Napoli (3). Das Reisejournal des Sonnabends und Sonntags, dem 9. und 10. Februartag 2013.
albannikolaiherbst - Sonntag, 10. Februar 2013, 08:35- Rubrik: Reisen
Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop
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ReisenNapoli (3). Das Reisejournal des Sonnabends und Sonntags, dem 9. und 10. Februartag 2013.albannikolaiherbst - Sonntag, 10. Februar 2013, 08:35- Rubrik: Reisen
Napoli (2). Freitag, der 8. Februar 2013.Erwachen in den Gassen.
Spatzen zwischen dem ersten hallenden Fahrzeuglärm. Darüber ein Glockenspiel zu dem den italienischen Radiopop mitsingenden Mann hinter der Theke; ins Gesumme das Zischen der Espressomaschine. Hier und da rattern die Blechrollos hinauf, ab etwa sieben Uhr. Die Straßen sind noch vom Regen benommen, aber es weckt sie der Duft, überall, des allersüßesten Backwerks. albannikolaiherbst - Freitag, 8. Februar 2013, 08:04- Rubrik: Reisen
Napoli (1). Donnerstag, der 7. Februar 2013. Reisejournal.albannikolaiherbst - Donnerstag, 7. Februar 2013, 09:18- Rubrik: Reisen
Die Unruhe ODER Eine kleine Vertreibung aus dem Paradies: Jamesville (5), nämlich zurück nach Berlin.9.06 Uhr: [Maison Cattechnian, 3.] Es gibt hier seit gestern eine Unruhe auf dem Gelände. Schon daran meinte ich, sie zu spüren, weil mit einem Mal Menschen zu sehen waren, also außer Jamil und dem Schattenmädchen. Vorhin fuhr sogar ein kleiner Bus vor, erst an die Hazienda, jemand sprang heraus, ich hörte von meiner Holzterrasse aus kurze Rufe, dann vor das schmale, sehr gepflegte Gebäude, welches mein Schattenmädchen - sie heiße Nasrin, flüsterte es mir in die Halsbeuge links - das Frauenhaus nennt. Tief verschleiert stiegen seine Bewohnerinnen ein, alle dreizehn, glaube ich, erst sechs in diesen Bus, dann sieben in einen zweiten, der folgte. Keine war als Europäerin kenntlich. Bereits gestern spätabends war Jamil zu mir in mein Cattechnian gekommen, um mich, seltsamerweise, über meinen heutigen Rückflug zu, wie er sagte, beruhigen; er schien vergessen zu haben, daß ich zur Unruhe noch gar keinen Grund hatte, da ich hier von allen Nachrichten wegisoliert bin, sondern ihn nun erst, eben dadurch, bekam. „Syrien“, sagte er auf mein Nachfragen nur. Seine Augen sahen durch mich hindurch in die Ferne. Leiser: „Es tut mir so leid“ - sich fassend, schon wieder das Lächeln: „Aber es ist gut, daß Sie morgen nachhause fliegen.“ Ich vermute, der syrische Konflikt greift auf den Libanon über. Jamil wollte aber nichts weiter sagen und ich nicht fragen und erst recht nicht auf die Chromosomin zu sprechen kommen, die ich und weil ich sie tatsächlich nicht wiedergesehen habe. Dafür lag Nasrin bei mir, kichernd, mädchenhaft albern noch beim Einschlafen. Ich hatte überhaupt keine Autorität, so daß ich völlig unfähig war, sie mir, wie vorgehabt, zu nehmen. Statt dessen steckte sie mir einen Finger ins Ohr, dann in die Nasenlöcher, immer wieder; zweimal versuchte sie‘s mit meinem After. Das war dermaßen komisch, daß ich nicht mal sauer werden konnte, sondern mitlachen mußte. Wir kamen aus dem Albern gar nicht mehr raus. Sie zog mich gestisch immer nur mehr und noch mehr auf, bis wir dann beide irgendwann einschliefen wie aufgekratzte Kinder, in deren Tollheit die Nacht fällt, um sie mit Schlaf zu beschweren. Frühmorgens, vorhin, lag ihr schöner Kopf an meiner Brust, und als ich sie, mein Schattenmädchen, weckte, schnurrte es wie ein Katzenjunges. Küßte mich spontan, schnellte aber auf und huschte, sich ihr Gewand überwerfend, nein: in es hineinfliegend, hinaus. Ich sah zur Uhr, es war noch keine sechs. Stand ebenfalls auf, schritt Nasrin hinterher, die Tür hatte sie offenstehen lassen, stand auf der Balustrade und entdeckte den Bus. Merkte die plötzliche, ungewohnt belebte Betriebsamkeit. Von Chromò, wie gesagt, keine Nachricht. (Weshalb muß ich an >>>> Creezy denken?) Aber ich bin ruhig über sie. Sie wird sich melden, ist keine, die ein ihr gegebenes, zumal solches Versprechen vergißt. Wir werden uns in Deutschland treffen, wie wenn das libanesische Jamesville tatsächlich wäre die Dschanna gewesen, das einem späteren weltlichen Leben die Absicht vorbestimmt hat - jedenfalls ist das formal ein schönes Motiv. Ich weiß ja, wo sie lebt. Könnte also, rein theoretisch, auch von mir aus tätig werden. Wobei mir schon bewußt ist, auf welch eine Balance ich zu achten hätte, wegen meiner Familie sowieso, aber vor allem wird die Löwin, bereits jetzt, die Krallen wetzen und an ihren Fängen feilen. Indes die Samarkandin sich amüsieren wird: ich hör sie schon mich verspotten. Da ist zumal >>>> Ayana, der ich ja ebenfalls, gewissermaßen, im Wort stehe. So daß ich mir schon vorstellen kann, zu was mir Jamesville werden könnte - so, ganz so, von dem Gräfin gemeint, der mir mein inneres Faustselbst, wenn ich das mal mythisch übersinne, kurzerhand herumdreht: seinerseits nicht ohne Spott, eines des identisch selbstbewußten Franzosen gegenüber dem historisch zwar nicht mehr wirklich, als „bloß“ Enkel der Mörder, schuldbeladenen, doch zurecht verunsicherten jüngeren Deutschen. Den er nun mit Harems lockt - in eine, möglicherweise, nächste politische Falle. All das zu überdenken, ist aber momentan nur ein Vorschub, mir selbst die Nervosität zu verdecken. Wenn ich ehrlich bin, macht es mir Angst: die Rückfahrt, die Realität, vielleicht, von Schüssen am Flugplatz; ich bin, bei aller Abenteuerlust, zu verwohlstandet für Krieg, zu dekadent für einen aktiven Kampf, der tatsächlich mit dem Körper geführt wird und um den Preis seines Verlustes, ja selbst nur physischer Schmerzen, denen man ihn aussetzt. Welch ein Luxus das ist, in dem wir - so nannte man uns >>>> in Japan 2002, Tokyo, Keio Universität - „Westeners“ leben! Jamils kleiner Satz geht mir nach, geht mir dermaßen nach: „Es tut mir so leid.“ Nein - auch wenn mich Le Duchesse verführen will, es zu denken: Die Welt ist k e i n Spiel der Imaginationen, weder ausgedachter Götter noch eines Textes und seiner Dichter, noch selbst nur ein Text. Ich sollte packen. Es ist bereits Viertel vor elf. Wir führen am frühen Mittag los, erklärte Jamil, nachmittags gehe mein Flieger. Ich möge dann bitte bereit sein. Irgendwann nachts, schätze ich, werde ich die Arbeitswohnung wieder betreten. In >>>> der Bar wieder sitzen, morgen wahrscheinlich, der gegenüber im Parkchen ein Fuchs lebt, und neben mir, von dem Champagnercocktail nippend, wird mich der Profi nach dem Libanon fragen, von dem ich rein gar nichts gesehen. Aber die Zedern. Er duftet, der Wald. Über den ich Gedichte gelesen habe... auch. - Nasrin, o Nasrin. (An Argo habe ich gestern keinen Handschlag getan. Auch an der Neuen Fröhlichen Wissenschaft nichts. Immerhin steht mein Entschluß, auf eigene Faust, noch einmal - dann aber ‚richtig‘ und eben n i c h t nach >>>> Roissy en Liban -, nach Beirut zu fliegen. Wenn ich in Deutschland zurück bin, werde ich nach Flügen schauen. Schon jetzt, wie mit dem Ätna, hab ich das Gefühl einer Klammer, die aufklafft. Und geschlossen werden will. Denn daß ich das schreibe und ER es wird lesen, ist m e i n ... und sie dreht sich d o c h!) Jamesville/Dschanna 4 <<<< albannikolaiherbst - Montag, 30. Juli 2012, 10:02- Rubrik: Reisen
Von den Fallhöhen: Jamesville (4). Das Arbeits- und Erhörungsjournal vom Freitag, dem 28., auf Sonnabend, den 29. Juli 2012. Weiters vom Paradies.7.30 Uhr: [Maison Cattechnian, 3.] „>>>> Chromò“, sagte sie mit dem nach oben, wie um etwas aufzunehmen, offenen ‚o‘, das die Kurzform beschließt. „Woher wissen Sie, daß ich so heiße?“ „Das wußte ich nicht.“ „Ich lege Wert auf meine Anonymität... hier.“ Aber dieses sei einst und zuerst ihr Kindername gewesen, der sich, wohl auf dem Weg alter Freunde, bis heute bewahrt habe, wenn auch, anfangs nachvollziehbarerweise, nur noch bei nahen Bekannten. Es habe indes eine Zeit gegeben, da sie eine Laufbahn als Model begonnen, „ich habe das wirklich gerne gemacht, es war eine andere Welt, als ich kannte“, dann aber sei sie ihrem heutigen Mann begegnet. „Rücksichtnahme“, sagte sie, „eine Selbstverständlichkeit. Wenn Sie so wollen, bin ich in meine alte Welt zurückgekehrt. Schon mein Vater war, wie mein Mann ist, Diplomat. Es gibt Länder, für die Chromò, wenn sie auf den Journalen prangt, eine große politische Hürde darstellt. Aber das, Chromò, tatsächlich, bin ich für die VOGUE gewesen. Nun ja, dies liegt Jahre zurück. Ich habe den Schritt nicht bedauert. Mein Mann ist konservativ und liebevoll.“ „Und Sie lieben ihn.“ „Ich liebe ihn. Sehr.“ Wir schwiegen ein paar Momente. „Er hat mich nie so genannt, nie Chromò. Als hätte er gewußt. Und weiß.“ Die Sonne glitt über die Terrasse. Denn dieses Gespräch wurde gestern nachmittag geführt. Bis in den späten Abend. Ich konnte beobachten, wie ihr der warme Schein die freie rechte Schulter hinanstieg. Sie drehte ihren Körper in ihn hinein, während sie die Augen geschlossen hielt, als hörte sie ihren eigenen letzten beiden Wörtern nach, wie sie zu einem Wort wurden. Denn sie öffnete die Augen wieder und sagte: „Ja.“ Dann fixierte sie mich, direkt, fragte: „Und Sie? Wo haben Sie Monsieur Le Duchesse kennengelernt?“ Ich bin, Leserin, nicht so naiv, wie ich gerne tue. Es war mir von Anfang dieses Berichtes an klar, worauf er hinauslaufen würde. Ich bin auch nicht unschuldig. Bewahre! Allein, daß ich gerissen bin, hat mich unter die, Jamil zu glauben, neununddreißig Kandidaten gereiht; ich habe, mit anderen Worten, keine Moral - oder doch, durchaus, aber sie deckt sich nicht mit den Normen. Sie trennt. Für Chromò bin ich ideal: für das, was sie will und ersehnt - wonach ihr Es sie sehnen gemacht hat. Ich will darüber nicht sprechen, noch nicht, will nicht sagen, Ihnen schon gar nicht, was sie zu mir sagte, als wir uns gestern nacht trennten. Worum sie mich bat. Das Wort ‚bitte‘ ging ihr schwer von der Zunge; nach keinem wie dem verlangt es sie so. Kühl, elegant, von ihren Pumps die Sprunggelenke erhöht, erhöht ja überhaupt, das Gesäß wie in ständiger, ganz wie ihr Geist, Spannung, in diesem permanenten Training der Haltung, die schon das Elternhaus ihr vermittelt, die - eine Folge ihrer kaum je seßhaften Kindheit, alle drei Jahre zog die Familie um, Botschafterschicksal - also die Vielsprachigkeit obendrein; eine gar nicht so ungewisse Aggressivität der nahezu ständig paraten Bonmots; eine Zickigkeit, wahrscheinlich, denen gegenüber, die sie nicht achtet, und schön dabei, sehr schön, wenn auch nicht als Passepartout, das die Werbung uns schönzufinden heißt, sondern mit jener, bei ihr immer wieder plötzlich aufblitzenden Unverhältnismäßigkeit der Proportionen, von denen Poe geschrieben hat, einer in ihrer Mimik - so stand sie dann vor mir und ging sie weg, nachts. Nachdem sie diesen Satz ausgesprochen hatte, die Bitte, die ich sie aussprechen ließ. Weil ich die Führung übernommen hatte - etwas, das immer Distanz abverlangt. Es war dies aber nicht das letzte, was sie sagte. Sondern sie verfluchte mich. „Babáca safado!“ zischte sie und lachte ohne, hätte man früher gesagt, Ziemlichkeit, als ich irritiert „w i e meinen?“ fragte und sie um die Übersetzung ersuchte. Die gab sie mir, ziemlich grob, sofort. Ich reichte ihr zum Abschied meine Rechte. Sie nahm sie, nahm sie hoch zu den Lippen und leckte mir einmal durch die Handfläche. Dann drehte sie sich um und schritt vollendet ins Haus. Es bleibt mir, Leserin, nichts übrig, als zu gestehen, daß sie, Chromò, mich richtig sieht. Ich kann Sie also nur warnen. Es kann sehr tief hinabgehn - Nein, es ist nicht meine Kühle, was gefährlich ist an mir, nicht mein erotisches, was es aber ist, Kalkül, sondern meine - Wärme. Denn wir plauderten ja nur, die Chromosomin und ich, tauschten, wenn Sie so mögen, Bildung aus, Belesenheiten und erfahrene Begegnungen; wir sprachen über unsere Kinder und die Städte, in denen wir gelebt. Gar nicht m e h r. Das junge Mädchen, das mir fast wie ein Schatten, wo immer ich hier hingeh, folgt, aber, wenn ich zu ihr blicke, wie unter Lichteinfall weg ist, durfte uns hören; selbst >>>> mein Verleger Držečnik, dieser vornehme, distinguierte Mann, hätte uns zuhören können, sogar >>>> Joachim Sartorius, es wäre da immer nur die Ahnung gewesen, um was es wirklich ging, daß es also um etwas ganz anderes ging, als das Gespräch es berührte. Übrigens war die Verabschiedung, einem Versprechen in eine völlig konturlose Zukunft gleich, ohne weitere Verabredung. Denn wie soll das werden? Ich meine, ich reise morgen bereits wieder fort; um die Bitte zu erfüllen, aber, braucht es Zeit. Soll ich Jamil fragen? Mein Instinkt rät mir ab. >>>> Mein Tauchlehrer kommt mir in den Sinn, der, als ich den OWD dann hatte und zu einem ersten Gang in die eigene Tiefe des Meers der Isola del Giglio aufbrach, selbstverständlich in der Gruppe, auf meine Frage, was denn nun zu tun sei, rüde dahinwarf: „Du hast jetzt den Schein; trifft also deine Entscheidungen selbst.“ Nicht ein Wort zur elften Frau werde ich ihm sagen, Jamil; doch wie stets, wird er lesen, was ich zu erzählen habe, bevor ich es einstellen darf. Sollte er nachfragen, werde ich mich in ein Lächeln hüllen, das von dem seinen nicht unbeeinflußt ist. Dabei fällt mir ein, daß ich ja gar nicht weiß, wie dieses Schattenmädchen heißt. Ich hab es nicht gefragt. Wie werde ich es nachher zu mir rufen? - Fünfzehn, hat es gesagt, daß es sei. „Finden Sie, daß es auf so etwas ankommt?“ “Es“. >>>> Jamesville/Dschanna 5 Jamesville/Dschanna 3 <<<< albannikolaiherbst - Sonntag, 29. Juli 2012, 09:50- Rubrik: Reisen
Verklärungen wieder, diesmal nämlich Die Chromosomin: Jamesville (3). Das paradiesische Arbeits- und Reisejournal vom Freitag, dem 27., auf Sonnabend, den 28. Juli 2012. Darinnen Joumana Haddad und die verschwiegenen Traumfeigen Scheherezades.6.50 Uhr: [Maison Cattechnian, 3.] Es i s t hier gar keine Wüste, hier ist Fels, wo nicht durch Bewässerungssysteme, die ich nicht durchschaue, Rasen, sowie der - es sind welche - Wald der Zedern; doch auch den Garten Eden stelle ich mir als eine künstlich bewässerte Anlage vor: das Paradieswort ist aus der Wüste vom Islam hierhergetragen worden, eine abstrahierte Oase des Weltenanfangs wie -endes, nicht anders als Bethlehems Verkündigungsstern, der im Mittelalter auch über Augsburg gestanden, um des Morgenlandes Weisen an eine Krippe in Bayern zu führen. Hier, in des Libanons Jamesville, führt es, das Wort, die Frauen: der Stern ist ein Name dieser Oase. (Warum aber „Jamesville“? Jamil gibt keine Auskunft.) Aber ich habe darüber ein Gedicht gelesen. Es gibt in meinem Zimmer viele Bände mit Gedichten, deren meiste ich indes nicht verstehe; nur ein einziges Buch enthält deutsche Übersetzungen. Viele auf Französisch gibt es aber, die ich ebenfalls nicht oder nur langsam und mit Dictionaire entziffern könnte, das mir indes nicht zur Hand ist; überdies störte der Prozeß des Dechiffrierens den Rhythmus, die Erstehung der inneren Musik. Und was das Englische anbelangt, das hier fast mehr noch, aber allein für Gedichte, vertreten ist, so ist auch dies ein Idiom, in das ich mich vor allem vokabelhalber erst einfinden muß. Allerdings geriet mir eine Zeitung in die Hand, nein, nur der Ausschnitt aus einer Zeitung, der in einem libanesischen oder, das kann ich nicht entscheiden, andersarabischen Gedichtband lag, zusammengefaltet auf das Format dieses Buches, ein Artikel, in dem eine Beiruter Dichterin ein Interview gibt: Joumana Haddad. (Nicht mir übelnehmen, bitte, daß ich keine anderen Links als die legen kann, die ohnedies in meinem Laptop gespeichert sind; es wird aber für Frau Haddad welche geben. Googlen Sie also; die mir hier zugestandene Netzzeit ist einfach zu kurz, um meinerseits angemessen ausführlich zu sein. Das Interview, jedenfalls, hat seine Hand direkt um mein Herz herumgelegt und, aber vorsichtig, zugedrückt, so, daß es reichte, mir einmal kurz den Atem zu stoppen: „I would never want to look like a man or act like a man. I don't need to. I mean, I love men, and I love being with them, and I love communicating with them, but I don't want to be them. I don't want to feel like I have to be like them in order to be heard! No, and a thousand times no, for such an insulting, superficial kind of solidarity. Women deserve more. Much more.“ Der vorletzte Satz ist unterstrichen. Der Artikel ist fast frisch, aktuell, knapp zwei Jahre alt. Dem Portraitfoto zu trauen, ist diese Autorin eine schon extrem schöne arabische Frau, die auf allen Begehrnissen von uns Männern zu spielen weiß. Ich werde, wenn wieder in Deutschland zurück, etwas mehr über sie zu erfahren versuchen. Von der will ich aber jetzt nicht schreiben. Women deserve more. Ich will von Madame X schreiben, die ich für mich - für mich, weil ich mich nicht lächerlich machen will - Chromosomin zu nennen begonnen habe, die Nummer Elf der Vorgesternnacht, denn „Haben Sie gewählt?“ fragte auch Jamil, als er mich gestern vormittag für den Internetzugang abholen kam. „Wir sind sehr gespannt.“ Wir! - er sagte wirklich „wir“. Als ob er nicht bloß ein Handlanger des Gräfin wäre. (Ist er das? Oder doch nicht? Da ist ein arabischer, so herrischer wie zugleich, weil er sich nicht beugt, herrlicher Stolz an ihm: Vielleicht hat יהוה längst seinen Frieden mit الله geschlossen, vielleicht, daß im Himmel längst ein Kontrakt gilt, ja ein Zusammenschluß, den eine NATO des Monotheismus unter Vorsitz des Nazareners durch Sanftmut verteidigt... dann müsste ich >>>> meine Position überdenken.) - „Wir sind sehr gespannt.“ Ich wollte ihn warten lassen, schwieg: nicht meinen Handlungsvorteil verspielen. Außerdem war mein Text einzustellen, Zeitökonomie ist verlangt. Der Monotheismus ist kriegerisch. Aber danach. Heute, also gestern, blieb Jamil ein wenig bei mir; es waren jetzt auch Frauen zu sehen, Dienerinnen, alle sehr jung, die nach japanischer Art das Frühstück servierten: am Boden. Wir saßen auf Kissen. Ich hütete mich zu fragen, was dieses hier denn sei. Es war allzu offenbar, was nachgestellt oder vorgestellt werden sollte. „Nein“, sagte Jamil, „niemand hier wird gezwungen, jede tut, was sie zutiefst will.“ „Es ist Devotion in den Frauen“, antwortete ich. Er lächelte. „In jeder“, setzte ich nach, um ihn zu provozieren. Er lächelte. „Mehr oder weniger“, sagte ich. „Ich halte es für eine genetische Disposition.“ Es ist mir selbstverständlich klar, wozu ich hierbin, die „Prüfung“ ist kein Rätsel mehr – nicht mehr, seit ich gestern den ganzen Tag die Zeit hatte, über die Vorgesternnacht nachzumeditieren. „Aber ob Sie das können“, but whether you’re able, sagte, ohne Kryptik, Jamil. „Die Nummer elf“, sagte ich. „Dann habe ich eine Wette gewonnen mit dem Herrn“, sagte er, nachdem er, diesmal war das keine Maske, spontan hatte lächeln müssen. „So hätte – ein Araber entschieden. Monsieur Le Duchesse hat hingegen auf eine Dunkle getippt. – Zweiundzwanzig Feigen“, setzte er nach. „Bitte?“ „Traumfeigen“, sagte er, „ein Zauberwerk, das Scheherezade vergaß zu erwähnen… absichtsvoll: davon können Sie bei Frauen ausgehen. Aber wenn Sie von einer kosten, wenn Sie sie kauen und schlucken, können Sie das halbe Universum durchreisen.“ Er lachte lauter. „Das sind elf Universen insgesamt…“ – als ich leicht irritiert zu wirken schien, es auch war: „… bei zweiundzwanzig Feigen. - Und sehen Sie? Ihre Zahl Elf. Doch sollten Sie sich nicht täuschen: das Objekt sind Sie. Das ist die Freiheit, zu der das Paradies uns bringt“, auf Englisch, ungefähr, sagte er’s so: „that kind of freedom paradise will give us“. „Weshalb aber ‚Jamesville’?“ fragte ich. „Woher dieser Name?“ Jamil ignorierte die Frage. Stattdessen: „Ziehen Sie sich um. Und arbeiten Sie etwas. Ich werde Ihnen Madame X heute Nachmittag vorstellen, sagen wir um halb fünf. Sind Sie einverstanden?“ „Madame X?“ „Ihnen ist die Tätowierung aufgefallen – oder nicht?“ „Eine Kalligraphie.“ „Es gibt kein X im arabischen Letternsystem.“ „Das X ist – Geheimnis.“ „Die einzige der dreizehn Frauen, die Sie sahen, deren Name wir nicht kennen… oh, nicht daß wir nicht erfahren könnten! Wir könnten. Sie aber möchte nicht. Geben Sie ihr einen Namen. Sie wissen doch: die Dinge lassen sich benennen.“ „Den Namen zu wissen, heißt: zu beherrschen.“ „Sie sind nicht der einzige Proband. Nur der mittlerweile fünfzehnte von neununddreißig, die wir uns ausgesucht haben. Übrigens der einzige Deutsche. Nimmt Madame X Sie an, dann entlassen wir Sie beide. Ah, wenn nicht: dann auch, aber nur Sie. Die Frau muß Sie bitten. Tut sie es nicht, dann sind Sie…“ er lachte endlich einmal wirklich laut auf, ohne rhetorisch vorgehaltene Hand „… durch die Prüfung gefallen.“ Wieder allein, konnte ich nicht arbeiten, sondern ging in der Anlage spazieren. Ja, es sind Zedern. Ich habe Lust, ein Gedicht über Zedern zu schreiben, ihren eigenwilligen Pinienduft. Was geschieht hier, in dieser Hochburg, dachte ich, des männlichen Gottes? Wenn diese Frauen freiwillig hiersind – es gibt keinen Grund, an Jamils Worten zu zweifeln -, dann reinszenieren nicht nur die Männer die Niederwerfung des Matriarchats immer neu, seine Beugung, sondern es sind, und die Chromosomin gab mir später darin recht, auch die Frauen – sexuell begeisterte Frauen, erotischen Geistes; wozu mir dann wieder einfiel, was mir vor Jahren >>>> June schrieb: „Machtspiele gehören ins Bett“, was das NUR implizierte: n u r dahin. Wie lange solche Gespräche, Korrespondenzen, Briefe nachwirken können! Ich hab sie nie vergessen. Sie reichen bis in den Libanon. Und: Was wir denken, holt uns ein, so dass wir halten müssen. Es war hoch kultiviert. Ich saß in der Loggia des von Jamil Dschanna, von mir Hazienda genannten Hauses. Das Mädchen von vorgestern nacht hatte mir eine Limonade gebracht. Mir ist immer mal wieder nach einem Campari, nach einem Malt. Aber im Paradies gilt strenges Alkoholverbot. „Es sind Alkoholika genügend da… Wir erwarten Beherrschung.“ - Rauchen darf ich aber; der Duft meines Pfeifentabaks ehrt das nahe, derzeit so geschundene Syrien. Ich blätterte in einem französischsprachigen Gedichtband, blätterte nur, weil ich eben kaum was verstand. Daß ich sprachlich derart begrenzt bin! dachte ich und ärgerte mich wieder. Jedes Mal in einem Ausland frißt das an mir. Zugleich aber das Wissen, niemals, wirklich niemals in einem anderem Idiom so zuhause zu sein wie im Deutschen. (Labend aber >>>> Daniela Danzens Wort: „Ich bin glücklich darüber, in der Sprache Hölderlins schreiben zu dürfen“ – mutig, übrigens, das so zu sagen… und dann noch: zu „dürfen“.) Als die Chromosomin heranschritt, aus der Tür tretend, zielhaft, hoch, stolz, kühl, durchaus arrogant. Das nicht sehr lange Haar zu einem, das sah ich aber erst später, Knoten genommen, der dreivier Zentimeter über dem Nacken saß. „Ich wundere mich“, sagte sie anstelle einer Begrüßung, „daß Sie sich für mich entschieden haben und nicht für eine der arabischen Schönheiten. Was ist der Grund?“ Ich stand auf, nahm die Lehne eines Stuhles, damit sie sich setze; dann erst setzte ich mich auch selbst wieder. „Weshalb sind Sie hier?“ fragte ich. Zeigte auf meine Pfeife. „Darf ich?“ „Pfeife ist angenehm, aber zu väterlich“, sagte sie. „Ich habe nicht vor, mit meinem Vater zu schlafen.“ „Sie haben vor, mit m i r zu schlafen?“ „Wenn Sie mich dazu b r i n g e n. Vorerst habe ich gar nichts vor.“ „Wegen der Tätowierung“, antwortete ich. „Ein Besitzzeichen.“ „Weshalb ein X?“ Sie lachte auf. „Monsieur Jamil hat geplaudert! Daß Ihr Geschlecht niemals wirklich diskret sein kann!“ „Verzeihen Sie bitte.“ „Verzeihen? Sie sind dabei zu verlieren, Monsieur. Ich erwarte, dass Sie sich nehmen.“ „Sie werden mich darum bitten.“ „Schon besser, der Herr.“ Sie lächelte. „Ob auch ich etwas zu trinken bekomme?“ „Verz… ach, was. Moment.“ „Einen Pfefferminztee, bitte. So heiß und so süß, dass es mir den Gaumen sprengt. Ich hasse Lauheiten.“ Was eine Frau! „Aber weshalb ein X?“ „Weil ich nicht weiß, w e r besitzt.“ Da wagte ich's: „Der Ihnen Ihren Namen gibt: Chromosomin. Männer haben nur eines davon, von diesen X’en. So können wir sagen, daß Frauen gleich doppelt anonym sind.“ [Oh, neun vor elf. Ich erzähle morgen weiter. Meine heutige Netzzeit bricht an; Jamil wird gleich klopfen – und ohne korrekturgelesen zu haben, mag ich das nicht einstellen.] >>>> Jamesville/Dschanna 4 Jamesville 2/Dschanna <<<< albannikolaiherbst - Samstag, 28. Juli 2012, 09:54- Rubrik: Reisen
Jamesville (2). Das Arbeits- und Reisejournal des Donnerstags, dem 26., auf den Freitag, dem 27. Juli 2012. Mit einem schweren Traum. Doch dann die Elf.9.28 Uhr: [Dschanna, Loggia.] Ich habe verschlafen, nachdem ich aber gestern nacht erst sehr spät, bzw. früh zu Ruhe, also in mein Haus zurückkam, aus dem die junge Dame mich mitternachts abgeholt hatte. Schwere, sehr schwere Träume, gestern bereits, von den Zwillingskindlein, die plötzlich allgegenwärtig waren, auch von लक्ष्मी und von meinem Jungen sowieso, der zu seiner neuen Schule gebracht werden mußte; ich aber war unterwegs, kam zu spät an, wollte ihn noch abholen in der alten - aber fand sie nicht mehr. So irrte ich über eine riesige Berliner Brache, die voller ausgebombter, nicht sehr hoher, doch extrem langer Gebäude stand, kasernenartig verlassen und, ja, ausgeschlachtet. Plünderer striffen über das Feld. Ich fragte nach dem Gymnasium, ein Penner wußte Auskunft. Es ging mit einem Mal einen rasenbewachsenen, ziemlich tiefen Hang hinab. Und dort unten stand das Gebäude dann, das aber an die backsteinerne Wirklichkeit des Schliemann-Gymnasiums in gar keiner Weise erinnerte. Dennoch wußte ich, daß ich hier richtig war. Betrat das Gebäude, wußte bloß nicht mehr, wo sich das Sekretariat befand, wollte irgendwo fragen, klopfte an die Tür eines Klassenzimmers. Alle Schüler saßen drinnen, vorn die Lehrerin. „Entschuldigen Sie bitte: wie komme ich zum Sekretariat?“ Daraufhin sie, mit deutlich angemaßter Arroganz: „Denken Sie doch einmal nach.“ Es war dazu aber keine Zeit, ich war ohnedies so spät, und es gab mehrere Möglichkeiten, meinen Sohn, bräche er alleine auf, zu verpassen. „Es eilt, wirklich“, bat ich, „helfen Sie mir bitte.“ „Wenn Sie das vergessen haben, dann ist Ihnen nicht zu helfen. - Nein, da müssen Sie selbst drauf kommen.“ Bereits Amusement bei den Schülern. Die Frau spielte ihre Macht gegen mich aus, die Schüler gehörten plötzlich zu ihr, zur siegenden Partei. Ich wurde wütend. „Jetzt werden Sie auch noch primitiv“, sagte sie. Es hatte keinen Sinn. Ich ging und knallte die Tür. Kam zu spät, fand meinen Jungen nicht. Dann ein Traumschnitt, Elternkonferenz. „Stehen Sie zu dem, was Sie sind“, sagte ein schon alter, tolstoibärtiger Mann, eine Mischung aus indischem Guru und europäischem Machtmensch, der sein Teil längst heimgebracht hat und völlig einverstanden dem Tod entgegensieht. Von seinem Blick wachte ich auf. „Bitte folgen Sie mir.“ „Jetzt?“ „Jetzt.“ Ich nahm meine Pfeifen, das Notizbuch, das mir die Löwin geschenkt hat, nahm meine Lederjacke, weil es hier nachts durchaus frisch ist. Aber dachte, es wäre besser gewesen, ich hätte Anzug und Krawatte getragen. Damit hatte ich recht. Immerhin habe ich einen mit und werde mich, sowie dies hier geschrieben und eingestellt ist, in ihn kleiden. Wobei ich wegen des Verschlafens nicht viel Zeit habe, da doch der Text zwischen elf und halb elf in Der Dschungel eingestellt werden muß. Man lasse davon keine Abweichung zu, hatte Jamil erklärt, in seiner orientalisch freundlichen, dabei freilich unbedingten, fast muß man, glaube ich, schreiben: extremistischen Art. Das eben will man von mir: Unbedingtheit. Wie ich jetzt weiß, da aber schon gefühlt habe. Auf keinen Fall ausweichen, auf keinen Fall einknicken. In diese Richtung geht die Prüfung. Aber wer ist der Gräfin, sich das anzumaßen? Manchmal schäumt wieder Wut in mir. Doch ich weiß ja, >>>> wer er ist. Wir gingen durch die Nacht zur Hazienda zurück, dort durch den Empfang, aber vom Speiseraum aus, der ebenfalls auf die Loggia führt, in der ich dies hier, jetzt am Morgen, tippe, durch einen hinabführenden Seitengang direkt vor eine schmale Stahltür. „Bitte“, sagte die junge Dame und öffnete. Es war nicht mehr als eine Kammer. Ein Sessel darin, daneben eine Ablage mit Aschenbecher und Feuerzeug, nichts weiter. Der Sessel läßt auf eine Scheibe blicken, hinter der es noch dunkel war. „Wählen Sie“, sagte die junge Dame, schloß die Tür wieder; selbst blieb sie draußen. Ich saß im Dunklen, versuchte, einen Lichtschalter zu finden, es gab aber keinen, oder ich fand keinen. Doch nach vielleicht zwei Minuten, die mir aber wie zehn vorkamen, wurde es hinter der Scheibe hell, so daß das Licht auch in meine Kammer fiel. Der Raum dahinter war weit und voller Säulen, dazu aber fast überlaufen ausgestattet mit Sitzmöbeln und Schränken, Sekretärchen, Barockhockern, die gleichsam sinnlos, derart beliebig, herumstanden, sowie vor zweien der Säulen mit Büchern hinter einem Glas, das bis zur Decke langte, deren Mitte, aber eben nur dort, ein enormer Kronleuchter beschwerte, Muranoglas, dachte ich sofort, art deco, barock zugleich wie ziseliert. Das Licht, das er abstrahlte, hatte freilich etwas Künstliches, ebenfalls Übermäßiges, ja Grelles. Es schüttete Fieber in den gesamten Raum, zwischen alle Säulen, ein, der farbigen Kristalle wegen, in dem es sich brach, farbiges Fieber. Der Boden blankes Parkett, scharf widerspiegelndes Parkett, in dem es vier wassergefüllte, aufeinander zulaufende Rinnen gab, die das einzige sind, was den Raum oder Saal wirklich strukturiert. Dann kamen die Frauen, eine nach der anderen, herein; eine nach der anderen, nachdem sie sich ja: vorgeführt hatte, und zwar dazu direkt über dem Zusammenlauf der Rinnen stehend, stellte sich rechts in der Riege auf, wirklich aufgereiht standen sie da, den Vorderkörper je zu mir, wartend. Sie stellten sich, wenn sie an der Reihe waren und aus ganzverschiedenen Tiefen des Säulensaales gleichsam auftauchten, vor: was sie im bürgerlichen Leben seien, welchen Ausbildungsweg sie genommen, in welchen privaten Verhältnissen sie lebten. Immer, wenn neu eine der Frauen hereinkam, ging rechts oben an der Scheibe in Form einer Zahl ein Licht an. Es waren dreizehn Zahlen und also dreizehn Frauen. Jede war von europäischer Herkunft, europäisch gekleidet auch, von verspielt, auch je nach Lebensalter, bis elegant, sportlich, pfiffig in einem Fall, mit gepiercter Unterlippe und rotgesträhntem strohigen Haar, klassisch in dem anderen. Während sie sich vorstellten, entkleideten sie sich, jede, vollkommen, drehten sich langsam vor meinen Blicken herum, erzählten dabei geradezu sachlich weiter. Doch hatte ich, obwohl ich hinter dieser Scheibe in der abgedunkelten Kammer saß, den unabweisbaren Eindruck, daß sie mich sehen konnten und in Wirklichkeit nicht ich sie, sondern sie mich fixierten. Zwei sahen sogar unentwegt in meine Augen, als nähmen eben s i e Maß und nicht ich. S i e prüften, gar keine Frage. Eine von ihnen fiel mir besonders ins Auge: eine hochgewachsene, überaus kühl wirkende Blondine mit im Nacken gebundenem Haar, die mich auf ihren hohen Schuhen ganz gewiß überragte, stünde ich direkt neben ihr. Als sie sich umwandte, sah ich, daß sie im Nacken ein Tattoo trug; ich konnte aber das Motiv nicht erkennen, nur, daß es ausgesprochen fein ausgeführt war und an eine arabische Kalligraphie erinnerte, an ein Schriftzeichen also. Die Frau erschien zur Zahl Elf. War das, dachte ich kurz, eine Elf auch im Nacken? Es wurde wieder dunkel, so daß es sich durch die Scheibe nicht weiter blicken ließ. Ich blieb ganz allein mit mir, zehn Minuten lang wohl, aber wahrscheinlich waren es auch diesmal nur zwei. Dann öffnete sich die Tür, und die so sehr junge Frau bat mich wieder heraus. „Ich darf das nicht fragen“, sagte sie, als wir, ich ziemlich benommen, zu meiner Bleibe zurück über die Sandwege schritten, „aber: haben Sie gewählt? Ich wußte auch gerne, wen. Aber wenn Sie‘s mir sagen, dann schickt er Sie zurück - und mich auch.“ Sie mußte nicht erklären, wen sie mir „er“ meinte, und auch nicht, was mit „zurück“. „Für was denn wählen?“ fragte ich. Da kicherte sie, ja bekam sich gar nicht mehr ein vor Erheiterung. „Aber gut, daß Sie‘s mir nicht gesagt haben“, sagte sie zwischen zwei Wellen ihres wirklich kindlichen Kicherns. Wir standen bereits vor meiner Tür. „Darf ich heute nacht bei Ihnen bleiben?“ Da war ich wie gewarnt. Blumenmädchen, dachte ich. Parsifal. Sowas. Absurd, aber auch wieder passend. Nein, ich such mir Kundry aus. ‚Dienen, dienen‘ dachte ich. "Besser nicht", sagte ich. Das machte sie weder traurig, noch war sie erbost. Immerhin hörte die Kicherei damit auf. „Wie alt sind Sie?“ fragte ich. „Doch sechzehn, allerhöchstens siebzehn...“ „Fünfzehn“, sagte sie. „Finden Sie, daß es auf so etwas ankommt?“ Sie lächelte, wünschte mir eine gute Nacht und ging. Wenn ich nicht von meinem Jungen geträumt hätte, wäre ich geneigt, von einem libanesischen Traum zu sprechen, den ich gehabt. So aber ist mir völlig bewußt, daß alles real ist. Jetzt les ich dies erst einmal korrektur, dann wird Jamil hereinkommen, meinen Text durchsehen und ihn mich, hoff ich, unverändert einstellen lassen. Er ürigens ist es, der die Hazienda „Dschanna“ nennt, was eigentlich „Garten“ bedeutet: das Paradies in der Wüste. Auch an Argo war ich gestern noch. Läuft sehr gut, auch das, was schon vorlag. Deutlich: Coda. Ich werde mich von meiner Arbeit nicht ablenken lassen, nicht zur Gänze jedenfalls. >>>> Jamesville/Dschanna 3 Jamesville/Dschanna 1 <<<< albannikolaiherbst - Freitag, 27. Juli 2012, 10:05- Rubrik: Reisen
Das Höllental des Paradieses ODER Ein Samois im Libanon: Jamesville (1). Das Reise- und Arbeitsjournal des Mittwochs, dem 25. Juli, auf den Donnerstag, den 26. Juli 2012.7.26 Uhr: [Maison Cattechnian, 3.] Ich kann Ihnen keine Bilder einstellen, werde gleich erzählen, weshalb. Denn selbstverständlich habe ich welche gemacht, doch werde, wahrscheinlich bis zu meiner Rückkehr nach Berlin, nicht darauf zugreifen können. Das Bild hierüber, die berühmte Zedernlounge, fand ich im Netz. Auf das ich, unter Aufsicht aber, Zugriff habe. Auch dieser Text hier wird durch die Hand eines Zensors gehen, unter dessen oder der Aufsicht eines seiner Adjutanten ich ihn später einstellen darf. So wurde mir bedeutet. Man spricht hier nur Arabisch und ein Französisch, das ich aber meist nicht verstehe. Nur der Mann, der mich in der Zedernlounge empfing, konnte Englisch. Der Gräfin ließ sich nicht sehen, es gibt auch keine weitere Botschaft von ihm. Eine letzte, wenn man so will, erreichte mich in einem der für ihn typischen kleinen Billet-Umschläge direkt am Counter von Tegel, wo es erst eine gelinge Unsicherheit gab, weil man meine Buchung nicht fand. Das System liest das abgekürzte „von“ mit dem Punkt nicht, so daß ich immer als Vribbentrop eingespeichert werde; das klärte sich dann schnell, weil ich diesen Umstand schon gewohnt bin, aber mich weigere, den Prädikatszusatz auszuschreiben. Sowas tut nur, und muß es, der Kaufadel. Ich meine, w e n n man mich schon unter meinem Herkunftsnamen einbucht und nicht dem, unter dem ich für gewöhnlich lebe und arbeite. Doch vielleicht, vermute ich, will Le Duchesse auf diese Weise wenigstens abstammungstechnisch Verbundenheit herstellen; irgend einen Narren scheint er an mir ja gefressen zu haben. Na gut, nebensächlich. Ich war überpünktlich am Flughafen, schon um acht, obwohl ich diesmal nicht viel Gepäck dabeihab; der Rucksack ist leicht. Sind ja nur fünf Tage, und meine Surfs hatten ergeben, daß es im Libanon, wie auch zu erwarten, warm sein würde. Gegen 14 Uhr stand ich dann auch in den Gängen des Rafic Hariri Airports, dessen wenn auch nicht ganz so riesige Anlage sich durchaus mit Frankfurtmains vergleichen läßt; was ich so ebenfalls erwartet hatte. Es galt nur noch, die Zedernlounge zu finden. Ich mußte meinen Reisepaß vorzeigen, um eingelassen zu werden, dann aber war das problemlos. Etwa eine halbe Stunde saß ich herum, knipste, was das Zeug hielt, notierte banale Auffälligkeiten. Dann wurde ich angesprochen. Ein sehr arabisch gefärbtes Englisch von einem Araber, Libanesen wahrscheinlich, im Business-Anzug, ein weltlicher, nach Geld wirkender, durchaus hochgewachsener Mann, glattrasiert, Brille, das kurzgehaltene dunkle Haar wich schon von der Stirn zurück. Immerhin sprach er mich als „Mister Herbst“ an, nannte mich zwischendurch aber immer mal wieder „Monsieur“. Er bitte dafür um Entschuldigung, daß er sich verspätet habe, „all the traffic“, „tra:fik“ sprach er das aus, ich möge ihm bitte folgen. Ich bemerkte sie sehr wohl, die beiden Gorilla, die uns - also, zu seinem Schutz, wohl ihm - folgten. Sie verstellten sich auch nicht sehr. Mein Eindruck ist, daß hier vieles ganz offen gehandhabt wird, aus dem man in Deutschland Gewese machte. Die Gegenwart von Gewalt, Bereitschaft zu Gewalt, und nicht nur aus jüngsthistorischen Gründen, ist direkt unter der Haut spürbar; im arabischen Raum begegnet mir das immer wieder. Ich bin darauf gefaßt. Nicht gefaßt war ich darauf, mitten im Libanon in ein Stück vergangenen Europas zurückgebracht zu werden. Das hat für mein Empfinden einiges von einer Zeitreise. Man erklärt mir nichts, wenn ich frage, wird geschwiegen, doch immerhin gelächelt. Draußen wartete eine Limousine; ich kenn mich mit Fahrzeugtypen nicht aus, aber es war ein BMW, in dessen Fonds ich gebeten wurde. Ich stieg ein, der Fahrer fuhr los, neben ihm Mr. Jamila, doch ich bekam von der Fahrt überhaupt keinen Eindruck, weil die Scheiben so abgedunkelt waren, hatte allerdings, als ich einstieg, im Augenwinkel den Eindruck, daß die beiden Gorillas in einen Wagen hinter uns stiegen, der uns wahrscheinlich folgte. Zu fotografieren wäre jedenfalls sinnlos gewesen. Auf völlig unspektakuläre Weise ließ man mich im Wortsinn im Dunklen darüber, wohin es eigentlich ging. Allerdings, wir hatten die Stadt längst verlassen, ja waren meinem Gefühl nach gar nicht erst in sie eingefahren, sondern auf einer, wahrscheinlich, Umgehungsautobahn um sie herum, - indessen, nach ziemlich genau anderthalb Stunden, machten wir eine Kaffee-, bzw, Teepause an einem Komplex aus Tankstelle und Rasthaus. Die Gorillas waren durch die offenen Scheiben des durchaus gut besuchten Restaurants nicht mehr zu sehen, aber es standen einige Wagen auf dem Parkplatz herum, in einem von denen sie gut und unauffällig hätten sitzen können. Jedenfalls bat mich Mr. Jamila, weiters in seinem arabisch prononzierten Englisch, um mein Ifönchen. Ich möchte bitte Verständnis haben... der Chip... Man werde mir das Gerät bei meiner Rückreise unangetastet zurückgeben. Mehr erklärte er nicht. Ich hatte sofort das Bild aus Ramallah wieder vor Augen, als wir, eine Gruppe von Journalisten, Kulturanthropologen, Soziologen und ich, bei unserem Besuch Arafats ebenfalls die Handies abgeben mußten... da lagen sie dann, alle ausgeschaltet, in einem abgesperrten Vorraum in Reihe, zehn oder zwölf. So protestierte ich nicht, sondern reichte ihm das Telefonchen. Er steckte es, wobei er Dankesehr sagte, in die rechte Tasche seines dunkelanthrazitnen Jacketts. Dann ging es weiter, ungefähr noch einmal anderthalb Stunden. So daß ich am späten Nachmittag im Paradies war. Ich stelle mir das so vor: Der Libanon war bis 1941 französisches Mandatsgebiet, das Französische hat nach wie vor, las ich, großen Einfluß, Beirut galt einmal als Paris des Ostens - warum sollte nicht in diesem - gemessen an den nur rund vier Millionen Einwohnern (Berlin allein hat dreieinhalb!) - riesigen Terrain, zumal hier in den Bergen, ein französischer Privatbesitz geblieben sein, eine Art persönliche Miniaturkolonie des Gräfins mit, wie ich fantasiere, ganz eigener Gesetzgebung, die feudale, nämlich monotheistische Grundzüge trägt, vielleicht nicht nur Gundzüge... - oh ja, wenn er das liest - und er wird es lesen, bevor ich es einstellen darf -, wird ihn das vergnügen! Aber man läßt mich auch wirklich mit meinen Spekulationen allein. Zu deren Eigenschaft gehört, daß ich nicht einmal sagen kann, wo genau dieses Besitztum liegt. (Zum Beispiel darf ich nicht googlen... ich solle es gar nicht erst versuchen, bedeutete mir Monsieur Jamil; Google maps, zum Beispiel, wär mir äußerst hilfreich. Nein, es solle, so Jamil, die geographische Lage Jamesvilles nicht bekannt werden, Monsieur Le Duchesse lege äußersten Wert darauf. Doch wenn ich mich an die Spielregeln hielte, wäre das ganz gewiß nicht von Nachteil für mich. Wobei er süffisant lächelte.) Beschreiben darf ich die Liegenschaft aber. Das Areal besteht aus viel Fels, die fünfsechs, deutlich europäisch wirkenden Gebäude, darunter eine Art Hazienda, liegen im Tal, das offenbar künstlich bewässert wird, denn es gibt einen höchstgepflegten Golfplatz. Es gibt sogar ein Wäldchen - sind das die berühmten Libanonzedern? Ich werde fragen. Eine agrarische Sektion, also eine Art Hof mit kleinen Traktoren, Stallungen vielleicht (Pferde? aber ich sah noch keines), doch nur wenige Menschen waren bisher zu sehen; hin und wieder ging ein Araber den Weg entlang, das sah aber nicht wirklich so aus, als hätte er etwas arbeiten wollen oder gar müssen. Den rechten Hang hinan noch ein paar flache Würfelhäuser, eines hat ein niedriges Minarett - rechts, das ist, dem Sonnenstand nach zu schätzen, Westen. Gesindeewohnungen also? Doch stimmt nicht, was ich eben schrieb. Ich sah andere Menschen, einige, aber eben erst abends, hier. Denn - es gibt das Frauenhaus. Nur will ich nichts vorwegnehmen, sondern in der Chronologie meiner Wahrnehmung bleiben, der meiner Reise und Ankunft. In einem zweistöckigen Haus bin ich untergebracht, das man eine Villa nennen könnte, wäre es nicht aus grauen, fast groben Steinen errichtet und machte ebenfalls einen bäurischen, aber europäischen, nordeuropäischen Eindruck. Das aber nur außen. Die Innenausstattung ist geradezu liebevoll und sehr durchdacht, zugleich auf bestem technologischen, will sagen: auch hygienischen Stand, wobei die untere Etage aus einem einzigen Raum besteht, einer Wohnlandschaft, würde Schöner Wohnen das nennen; Küche integriert (nur woher nimmt man die Ingredenzien, um zu kochen? sieht alles komplett unbenutzt aus), die sogar zwei Herde hat: einer wird mit Elektrizität, der andere mit Gas betrieben; acht (!) Flammenstellen insgesamt. Der Wohnbereich selbst tatsächlich pseudokolonial: dunkel gebeizter Bambus: Tische, Stühle, sogar die Schränke. Teppiche auf den Böden: ich mag gar nicht mehr anders, als barfuß zu gehen... seit ich‘s gestern abend zum ersten Mal tat. Man macht sich keine Vorstellung von dieser Weichheit unter den Sohlen. Man könnte auf diesen Teppichen schlafen. Vielleicht werde ich das in einer der kommenden Nächte auch tun: mir einen Teppich auf die Terrasse ziehen, dort mich legen unter das Sternenzelt. - Es war eine spektakuläre Nacht, gestern, als ich hinauf ins All geschaut habe und „Schöpfung“ denken mußte - Doch, wie geschrieben, der Reihe nach - Das Abendessen war, ohne daß ich jemanden sah außer Jamil, in der Hazienda aufgetragen worden, es stand alles schon bereit, und ich blieb, nachdem Jamil wieder gegangen war, ganz für mich allein. Aß, trank, sann erneut darüber nach, was mit der Prüfung gemeint sein könne, der ich mich zu unterziehen hätte - darüber hob sich der Vorhang aber erst spät, fast schon zu Mitternacht, nachdem ich noch einen kleinen Gang über das Gelände unternommen hatte, dessen teils Kies-, teils Sandwege von Laternen erleuchtet sind, sowie die Dämmerung einsetzt. Es war da fast völlig Stille, von Schreien von, wahrscheinlich, Tieren abgesehen, die aus der Ferne kamen, in der Ferne auch blieben, aber sich im Echo der Berge verstärkten. So kehrte ich denn in meine Bleibe zurück. Die Häuser sind nicht verschlossen, die Türen haben gar keine, auch nicht der Hazienda, Schlösser. Insgesamt ist das Gelände ungesichert, sofern es nicht, was ich vermute, bewaffnete Wachen gibt, in Unterständen. Aber, sozusagen, „nach außen“ wirkt es vollendet friedlich. Ich setzte mich an den großen Bambustisch, hatte schon, als ich mich einquartierte, die mitgenommenen Argo-Seiten herausgelegt, dazu den Bleistiftstummel, Radierer, Highliner, Lineal, und weil es hier absolut keine Unterhaltungsgerätschaft gibt, weder ein Radio noch einen Fernseher, wirklich gar nichts, auch keinen CD-Player, keine Boxen - ich habe auch nirgendwo, auch nicht in der Hazienda, eine Zeitung gesehen, - weil dem so war, dachte ich, vielleicht noch eine Seite durchzukorrigieren, konnte mich aber nicht konzentrieren und ging ins obere Stockwerk, um mich zu duschen und dann schlafenzulegen. Als es klopfte. „Ja bitte?“ In der Tür stand eine höchstens sechzehnjährige Frau mit einem so anrührenden Lächeln, daß ich sie wie eine Erscheinung ansah, und bat mich mit ihrer hohen, aber in keiner Weise flachen Stimme, ihr zu folgen - zumal in völlig akzentfreiem Deutsch. „Jetzt?“ „Jetzt.“ Das war sehr entschieden. (Oh, ich soll unterbrechen. - Jamil. Netzzeit sei nur von von halb elf bis elf. - Ich melde mich später wieder. Libanonzeit ist der unseren eine Stunde voraus. Hatte ich ganz vergessen.) >>>> Jamesville/Dschanna 2 Der A n l a ß <<<< albannikolaiherbst - Donnerstag, 26. Juli 2012, 09:37- Rubrik: Reisen
Abschied von Amelia. Im Reisejournal des Montags, dem 16. Juli 2012.albannikolaiherbst - Montag, 16. Juli 2012, 07:55- Rubrik: Reisen
Es tut den Menschen aber gut: Der Schnee am Kilimandjaro im, weil es immer noch lottert und das auch darf, zögernden Arbeitsjournal des Innitalien-Sonntags, dem 15. Juli 2012. Mit einer kleinen triskelischen Reflektion und ihrem Satz „Ich will“. Sowie: Der Pflichtschenk am Abend.8.34 Uhr: [Casa di Schulze, Amelia, vorderer Küchentisch.] Es gibt hier im Ort, der kein Kino mehr hat, einen kleinen Filmclub, getragen von vierfünf Personen (früher hätte man „Honoratioren“ gesagt, allerdings besonders von einem noch jungen Mann vorangetrieben), und dieser Club, zu dem auch mein Übersetzerfreund gehört, zeigt einmal pro Woche entweder in der Pizzeria einen Film, die ohnedies eine Kernstelle intellektueller Kommunikation ist, oder aber im offenen Kreuzgang des kleinen Klosters, das heute ein städtisches Miniaturmuseum beherbergt. Dort auch, sonnabends, findet vormittags ein ökologischer Kleinmarkt statt, gestern mittags mit Umtrunk und Häppchen, und im Sommer, jetzt, gibt es ein kleines Filmfestival. Die Filme werden meist in italienischer Synchronisation vorgeführt, sofern sie englischsprachig sind, auch in der Originalsprache mit, selbstverständlich, italienischen Untertiteln. Der Club hat sogar eine 900 Euro teure transportable Leinwand gekauft, die sich nach und nach aus den Mitgliedsbeiträgen und den Eintrittsgeldern (rührende 5 und 4 Euro) finanzieren soll, wiewohl das Programm selbst an die vergangenen linksdeutschen Zeiten der Programmkinos erinnert, sogar Jürgen Vogels >>>> Die Welle („La Onda“) ist dieses Jahr dabei. Der Filmclub, mehr ein Zirkel wohl, setzt entschieden auf Qualität und auf - ja, Engagement. Gestern abend nun wurde Robert Guédiguians >>>> Les neiges du Kilimandjaro gezeigt. Der Freund nahm mich mit hinunter. Da es ein französischer Film ist und sich Italiener allgemein mit anderen Sprachen eher schwertun, lief er rein auf Italienisch, was für mich wiederum bedeutete, innere Assoziationsleistungen zu vollbringen. Und es funktionierte; ich bekam tatsächlich vieles mit, die Grundgeschichte sowieso, die eine nach wie vor, auch wenn wir‘s beinah vergessen haben, drängende Frage stellt, nämlich die nach dem Verhältnis von Recht und Moral, Gerechtigkeit und Verstehen, sowie, darunter laufend, von Kriminalität und Ursache. Es wird laufend nach den Gründen gefragt, und zwar auch dann, wenn die Fragenden selbst geschädigt wurden. Das ist mit einer tiefen Menschlichkeit inszeniert, nahezu alle handelnden Figuren sind bei Guédiguian nicht solche, sondern Personen, was sicherlich auch daran liegt, daß dieser Regisseur immer wieder, wie Faßbinder, Cassavetes und viele andere taten, mit denselben Schauspieler:innen arbeitet. Dabei erfüllt ihn eine utopische Sentimentalität, von der man meinen könnte, sie grenze an den Kitsch - etwas, demgegebenüber ich an sich scheue; und dem Freund ging es auch so: „Wenn solch ein Sozialdrama so mit Happy-end ausgeht“, sagte er, als wir die alten, von dem gelben Licht der an den Hauswänden angebrachten Laternen viertelserfüllten Gassen hinanstiegen, „dann sperre ich mich, weil das doch irgendwie verlogen ist.“ Da ging mir unversehens ein Satz über die Lippen, den ich so noch niemals ausgesprochen habe und auch nie hätte aussprechen wollen, jetzt aber sprach e r sich: „Aber es tut den Menschen gut.“ Darüber dachte ich nach, als ich vorhin früh mit meinem ersten Latte macchiato wieder in der braunrot-hölzernen Eingangstür auf den drei Stufen zum Cortile saß, meine Mrogenpfeife rauchend, daß es an diesem Sentimentalen etwas gibt, das wir Menschen brauchen, ganz egal, ob es der Realität entspricht. Ja, eine andere Realität könne nur werden, dachte ich, wenn wir diese Art Hoffnung nicht verlören. Sei es denn nicht genau das, was die Kirchen, noch immer und gegen jeden Geist, so mächtig mache? Ist es denn nicht so, daß uns der graue Realismus, seine geradezu fetischisierte Negativität der Verhältnisse imgrunde - schwächt, weil sie der realen Aussichslosigkeit noch die permanente Wiederholung einer imaginären hinzufügt? So daß, aber das sah bereits Ernst Bloch, sogar in manchem Kitsch mehr utopische Kraft steckt als in irgend einem Schauspiel Samuel Becketts. Was also ist vorzuziehen? Ich denke noch immer darüber nach. Denn es hat Implikationen auch und gerade für die Ästhetik, also die Künste, für also auch meine eigene Arbeit. Um die ich mich langsam wieder kümmern muß. Mehr, vielleicht, nachher noch. Weil ich im Moment zudem von meinem Schwanz getrieben bin; so gehen Nachrichten hin und her, die an stiller Raserei ihresgleichen suchten, wenn sie sich zugeben würden und nicht nur in die Tasten tippten, noch freilich, wie zu konzedieren. Doch weiß ich entschieden, wer ich sexuell b i n: Wobei ich, seit ich dieses Zeichen trage, immer wieder eine spannende Erfahrung mit ihm mache. Wer es nicht kennt, fragt, und ich kann dann, ohne am Hosenstall auch nur herumzufingern, frei und kulturvoll erzählen: Sizilien, die Isle of man, die Matriarchate, die drei Lebensalter... einen ganzen Abend könnte ich damit füllen. Wer es aber kennt, weiß sofort genau. Das gibt mir sehr viel Freiheit. Nur einmal kam es zu einem Mißverständnis, das mir noch lange nachging: „Ist das so ‘ne Art Hakenkreuz?“ fragte ausgerechnet >>>> Daniel Böhmer, der aus einer jüdischen Familie stammt. Da hätt ich ihn beiseitenehmen und ihm erklären müssen. Tat ich nicht, weil‘s eine Art Schock war. Tatsächlich wird die Triskele auch von rechten Gruppen verwendet, was mehr als ärgerlich ist - aber nicht auch noch dieses Symbol will ich ihnen kampflos überlassen, nachdem die Hitlers bereits eines der tiefsten Symbole Indiens für wahrscheinlich immer geschändet haben. So viel einmal wieder - meine Arbeit beginnt - zur Ambivalenz. Zu meiner erotischen Dominanz will ich getrennt detaillierter schreiben, denn mein positives, das heißt aktiv wollendes Einverständnis mit ihr scheint mir unterdessen die Grundlage für den Melusine-Walser-Roman zu sein, seit ich ihn ganz anders konzipiere, als ursprünglich gedacht war. Die Löwin hatte derart recht, als sie leise krittelnd bemerkte, ich sei nicht >>>> Aléa Torik. Jedenfalls, meiner cybertechnisch so losgelassenen inneren erotischen Rage halber, grummelte gestern nacht der Freund, als wir noch die kleine Feier hinter der Piazza besuchten und ich heimwollte, weil sie mir zu intim war - es beging eine ihm bekannte Frau ihren Geburtstag -, grummelte also, indem er dortblieb: „Du sitzt ja dann doch nur hinter dem Computer und tippst“. Momentlang Aufschuß eines schlechten Gewissens. Aber bin halt getrieben und aber begeistert von dieser Raserei--- daß sie mich immer noch erreicht und beseelt. Ich nenne diesen Zustand deshalb albannikolaiherbst - Sonntag, 15. Juli 2012, 18:05- Rubrik: Reisen
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