der teilhabe. vorgefunden hat er letztlich seine demokratische sicht der dinge, und sie damit erst über sich selbst hinaus wirklichkeit werden lassen. letztlich war es der auszug ins nachbardorf. die neugier überwiegt die abgrenzung. aber sie erschöpft sich danach nicht in der eingemeindung, sie bringt und nimmt etwas mit.
hurtmold haben international gehört, chicago ist nicht fern, jim o‘rourke, tortoise, aber sie sind so brasilianisch, wie ihre bärte echt. verstecken muss sich keiner von ihnen dahinter. und genau das hat man sich auch von lula erhofft. hurtmold feiern ihr zehnjähriges bestehen. dass sie dabei ohne das übliche exportklischee vom sambagesättigten hüftschwung auskommen, weiß etwas von den potentialen realistischer betrachtungsweisen in globalisierten zeiten, ohne seine wurzeln leugnen zu müssen.
diadorim - Sonntag, 30. November 2008, 15:18- Rubrik: Konzerte
Nein, auch sogenannte klassische Konzerte müssen nicht repertoire sein, wenn sie Repertoire sind. Das verneinte Neoadjektiv meint nicht nur die sehr witzige Idee, den doch immer ein bißchen langweiligen, sozusagen „klassisch“ desinfizierten Joseph Haydn durch kluge Kombinatorik mitten in eine Unterhaltungsmusik hineinzuziehen, die das eben, Divertimento, i s t, doch auf kompositorisch höchstem Niveau – indem der Holländer Jac van Steen sie mit dem hierzulande wirklich nicht oft gespielten Jean Français konfrontiert. Deshalb funkelte die erste Hälfte des Konzertes von einem prächtig gesetzten Witz, der alles andere als Berührungsängste gegenüber selbst dem Schlager, ja „Schiebe“musiken hat und dabei im Falle Français' deutlich von ravelschen Kompositionsansätzen geprägt ist: nur daß seine Sinfonie in G völlig im Bereich des Spielens b l e i b t. Nämlich wird kein seliger Walzer schließlich vom Unheil zerrissen, sondern die Tänzer dürfen zuende tanzen und auch unbeschwert klatschen, nachdem sie in ihren Dreiviertel-pas' freilich auch schon mal stolperten – vor Überraschung, weil man ihnen den Rhythmus der Füße durcheinanderbringt und stehenbleiben und auflachen muß. Mit welcher virtuos vergnügten Klangkraft das Konzerthausorchester hier, durfte man vor der Pause noch sagen, „aufgespielt“ hat, war mehr als nur begeistert, auch wenn sie, die Pause, n a c h dem Français grinsend von meisterhaftem Tingeltangel sprach: es wundert nicht, daß der 1997 gestorbene Franzose einerseits vom „gehobenen“, ideologisch ernsten Musikbetrieb eher ignoriert worden ist, andererseits um so reicher an Aufträgen und Auszeichnungen war. Niemand, in der Tat muß fürchten, daß einen die Musik mit Konflikten konfrontiert, die ein Abonnent doch lieber zuhause lassen möchte, wenn er ausgeht. Dennoch, wer sich die kindliche Lust an der spritzigsten Kompositionskombinatorik nicht nehmen läßt, wird auch dann seine helle Freude an dem Stück haben, wenn er eigentlich auf Seiten „des Stands des Materials“ (Adorno) steht.
Das wirklich Begeisternde dieses Abends fand sich aber erst danach.
Die Pause ist vorüber, es hat geklingelt, man hat von der großen Freitreppe auf den Weihnachtsmarkt des Gendarmen geschaut und noch die Süße gerösteter Mandeln in der Nase; man hat Platz genommen und freut sich drauf, die Herzen debussyschem Klanggeschwelge zu öffnen, vor dem freilich erst einmal der fremde Britten überstanden werden muß --- da tritt der Dirigent beklatscht aufs Pult, hat ein Mikrofon in der Hand, wendet sich ans Publikum und erklärt uns, es sei Herbst,Frau Barbara Hannigan aber, die Sopranistin, völlig gesund. Woraufhin aus dem Rang ein Programmheft herniedersegelt, „die Bätter fallen“, sagt van Steen ins Lachen und daß das Orchester und er bei der letzten Probe hätten eine Erkenntnis gehabt. „Sehen Sie, man stellt ein Programm zusammen und denkt: ja, das ist fein, wenn wir mit Debussy enden, und dann hören wir die Sängerin singen...“ - und alle, alle hätten begriffen: Nein, das geht nicht. Das geht nicht, den Britten zum Zwischenstück zu machen, „schwarze Juwelen“ nennt van Steen die neun kurzen Lieder nach Rimbauds Les Illuminations. Und macht nun ein Seitenstück der Musikliteratur, kaum je in Deutschland einmal zu hören, zum leisen Finale, unaufdringlich aber unabweisbar. Nachdem nämlich der Debussy mit dem aufgemotzten Riesenaufwand des mit doppelter Harfe besetzten Spätromantikorchesters verklungen ist – eine Musik, die letztlich ganz ebenso dem unverbindlichen Divertimento zugehört wie die meisterhaften Fakturen der beiden Sinfonien zuvor -, räumt alles, was nicht Streicher ist, das Podium, und selbst die werden auf höchste Durchsichtigkeit ausgedünnt. Konzentration, nicht alleinige Farbpracht und nicht mehr Spott und Schwärmerei, nimmt sich schon mit Brittens eigenwilliger Fanfare - nicht als Streicher-, nicht als (Jens Schubbe:) „trompetender“ Blechbläsersatz geschrieben - den Raum und uns: Von uns auch wird erzählt, jenseits der sprudelnden Tänzerei, innig vielmehr, intensiv und ohne aufzustampfen. Es gehört zu den kompositorischen Eigenheiten Benjamin Brittens, daß er auch schlagende Einfälle niemals feiert, sondern sie klingen an und verklingen mehr im Kopf, verklingen wie eine Erinnerung, der man nachlauscht, dabei immer prägnant und dem fernen Rufen aus einer milden Nacht gleich, die ihre warmen Verzweiflungen kennt... Die silbernen und kupfernen Wagen -
Die stählernen und silbernen Buge -
Schlagen den Schaum -
Wühlen die Stöcke der Dornen auf.
Die Strömungen der Heide
Und die ungeheuren Rillen der Ebbe
Fliehen in Kreisen gegen Osten;
Gegen die Pfeiler des Waldes,
Gegen die Stämme der Molen,
An deren Kante sich stoßen die Wirbel des Lichtes.
Rimbaud
Hineingehen! Denn Brittens kleine Stücke gehören zur größten Musik, die je geschrieben wurde. Konzerthaus Berlin, Gendarmenmarkt, 20 Uhr. Das Haus war gestern abend nicht voll besetzt, es wird noch >>>> Karten geben heute.
albannikolaiherbst - Samstag, 29. November 2008, 08:04- Rubrik: Konzerte
es ist das erste mal an diesem abend, dass bonnie prince billy sich erhebt --: auf der bühne im studio sao paulo und --: die gitarre beiseite legt.
er reiste allein mit emmett kelly an, dem zweiten gitarrist und sänger.
obwohl es von der vip-terrasse nicht aufhören will zu lärmen, horcht man nun auch von dort gebannter der reinkarnation des allen ginsbergs als holy wolf. indeed, you remind me of something. an den letzten sommer in berlin. an das erste fremdeln: deine wohnung. nein, unsere wohnung. nein, deine. anfänge. abschiede. weiter machen. neu anfangen. fahnendurchsicht. verse schmuggeln. mit dem rad durch die nacht. a song that i am, a woman, a man, and everything else. tegels taxifahrer. c/o. the dancing goes on. die evolution frisst ihre kinder. deleuze gegen --: mayr. in the kitchen until dawn. nein, es war das hackbarths, endete zeitig und beinahe im streit. die geworfene münze: ich wähle nicht. doch, du wählst den zufall. my favorite song that has no end. the dark knight. schau dir erst die münze genau an. ja, aber es ist schwierig. ja, was glaubst denn du, i m only happy when it s complicated. könnte glatt gelogen sein. so sweet and so wrong. it s been you since i found it, i still go where it ended.
i saw the best singer-songwriters of my generation in the machinery of night in sao paulo and missed them --: in los angeles.
did you add up all the cards left to play?
diadorim - Freitag, 28. November 2008, 09:55- Rubrik: Konzerte
>>>> Diese CD ist ein Glücksfall. Sie balanziert über jenen Paß zwischen Kommerz und Kunst, der auch einem mainstream-fernen Projekt Erfolg bringen könnte. Selbst das hat freilich einen Preis; hier bezahlt ihn die Poesie an den Pop, doch dafür ist sie aus der Vergessenheit in die Gegenwart wiedererweckt und läuft dem Zugriff davon come i lupi corrono alla montagna.
Es sind ins Italienische gebrachte mittelalterliche Gedichte arabischer Sehnsucht von Männern zu Männern wie zu Frauen, vor allem aber zur an die Normannen verlorenen Heimat Sizilien, eines paradiesischen Gartens auf Erden – der sich der Scollo, schreibt sie, „uns europäischen Sizilianern“, erst über diese Lyrik aufgeschlossen habe. Nun schließt sie sie uns Hörern auf. Das geht uns auch etwas an, denn kaum ein anderes Land repräsentiert ähnlich gerafft den Beginn unserer Kultur wie diese Insel. Se volete vedere la Grecia, heißt es, andate alla Sicilia. Auch Griechenlands Ursprung lag ja im Orient. Der prägte Europa noch einmal tief durch die arabische Herrschaft auf Sizilien zwischen 700 und 1000 n.C. Das Abendland, insgesamt, wurde von seinem Morgen geboren. In diesem Umfeld sind Scollos Lieder zu hören. Und der Dichter Jano Burgaretta macht dem Exilierten, auf Sizilianisch, nicht Italienisch, bitter deutlich, wie weit das heutige Sizilien von seiner mittelalterlichen Blüte entfernt ist und wie weit, denkt man, der heutige fundamentale Islam von der leuchtenden Blume der Heimat Ibn Hamdis.
Daß es unmöglich sei, schreibt Ungaretti, sich seiner im Dunkel vergangener Jahrhunderte liegenden Herkunft zu entziehen. Das wird Frau Scollo, als sie sich in diese Dichtungen versenkte, gespürt haben. Wer immer ihr zuhört, spürt es nun mit. Auch wir haben ja das Bewußtsein unserer Herküfte, haben unsere kulturelle Identität verloren und schauen ganz wie Ibn Hamdis aus einem Westen nach dem Osten zurück, wohin uns Markus Stockhausens schöne Trompete ruft. Freilich ist das auch Warnung: Un solo bacio su quella bocca, schreibt At-Tûbî, öffne den Weg der Angst. Darüber täuschen die Geigenseligkeiten durchaus nicht hinweg, die manche Vertonungen Scollos ganz furchtbar übersüßen. Ihre Arrangements sind überall dort nicht auf der Höhe der poetischen Vorlagen, wo mit spätromantischem Orchesterapparat Stimmung erzeugt werden soll. Doch immer wartet die Scollo mit so eigenwilligen Stilkombinationen auf, daß man abermals aufmerkt: gerührt und manchmal begeistert. Einige Lieder sind meisterhaft, etwa das widerspenstige Non credete, aber auch Burgarettas Ibn Hamdis zugeeignete Klage: die Scollo singt sie zur Gitarre mit angedeuteten arabischen Koloraturen, eine Bratsche kommt hinzu, seit je Todesinstrument in Zwischenlage, schon kippt das Lied und wird Chanson. Dazu läßt das Streichquartett insgesamt an ein Akkordeon, ja einen Tango denken, sogar an Klezmer: in solchen Augenblicken hat man ein ganzes Osteuropa im Ohr, und der verlorene Garten, in dem der Löwe friedlich beim Lamm liegt und tolerant der Muslim bei Mose und Christ, leuchtet momentlang heraus, als wären es Pfeile, / die brennend die Gewänder der Finsternis / mit einer Feuersbrunst zerreißen (Ibn Bishrî). Doch verweht Nabil Salamehs Rezitation wie die leuchtende Blume selbst: eine Frage in die Luft der stummen Geschichte geblasen. Das letzte Lied ist eine kleine Trilogie aus Aufbruch, Ausbruch und Entflammung, sowie einer Ergebung, die dem arabischem Gesang verbehalten ist. In einem offenen, aggressiv gedrückten Streicherakkord klingt er nicht aus, sondern wird weggeschnitten: man hört momentlang lange Leere. Selbst im Traum kommst du, um mir Adieu zu sagen. Wer das Booklet nicht aufschlug, bleibt ausgeschlossen von der Seele solcher Unerreichbarkeit.
Es muß mitlesen, wer Etta Scollos Kunst schätzen lernen will. Die Musik eignet sich nicht sehr zur Untermalung, weil sie sich allzu sehr dazu eignet: das ist ihr Dilemma. Denn wer auf konzentriertes Hören aus ist, den stören abgegriffene Pop-Stanzen, die sirupgetränkte Mumien der ersten Wiener Klassik sind, oder das Klavier geht in einen tausendfach gehörten Jazz-Standard über, aus dem einen allein erlöst, daß die Begleitstimme nicht arabisch, sondern jetzt französisch dazusingt und der Bezugsrahmen so unversehens gewechselt wird, daß man sich bei Serge Gainsburgh angekommen fühlt. Zudem ist die mittelalterliche Bildwelt nicht immer leicht zu entschlüsseln: ma questa luce è un modo del distruggersi/manda luce chi perde la sua vita. Solche sehr abstrakten Bilder weiß Scollos Vortrag - vor allem im Zusammenklang mit den ausgesprochen männlichen Stimmen - wirklich zu gestalten, nur habe ich mir manchmal gewünscht, sie hätte die instrumentale Begleitung kleingehalten: wäre bei ihrer Gitarre, bei der Oud und der Laute geblieben, bei Oboe und Bratsche, Giovanni Sollimas schönem Cello und Markus Stockhausens Trompete. Scollos Stimme, ihr Seufzen, ihr Beben, ihre bisweiligen Ausbrüche, die ganze expressive Innerlichkeit („incendiario!“), trügen es - aber es wäre dann eine experimental-puristische CD geworden und nicht die einer Volkssängerin, die die Scollo ja sein will. >>>> Ihr Auftritt kürzlich auf dem Berliner Monbijoufestival im kleinen hölzernen Amphitheater machte das einmal mehr klar; sie ist sich nicht zu schade, auch vor kleinem Publikum aufzutreten, sie ist ganz bei sich dann und in jedem Fall mitreißend authentisch, anders als wenn sie sich in Orchesterlieder wirft, deren komponierte Faktur allenfalls mit André Rieu konkurriert. Populismus geht halt immer auf Kosten der Kunst, in diesem Fall auf Kosten der mittelalterlichen Gedichte, und erst, liest man das - ausgesprochen schöne - Booklet mit, wird manch Musikmotz schlüssig oder spielt doch keine Rolle mehr. Und das Holz der Aloe mit seinem / duftenden Rauch umhüllte ihn ganz. Im übrigen schadet es nicht, hat man palermitanische Prozessionen im Ohr, die sich durch die nächtlichen Gassen um die via Marqueda drücken, von Tschinellen begleitet, von Blasinstrumenten geführt und in einem Feuerwerk, nach der Messe, endend. Manchmal hört man sogar die Fischverkäufer des alten Catanias ihre tetrachordischen abbaniatine rufen, mit denen Luciano Berio seine voci komponierte. Dann wieder, in dem homosexuellen Liebeslied È così snello, finden sich zweidrei Geigenphrasen, die an Schlußseufzer bei Othmar Schoeck denken lassen. Dazu der Scollo Schmeicheln, der Scollo Beschwören, der Scollo Trauern, ihr Turteln und Schmettern; sie kann, das ahnt man, furchtbar zanken. Da ist der Eindruck kaum abwegig, sie habe für dieses Projekt bei einer anderen Volkssängerin, der großen >>>> Oum Kalthoum, um arabischen Ausdruck nachgelauscht. In jedem Fall zieht sie in diesem Oktober mit vollem Recht in die Räume des Kammermusiksaals der Berliner Philharmonie ein; ich hoffe, sie läßt das Pops-Orchester draußen und gestattet sich und ihren Solisten einen nicht von Geigenbataillonen zubombardierten Raum. Sie wüßte ihn nämlich auch ohne Bombast, und uns, ganz zu erfüllen.
[Nachtrag, 29. 10. 2008: >>>> Sie k o m m t, las ich, mit kleiner Besetzung, ohne Orchester.]
albannikolaiherbst - Donnerstag, 30. Oktober 2008, 09:50- Rubrik: Konzerte
Wenn das schon zu sperrig ist, um den Kleinen Saal zu füllen, dann Mahlzeit. Nebenan, im Großen, gab man vollbesuchten Pop: Beethoven, Haydn, Brahms, da sah man manchen Nerz die Treppen des Konzerthauses hinaufdefilieren oder ihn auf Wasserwaden schleppen und roch das Naphtalin.
Still dagegen, sphärisch still, die >>>> Kammersinfonie Berlin unter ihrem Gründer >>>> Jürgen Bruns, der selbst beim Dirigieren hinter seinem Orchester, obwohl er vorne steht, verschwindet: Nichts drängt sich vor den Klang.
Es war ein liebevoll aufeinander abgestimmtes Programm, das mit Hugo Wolfs hier quasi als Abend-Prolog dienendem Lied „Verschwiegene Liebe“ in der Orchestrierung Franz Schrekers begann, dessen zumindest in Kennerkreisen berühmter Kammersinfonie der gleich folgende Teil des Abends gewidmet war. Anders als hinterher bei Schoeck ist Schrekers Klang, bei allen Rissen, bei aller ich möchte sagen: Traumhaftigkeit der Faktur, ein letztlich gesicherter, der mit äußerster Raffinesse instrumentiert ist und von Bruns und der Kammersinfonie Berlin den Character eines aktiven Traumspieles bekommt: hochnervös, ja erregt, doch schon, celestabegleitet, immer auch erschlafft. So sinkt einer aus dem Träumen in den Halbschlaf. Jedes der 23 Instrumente glüht oder glänzt; um wirklich mitzubekommen, was hier geschieht, muß man die Augen schließen. Dann wirkt es direkt aufs zentrale Nervensystem. Da es Druck zu Hochglanz nicht gab, konnten die feinen Adern der Partitur sinnlich werden und wurden in dem manchmal nah am Kitsch atmenden Zwanziger-Jahre-Klang ausgesprochen plastisch. Dieser Kitsch, der aus der Unterhaltungsmusik stammt, hat eine deutliche Funktion in Bezug auf das Hochkulturelle: er nimmt ihm den Marmor, verlebendigt es und sorgt gleichzeitig für das Ungefähre, das dieser speziellen Musik, aber den Kunstmusiken der ersten zwanzig Jahre des letzten Jahrhunderts insgesamt eigen ist, vom frühen Schönberg über Korngold bis eben zu Schreker. Deutlich dabei die Verweise vor allem auf Schrekers „Fernen Klang“: doch mehr atmosphärisch als tatsächlich motivisch. Dieser Klang hat etwas deutlich Politisches: es manifestiert sich objektive, gesellschaftliche, Ungewißheit. Immer ist schon das kommende Unheil zu spüren. Dabei wurde der Klang gestern abend ganz selten undurchsichtig, nur sehr bisweilen, einem schiefen Cluster ähnlich, verklumpt. Außen der Lack, „doch in der Tiefe waberndes Getier“ ( >>>> Benn).
Anders nun, ganz anders Othmar Schoecks erster Liederzyklus aus den Jahren 1921 und 1923. Wie in des Schweizers nahezu sämtlichen Vokal-Kompositionen ist das Unheil, ist die Gebrochenheit nicht ein objektiv-gesellschaftliches Faktum, das zum Klingen gebracht wird, sondern ins Subjekt zurückgespiegelt und dort ausgetragen. Man merkt es daran, daß musikalische Risse in minimalen Einheiten stattfinden, manchmal über einer einzigen gesungenen Silbe: es gibt da eine Tendenz zur Mikrostruktur und etwas Deklamierendes, das vor allem Fischer-Dieskau zu einem ausgezeichneten Schoeck-Interpreten gemacht hat. Kaum je werden Sangeslinien wiederholend verfolgt; das Schlußlied der Elegie ist da eine bezeichnende, spätromantische Ausnahme. Überhaupt ist die Zuordnung Schoecks zur Spätromantik höchst problematisch und einzig begründeter Beleg sein Festhalten an der Tonalität. Horcht man sie nämlich ab, beginnt sie sich, zumal in Schoecks chromatischen Vorlieben, aufzuspleißen: Da läßt sich nichts mehr halten. Der Komponist ist sich dessen bewußt – ebenso wie sich Eichendorff dessen bewußt war, den Schoeck nicht grundlos immer wieder herbeigezogen hat, und dies nicht etwa wegen der Regreßsucht in eine „heile“ Natur - im Fall Eichendorffs die verlorene Landschaft der Kindheit. Für die Elegie op. 36 verklammert ihn Schoeck mit Lenau-Gedichten, oft unheilschwangeren, in denen dieses Unheil aber nur aus der feinen Binnenstruktur kenntlich wird.
Und wie überzeugend das gestern dargebracht wurde: Ich war völlig erstaunt von der Dramatik, ja Dramaturgität dieses Zyklus': wie einem wirklich die Bilder entstehen, wie wirklich eine konkrete Abfolge entsteht, obwohl die zugrundeliegenden Gedichte narrativ nicht zusammenhängen. Das lag zum einen an der Liebe, die das Kammerensemble dieser, jedenfalls in Deutschland, kaum je aufgeführten Musik entgegenbrachte.... völlig bewußt um die Mikrostrukturen - man höre sich nur die Flötenführung in „Welke Rose“ an -, sich bewußt auch des manchmal etwas biederen, hausbackenen, ich möchte sagen: deutschschwyzer Klanges - den die Musik aber gerade, um ihn zu brechen, braucht. Deshalb muß man ihn ebenso ernstnehmen wie die U-Musik-Anteile bei Schreker; wer sich da sperrt, bekommt die eigentliche Entwicklung nicht mit. Wohin sie Othmar Schoeck geführt hat, wird jedem spätestens dann klar, wenn er zum ersten Mal seine Penthesilea-Oper nach Kleist hört – eines d e r großen Stücke Opernliteratur des letzten Jahrhunderts. Da ist es mit dem Biederen nämlich restlos vorbei, da zerbricht dem Komponisten am Penthesilea-Motiv sein Konzertflügel fast.
Es lag gestern abend aber vor allem an der Gesangskunst Sebastian Bluths. Ich kannte die Elegie bislang nur von dunklen Baritonen, ja von Bässen gesungen; hier sang jetzt ein heller, und er sang mit besonderer Betonung auf einen hellen Gesang. Das nahm das Deklamierende aus der Musik hinfort, nahm sie sehr sanglich und konnte sogar (selten, sowieso bei Schoeck) schmettern; etwas gepreßt und scharf wurde das nur, wenn Bruns das Orchester ins Forte hob. Für große Säle mag Bluths Stimme nicht gemacht sein, vielleicht aber doch: vielleicht ist es die spezielle Schwierigkeit schoeckscher Stimmführung, daß sie, anders als Schreker, ins Große gar nicht hinaus- sondern bei sich bleiben will. Und muß. Zwingt man sie um, wird sie schrill. Vielmehr gibt es Modulationen zwischen zwei bis drei Noten in einer einzigen Sprechsilbe, die Sebastian Bluth hier eben sang und nicht etwa deklamierte, wie das Fischer-Dieskau gerne getan hat. Bluths Ansatz ist ungleich schwieriger. Es war verblüffend - ein falsches Wort, weil der Vorgang innerlich ist - welch ein Ereignis aus Weh und verwundeter Sinnlichkeit dabei entstand... und welches Beharren auf melancholischer Verklärung... Innig dabei die, funktional gemeint: harmonische Rolle des Klaviers, das einen zugleich quasi-pädagogischen Effekt hat: wie eine supervidierende, gute Autorität einem an den entscheidenden Stellen, doch eben nur ganz leicht, den Finger auf ein Motiv legt, um es zu umrahmen und die Konturen momentlang auszumodellieren, auch, um damit ein Stück abzuschließen. Das ist der völlige Gegenentwurf zu Wagners Leitmotivtechnik, zu der Adorno böse bemerkt hat, man fühle sich für die wichtigen Ereignisse dauernd am Ärmel gezupft. Bei Schoeck wird nicht insistiert, sondern, indem man bricht, gehoben. Genau das beschreibt den typischen Schoeck-Klang. Das ging den Weg in die Sachlichkeit nicht mit, und nicht in eine stampfende, expressive Präsenz wie bei Stravinski, sondern beharrte und beharrt weiter auf einem Subjekt, das eben nicht abwehrt, wie es sich zunehmend demontiert, sondern den Verwundungen nachfühlt und die Chandos-Pilze ausschmeckt.
Schade nur, wie schade, daß so wenige Hörer kamen, sich auf ihr Innres einzulassen. Stattdessen, um ein Wort Thomas Pynchons zu travestieren: kriegten sie nebenan einen Beethoven ans Ohr. Immerhin sahen sie davon ab, sofort nach Polen einzumarschieren.
[>>>>Konzert am 28.11.2007.
Konzerthaus Berlin.]
albannikolaiherbst - Donnerstag, 29. November 2007, 09:17- Rubrik: Konzerte
|
|
Für Adrian Ranjit Singh v. Ribbentrop,
meinen Sohn.
Herbst & Deters Fiktionäre:
Achtung Archive!
DIE DSCHUNGEL. ANDERSWELT wird im Rahmen eines Projektes der Universität Innsbruck beforscht und über >>>> DILIMAG, sowie durch das >>>> deutsche literatur archiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht. Mitschreiber Der Dschungel erklären, indem sie sie mitschreiben, ihr Einverständnis.
NEU ERSCHIENEN
Wieder da - nach 14 Jahren des Verbots:
Kontakt ANH:
fiktionaere AT gmx DOT de
E R E I G N I S S E :
# IN DER DINGLICHEN REALITÄT:
Wien
Donnerstag, 30. November 2017
CHAMBER MUSIC
Vorstellung der neuen Nachdichtungen
VERLAGSABEND >>>> ARCO
>>>> Buchhandlung a.punkt
Brigitte Salandra
Fischerstiege 1-7
1010 Wien
20 Uhr
NEUES
Die Dynamik
hatte so etwas. Hab's öfter im Kopf abgespielt....
Bruno Lampe - 2018/01/17 21:27
albannikolaiherbst - 2018/01/17 09:45
Zwischenbemerkung (als Arbeitsjournal). ...
Freundin,
ich bin wieder von der Insel zurück, kam gestern abends an, die Wohnung war kalt, vor allem ... albannikolaiherbst - 2018/01/17 09:38
Sabinenliebe. (Auszug).
(...)
So beobachtete ich sie heimlich für mich. Zum Beispiel sehe ich sie noch heute an dem großen Braunschweiger ... Ritt auf dem Pegasos...
Der Ritt auf dem Pegasos ist nicht ganz ungefährlich,...
werneburg - 2018/01/17 08:24
Pegasoi@findeiss.
Den Pegasus zu reiten, bedeutet, dichterisch tätig...
albannikolaiherbst - 2018/01/17 07:50
Vom@Lampe Lastwagen fallen.
Eine ähnliche Begegnung hatte ich vor Jahren in...
albannikolaiherbst - 2018/01/17 07:43
findeiss - 2018/01/16 21:06
Pferde
In dieser Nacht träumte ich, dass ich über hügeliges Land ging, mit reifen, dunkelgrünen, im Wind raschelnden ... lies doch das noch mal
dann stimmt auch die zeitrechnung
http://alban nikolaiherbst.twoday.net/s tories/interview-mit-anady omene/
und...
Anna Häusler - 2018/01/14 23:38
lieber alban
sehr bewegend dein abschied von der löwin, der...
Anna Häusler - 2018/01/14 23:27
Bruno Lampe - 2018/01/11 19:30
III, 356 - Merkwürdige Begegnung
Seit einer Woche war die Wasserrechnung fällig und ich somit irgendwie gezwungen, doch noch das Postamt ... Bruno Lampe - 2018/01/07 20:34
III, 355 - … und der Gürtel des Orion
Epifania del Nostro Signore und Apertura Staordinario des einen Supermarkts - Coop. Seit dem ersten Januar ... Bruno Lampe - 2018/01/03 19:44
III, 354 - Neujahrsnacht e dintorni
Das Jahr begann mit einer unvorgesehenen Autofahrt bzw. mit der Gewißheit, mir am Vormittag Zigaretten ... albannikolaiherbst - 2018/01/03 15:16
Isola africana (1). Das Arbeitsjournal ...
[Mâconièrevilla Uno, Terrasse im Vormittagslicht
10.32 Uhr
Britten, Rhapsodie für Streichquartett]
Das ...
JPC

DIE DSCHUNGEL.ANDERSWELT ist seit 4968 Tagen online.
Zuletzt aktualisiert am 2018/01/17 21:27
IMPRESSUM
Die Dschungel. Anderswelt
Das literarische Weblog
Seit 2003/2004
Redaktion:
Herbst & Deters Fiktionäre
Dunckerstraße 68, Q3
10437 Berlin
ViSdP: Alban Nikolai Herbst
HAFTUNGSAUSSCHLUSS
Der Autor diese Weblogs erklärt hiermit
ausdrücklich, dass zum Zeitpunkt der Linksetzung keine illegalen
Inhalte auf den zu verlinkenden Seiten erkennbar waren. Auf die aktuelle
und zukünftige Gestaltung, die Inhalte oder die Urheberschaft
der gelinkten/verknüpften Seiten hat der Autor keinerlei Einfluss.
Deshalb distanziert er sich hiermit ausdrücklich von allen Inhalten
aller gelinkten /verknüpften Seiten, die nach der Linksetzung
verändert wurden. Diese Feststellung gilt für alle innerhalb
des eigenen Internetangebotes gesetzten Links und Verweise sowie für
Fremdeinträge in vom Autor eingerichteten Gästebüchern,
Diskussionsforen und Mailinglisten, insbesondere für Fremdeinträge
innerhalb dieses Weblogs. Für illegale, fehlerhafte oder unvollständige Inhalte und insbesondere für Schäden, die aus der Nutzung oder Nichtnutzung solcherart dargebotener Informationen entstehen,
haftet allein der Anbieter der Seite, auf welche verwiesen wurde,
nicht derjenige, der über Links auf die jeweilige Veröffentlichung
lediglich verweist.
|