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Texte
Es gibt einen Zwischenraum, getragen von 8 Spinnenbeinen. Er bewegt sich hinter Zeitlupen. Zu langsam für ein menschliches Auge ihn zu erfassen. Zu schnell der Raum, in den es gewohnt ist zu blicken. Begehbar nur durch einen Steg, an dem er zu bestimmten Zeiten steht und ruht. Dann ist er sichtbar. Zwei nebeneinanderliegende Türen hat er, von gleicher Größe und gleicher Art. Beide sind sie weiß, mit einem blauen Karo in einer blauen Ellipse darauf. Sein Inneres ist rosig und warm. Kleine Spinnen sitzen auf den feuchten weiten Gewebswandungen, die, sich hinstreckend zu einer langen Passage, zu allen Orten zeitüberwindend in die Welt führen, die ich mir in Gedanken vorstelle. Städte, Wüsten, Berge, Seen, Wälder. Orte, die hinter immer neuen Spinnennetzen entstehen. Die den umschließen, der durch sie hindurchgeht. Feiner als ein Taucheranzug, angereichert mit einem stundenausbreitenden Sauerstoff. Es ist ein Raum verloren im Hier. Der Zeit, die ich ablege wenn ich ihn, durch die rechte Tür tretend, verlasse. Weil ich muss. Um mich wieder schlafen zu legen. Nahe meines Netzes. Hinter dem sich im Wind die Welt abspult.
read An - Sonntag, 22. September 2013, 20:44- Rubrik: Texte
(flüsternd zu lesen!)
Er ist immer da. An seinem riesig ungetümigen Rücken fällt hier viel ins Nichts hinunter. Weil er schneller ist als die, die auf den Gängen an ihm vorbeilaufen, während er dort unbewegt steht. Weil sie ihm an Zahl unterlegen sind. Wie aus geöffneten Seelen schreit es manchmal deswegen in den Häusern zum Himmel (und oft so leise). Nein, von ihm kann nicht die Rede sein, wenn er nicht mit dir über eine der Türschwellen tritt (denn das entspräche seinem eigentlichen Wesen). So bleibt nur: in eines der Zimmer zu gehen, die Tür leise zu schließen und zu hoffen, dass er es lange nicht bemerkt, seine Augen geschlossen bleiben und ihm so ein wenig unwiederbringbar genommen ist. Zumindest für einen Moment. Denn danach wächst er wieder. Steht grausam in den Gängen und rast.
read An - Donnerstag, 29. August 2013, 10:20- Rubrik: Texte
(...)
Natürlich sind heutzutage auch die Tische und Stühle, die nach der durchgesetzten Planbebauung statt der alten Liegestühle bereitstehen, immer zu schnell belegt, weshalb ich lieber früher komme, als verabredet ist, so daß ich den Vorteil wahrnehmen kann, oft bis zu einer ganzen Stunde, manchmal sogar länger, alleine für mich und von Meises Erregungen, auf die ich mich damit vorbereite, ungestört zu sein, so daß ich meine Beobachtungen anstellen kann, vor allem von Frauen, bevor endlich auch er eintrifft, der, während ich die öffentlichen Verkehrsmittel nutze, meist mit dem Auto herfährt, weshalb es, wenn er angekommen ist, oft noch eine Viertel- ja halbe Stunde zusätzlich braucht, bis er einen Parkplatz gefunden hat, womit er sich dann regelmäßig für die Verzögerungen entschuldigt, die aber ein Teil seiner, meine ich, Überspanntheiten sind, seines Blutes, möchte ich sagen, denn er kommt grundsätzlich zu spät, auch ohne Auto, weil er, so hat er mal behauptet, die Pünktlichkeit hasse, die man den Deutschen nachsagt, so daß er den Eindruck machen will, er wolle sie an sich selbst als eine falsche sozusagen Legende überführen, als eines dieser, so nannte er es gestern, Mißverständnisse, man komme um diesen Begriff gar nicht herum, wenn man von Deutschland spreche. Wie so viele Philosophen hat Meise, Sie merken es schon, eine wirkliche Meise, die sich bei ihm dankenswerterweise nicht nur in seiner Lebensfremdheit, sondern, so daß sogar Unvorbereitete gewarnt sind, auch in seiner Kleidung ausdrückt, für die er stark gemusterte Hosen voll bunter Karos bevorzugt, zu denen seine Jacketts auch deshalb niemals passen, weil er zudem Hemden mit dicken farbqueren Streifen trägt, welche seinen besonderen Bauch, gerade weil er ansonsten ein gelehrtentypisch hagerer Mann ist, ganz besonders betonen; er trägt ihn wie einen Ausstulp, den er, wie ich den bisweilen fiebrigen Eindruck hatte, abnehmen, vor allem aber öffnen könne, um darin zu verstauen und drin zu verschließen, was ihm, Meise, nicht angenehm ist, wozu Götter & Helden, 1934, ganz sicher auch gehörten, seiner Familie wegen, ich sagte das schon, die seinerzeit eine ziemlich böse Rolle gespielt, zumal die dem Buch beigegebenen ausgesprochen rohen Strichzeichnungen, von einem anderen Hans, Sauerbruch mit Namen, die Dimensionen des Bauches noch betonen, seine, sozusagen, ungeahnten Tiefen, wiewohl ich ihm, Meise, seine Verspätungsneigung als politische Inszenierung natürlich nicht abnehme, sondern eben meine, daß es sich schlicht um einen Zug seines Charakters handelt, um professorale Zerstreutheit, wenn Sie so wollen, die aber nicht ohne eine gewisse Nachlässigkeit gegenüber dem Freund ist, doch eben kein böswilliger, sondern allenfalls versponnener Tick, man könnte sogar Spleen dazu sagen, nicht jedenfalls, wie er vorgibt, Ausdruck einer bewußten politischen Provokation, die mit den, wie er das nennt, Mißverständnissen aufräumen will, in diesem Fall dem speziellen unserer, führte er aus, deutschen Pünktlichkeit, als am Nachbartisch zwei Freundinnen Platz nahmen, Mexikanerinnen vielleicht, vielleicht Argentinierinnen, Frauen jedenfalls romanischer Herkunft und jung, vor allem aber schön, so daß ich immer wieder hinsah und, während Meise plötzlich von Tragik sprach, was eine für ihn typische Übertreibung war, für die er sogar schon die Stimme hob, weil ihm jeder noch so banale Anlaß Grund zur Dramatik werden kann, den Blickkontakt aufzunehmen versuchte, so daß wirklich eine von beiden aufmerksam wurde und hersah, was mich derart durchzuckte, daß ich die Augen senken mußte und gar nicht richtig mitbekam, wie es Meise fertigbrachte, die mir nun tatsächlich eigene Pünktlichkeit, und Pünktlichkeit an sich, in eine an sämtlichen Haaren und Schöpfen, die in der Strandbar zugegen waren, herbeigezogene Verbindung mit den anderen von ihm so genannten Mißverständnissen zu bringen, zum Beispiel mit der deutschen Exaktheit oder dem, Sie lesen richtig, Sauerkraut, das, ereiferte er sich, als Choucrout doch mindestens ebenso Bestandteil der französischen wie der deutschen Küche sei, ja, Boudin zu Choucrout sei geradezu eine besonders Pariser Spezialität, und überhaupt habe es sich bei Deutschland noch nie um eine Nation gehandelt, sondern um einen, das rief er für alle hörbar und wie wenn er das Wort beschwören wollte: Kulturraum!, den mit einer Nation zu verwechseln sowieso schon Grund des Furchtbarsten gewesen sei, beziehungsweise, sagte er, es als eine Nation zu, sagte er, dekretieren. All das zwischen den trinkenden Gästen, die teils amüsiert, manche aber auch gestört zu uns herübersahen, und zwischen den Flaneuren und den Besuchern des hölzernern Amphitheaters, das Volpone spielen wollte, von Shakespeares Konkurrenten Johnson, dem, also jenem, holte Meise ohne Übergang aus, Roland Emmerich mit Anonymous ein wirklich großartiges Denkmal gesetzt habe, eines, das sich zu einem Nationalbewußtsein nun wirklich besser geeignet hätte und, wäre der Dichter nicht leider ein Brite gewesen, immer noch eigne als ausgerechnet die Nibelungen, die doch nichts anderes seien als die rohe Verherrlichung von Gewalt, ein, sagte er, Thrillerstoff, der Recht dem schlimmsten Schläger gebe, sofern er außerdem noch Betrüger sei wie – es war mir überhaupt nicht recht, daß Meise, weil er noch immer lauter wurde, uns derart auffällig machte – George W. Bush!, rief Meise, wobei mir schon der Zusammenhang nicht klarwar, nicht der zu diesem Altpräsidenten, den, sagte Meise, Wagner schon deshalb nicht hätte entlasten können, wenn es einen solchen Bush zu seiner Zeit schon gegeben hätte, nämlich weil der Mann viel zu alt gewesen wäre, viel zu wenig blond, rief Meise, um sich für einen Siegfried zu eignen, und als ein möglicher Ludwig zu wenig phantastisch und ohne jedes Kunstverständnis, das, sagte Meise, nicht ohne die Gnade auskommen könne, indessen er, Wagner, diesen selbst, Siegfried, so dumm gemacht habe, daß sich der Betrug ihm - noch gar, wie Hagen, Tückischkeit – nicht einmal verübeln lasse; (...)

albannikolaiherbst - Montag, 12. August 2013, 10:13- Rubrik: Texte
“Weißt du, Kind, was Jesus gesagt hat. Du mußt es dir merken. ‚Weide die Schafe‘; er hat es zu Petrus gesagt. Ist ein Schaf ein vernünftiges Tier? Das mußt du dich fragen. Ein großer Mann, der unserer gesegneten Gesellschaft angehörte, hat viel darüber nachgedacht. Jesus hat nichts von sich gegeben, as belanglos wäre. Die Schafe sind unvernünftige Tiere, sie sind vielleicht die unvernünftigsten. Sie haben Triebe und Begierden und weiter nichts. Du siehst, wie Jesus von den Menschen gedacht hat und welche Aufgabe er der Heiligen Kirche zuerteilte. Wir sollen sie führen und weiden, wir wollen wissen, wen wir vor uns haben; wir sollen also keine Leithammel sein. Petrus nahm den Hirtenstab und übte das Hirtenamt. Weißt du, mein Kind, wer wohl als Leithammel zu betrachten ist?“ „Nein, Ehrwürden.“ „Nun“, er flüsterte, „wir sind ja nicht weit vom Schuß. Es sind die Fürsten, Könige und Kaiser. Sie sind der Kirche danach untertan, ja eigentlich ihr Eigentum; denn was kann der Herde besser geschehen, als daß der sachkundige Hirt sie besitzt. Aber es ist eine Verwirrung eingetreten, die Gewalt triumphiert; kaum daß sich unser Heiliger Vater in seinem Leben gegen die wildgewordenen Lämmer behaupten kann. Ach, wir haben noch viel Arbeit vor uns, mein Kind. Frei dich deiner jungen Knochen.“
Als der Alte seufzte, meinte der andre leise: „Lange bleibt der Kaiser aus.“ „Wir werden warten“, seufzte der Alte. Nach einer Weile: „Ein sonderbarer Schlag Mensch, ein Fürst. Sie sind etwas für sich. Das Volk spürt es. Als Priester wirst du deine besondere Meinung über sie haben, Kind. Sie sind fast die schlimmsten der Unvernünftigen. Es ist gewiß, daß die Menschen von Natur frei sind. Ist ja doch jedes Lamm und Schaf, jeder Hund frei; er kann laufen, wohin er will. Und der Hirsch, die Wanze, der Floh. Warum nicht der Mensch? Frei bleibt der Hirsch aber nur, solange es keinen - Jäger gibt. Eine Muskete überredet den Hirsch, seine Freiheit aufzugeben, eine Muskete hat große Überzeugungskraft. Was die Könige Herzöge und Grafen in ihren Ländern tun, ist von dieser Art. Das wirst du einsehen. Wenn ich einen Hirsch einsperre, so übe ich damit kein Recht, sondern eine große Geschicklichkeit.“ „Warum läßt Gott dies zu?“ „Du bist nicht töricht, mein Kind. Gott ist noch nicht an der Reihe. Weil die Fürsten die Gewalt haben, glauben sie die Vernunft, den göttlichen Gedanken entbehren zu können. Niemand ist so Verwirrungen ausgesetzt wie ein Fürst. Sie verlieren den Boden unter ihren Füßen und rennen ins Leere. Ihre Völker können sie mit sich ziehen. Wir müssen uns der Fürsten bemächtigen, und wenn uns das nicht gelingt, der Völker. Wir dürfen nicht nachgeben und vor nichts zurückschrecken. Nur die Heilige Kirche wird die Menschheit von dem Abgrund zurückhalten.“
Vor einem hohen Wandbild blieben sie verschnaufend stehen; auf dem Schoß der blaumanteligen Jungfrau spielte das Kind mit einem goldenen Buch. Sie stockerten weiter. Der Alte wies rückwärts mit dem Daumen auf das Bild: „Das Buch. Das Buch. Damit glauben nun unsre Schäflein zu haben, was sie brauchen. Jetzt sind sie die Herren. Wer lesen kann, hat Zugang zu Gott.“ „Das ist ja Ketzerei.“ „Nun, hast du einmal nachgedacht darüber, wer schuld ist an der Ketzerei? Luther? Huß? Ei was. Sie sind Betrogene. Es sind alberne flache Köpfe; es reicht bei ihnen nicht zu einem Betrug. Das Buch. Was war Sünde, uns ist es längst klar, die Schrift Laien preiszugeben, sie überhaupt schreiben zu lehren. Die heiligen Worte heilig zu halten, wäre wichtiger als alles andere gewesen. Die heiligen Worte hätten von Papst zu Papst mündlich überliefert werden müssen, und niemand hätte von ihnen hören dürfen, als die der Papst heranzog. Von diesem Baum der Erkenntnis können einfache Menschen nicht essen.Nun ist das Unheil geschehen, und was ist die Folge? Die Massenketzerei. Sie fußen auf der Bibel. Hast du das einmal gehört von den Prädikanten: auf der Bibel? Diesen Tonfall? Das klingt so stolz, als wenn einer sagt: das hat Lamez gelehrt, das hat Vitelleschi gefordert. Sie können, mein Sohn, ebenso sagen, sie fußen auf der Natur, der Tierwelt, den Sternen, auf den Kristallen, den Meerfischen, dem Schindanger. Denn was ist gesagt mit: Bibel? Ein Manuskript voll von Sätzen, von Silben, Buchstaben, Schriftzeichen, hebräisch griechisch lateinisch. Meine Augen gleiten darüber hinweg, ich finde dieses Wort, jenes, zähle zusammen l-o-g-o-s, es gehört schon ein Entschluß dazu, logos zu sagen. Ich steige, kaum ich meine Augen bewege, ins Geistige - die geschriebene Bibel verschwindet. Mein Geist herrscht.“ „Ehrwürden hält nichts von der Heiligen Schrift?“ „Die Heilige Schrift nichts? Freilich. Wenn du stark bist und nicht erschrickst, Kind: sie ist in gewisser Hinsicht nichts.“ „In gewisser Hinsicht?“ „Eine Papiersammlung, ha, du brauchst nur einen Indianer fragen, ob ich nicht recht habe. Jeder Vogel wird es dir bestätigen. Male die Buchstaben der Bibel auf eine Sammlung Lebkuchen, gieße sie mit weißem Zucker genau nach dem Urtext; du wirst eine Kuh als natürliche Autorität hinzuziehen - sie soll dir sagen, ob das die Bibel oder Lebkuchen ist. Sie frißt das ganze Paket auf und du darfst dann kein Wunder von dem Tierdarm erwarten; was die Kuh später von sich gibt, ist ein Kuhfladen wie jeder andere. Verzeih - ja, du lachst, Kind - ich will nur sagen, diese lutherische Kuh hat brav gehandelt, aber sie ist auch trotz des lutherischen Bekenntnisses unsre gute Kuh geblieben.“ „Ich verstehe.“ „Und machen wir erst diesen Schritt, so machen wir alle. Dieser Buchstabenglaube, sag ich dir, ist ein Rückfall ins Judentum. Weh dem, der glaubt, weil er zwei Füße hat, er könne auch alleine aufstehen. Unser Glaube hat Freiheit, der Heilige Geist hat die Evangelien diktiert, er ist mit dem Papst. Nur mit dem Heiligen Geist ist die Freiheit. Wir werden ernstlich einmal darangehen müssen, der Kirche und dem Papst die Bibel wieder zu erobern; wir müssen die Schafe vor dem Wahnsinn und dem Tod schützen.“
Gänge, Türen, Treppen,. Sie stiegen ernst über die Holzdiele. Hinter den Fenstern des Erdgeschosses saßen sie, blickten in den Wald hinaus. Sie warteten, Ein Diener brachte ein niedriges Tischchen mit Äpfeln und Zuckerwasser. Der Novize öffnete vor dem Priester ein Fenster. Erfrischende Luftströme.
Alfred Döblin, Wallenstein >>>> S. 695 ff.< 
Wallenstein 2 <<<<
albannikolaiherbst - Freitag, 27. April 2012, 06:56- Rubrik: Texte
Der Kaplan rief: „Maria!“ Tilly sah entsetzt, wie er die Lippen bewegte.
Furchtbare Hammerhiebe aus den Wolken. Mit jedem Hieb zuckte er zusammen. Den Atem benehmend; er war der Amboß. Was sagte der Kaplan. Er mußte wissen, was der Kaplan sagte.
Dumpf wetternd, zermalmend, niederklafternd.
Niederklafternd.
Zusammengezogen lag er, auf die Seite gestoßen.
Verröchelte, die Arme schützend vor der Brust.
Da löste sich das Gespensterheer von dem warmen blutsickernden kleinen Körper. Zappelnde Rümpfe der gemetzelten Türken Franzosen Pfälzer, die jaulenden hängenden zertetenen Hunde, kletternden Pferde, die mit den Hufen an sich hielten. Zwischen ihnen gezogen matt, noch naß, seine eigene erstickte Seele.
Verknäult flogen sie, unaufhörlich rufend, durch die verschneite Luft, ihrem dunklen Ort zu.
Alfred Döblin, Wallenstein >>>> S. 571.< 
Wallenstein 1 <<<<
albannikolaiherbst - Dienstag, 24. April 2012, 22:19- Rubrik: Texte
Aus seinem Bau, um den herum er mit Schonung fraß, stöberte das bayrische Heer den Bastard von Mansfeld. Von da strömte ihm, wegweisend, pestilenzialischer Geruch entgegen. Eine Seuche war in den Lagern der Beidhaus ausgebrochen, hatte sich mit Werbern Furien Streifkorps beutemachenden Tummlern blitzartig durch die Wälder und Berge verbreitet, zuckte unter Bauern und Knechte, gepanzerte Kürisser Musketenträger. Aus den Tümpeln stieg die Brut der Mücken und Stechfliegen. Unter der schilfdurchstochenen Oberfläche der Wasser, dicht am Spiegel, hingen die Millionen Larven wie herrenlose Naturtrümmer, gleichmäßig Luft saugend durch ihre kleinen Atemröhren. Dick schwoll ihr Kopf an, hob sich über den Spiegel, die Schale zitterte, knisterte, spannte sich, riß über der Schläfe, seitlich; langsam drängte sich das lange, junge Gebilde durch, eingelegt Fühler Glieder Flügel, rastete, sich spreizend, auf einem Blatt der Wasserlinse, hing flügelspannend großbeinig an einer Schilfscheide. Surrte in der Dämmerung aus. Die Luft mit Zirpen und feinem hohen Singen durchadernd. Spürsame suchende Mücke mit schwankendem Ringelleib, vor sich zwischen hauchartigen Fühlern gerade ausgestemmt den langen Stechrüssel, der wie ein Spieß steif auf dem Köpfchen wuchs, vor dem Prellbock des klobigen Brustwürfels. Das trug sich tausendfach, zehntausendfach, millionenfach durch die Abendluft mit gläsernen Flügelchen. Setzte sich an den Mund, an die Stirn, auf die Hand, die >>>> ein Brot brach, an den Hals, zwischen den geschnittenen Bart des Kornetts und Rittmeisters und die venezianischen Kragen. Riß sich einer, vom Pferde springend, schweißbegossen das Wams auf, kühle Luft gegen nasse Brust gehen zu lassen, so krallte sich das kleine Flügelwesen ungesehen an die warme Haut, sog ein Tröpfchen Blut, speichelte im Biß ein Tröpfchen Gift ein. Dann konnten die Soldaten auf ihre Jagd gehen, die Leute an Torsäulen und Brunnen aufhenken, das Vieh forttreiben, gewaltig prassen -, inzwischen liefen die Fieber durch ihre Körper, Abend um Abend, verwandelten ihr Blut in einen tropischen Sumpf, Kornetts mochten brüllen, den sauren Wein dieses Jahres in Kannen schlucken, gefahrdrohend auf ihren Gäulen vor hundert Mann durch die stillen schornsteindampfenden Dörfer segeln, Leder vor der Brust, dichtmachende Papiere um den Hals, breitbackig und heiß auf den übersättigten Tieren: es vibrierte in den Knien, der Koller mußte herunter, die Waden waren schwach, vor den Augen flimmerten Regenbogen; das Frieren und Zähneklappern fing an, die Nacht lag man im Heu, im Bett, drohte heiser, als wäre nichts, und tags darauf war man schwächer, von Ritt zu Ritt gespenstischer. Und das fiel über die Obersten, die Pikeniere wie über die Huren und ihre Weibel. Die Seuche tötete nicht viele. Wen sie befiel, den machte sie schwach und noch rasender, als er schon war. Wer starb, verweste, wo er fiel. Gelb, schwach lachend ging man umeinander in der Hitze.
>>>> S. 92/93.<  >>>> Wallenstein 2
albannikolaiherbst - Samstag, 14. April 2012, 08:39- Rubrik: Texte
 Der Schnee schmolz noch in den Senken; auf den weiten Heideflächen aber dampfte es von Wärme und Feuchte. Die ersten Zugdrosseln würmten im Espenlaub um den alten Trollberg, der seine heidebedeckte düstere Kuppe über den weiten Horizont hob. In einem Dickicht von Eichengestrüpp und Bergfichten auf ödem Felde schleckten kleine blaue Anemonen Sonne; an anderen Stellen, wo das Fallaub von Jahrhunderten die Erde in fruchtbaren Humus verwandelt hatte, segelten in dem Ozean welken Laubes ganze Flotten der blauen Blume. Jetzt öffneten sie die Blattkelche, die Blütenblätter bogen sich in Schirmen über die Stengel – es war hoher Vormittag:
Da raschelte es in den vielen Spalten und Löchern rings auf dem Trollberg; aus der sandigen Tiefe des alten Hünengrabes wurde ein verdrossener Kahlschädel nach dem anderen mit seiner spielenden Zunge sichtbar. Die Kreuzottern zögerten kurz, als horchten sie die Umwelt ab, oder kamen ihnen Luft und Licht im ersten Augenblick allzu stark und überwältigend vor? - bis sie die dünnen Stielhälse weiterreckten.
Brütend steht die Mittagssonne über dem Hügel, durchglüht seine von Nachtfrösten erstarrten Lenden und dringt zutiefst in seine regenüberspülten Fugen und Löcher – da scheint es auf einmal, als öffnete sich der Trollhügel: Kreuzottern in den verschiedensten Größen und vielfältigsten Farbtönen wimmeln hervor; wenn aber die Sonnenstrahlen sie treffen, flammen sie alle in ihrem dunklen zickzacklaufenden Rückenband auf. Die Tiere finden trockene Stellen rundum im Heidekraut an den kahlen Stellen, die von den Schafen niedergetreten sind, und rollen sich in Behagen zusammen wie ein aufgedrehtes Tau oder strecken sich arglos, das runde Schwanzende niederbaumeln lassend. - Der alte, feste Stamm der großen Heideschlangen ist aus der Winterruhe wieder zum Leben erwacht. Svend Fleuron, >>>> Tyss und Tuff
(1926: Erstausgabe Diederichs, hier nach dem TB, Sponholtz, von 1959).
albannikolaiherbst - Mittwoch, 21. März 2012, 09:45- Rubrik: Texte
Wir befinden uns auf der Jehangir Boman Behram Marg, ehemals Belassis Road, über dem Herzen der Stadt... was für ein Dreck, sag ich Ihnen! Was ein Gestank! Abgase! Scheiße! ...und diese Menschen! Autos!! Die Mietskarren! Mopeds!! Hunde Ratten - mein Gott: Insekten! Die Bollerwagen Trucks... Ich sah die langgestreckte häßliche dickstaubige Betonbrücke über den Geleisen von Bombay Central, Ruß und Abgas... auf dem Boden zu Seiten der Bordsteine Gemüsehändler Obsthändler; Orangen vor sich, Äpfel Bananen Okra Bohnen Reis... Alle müssen sie sich teilen, die indischen Straßen: Lastwagen Personenwagen die hunderttausend schwarzgelben Miniaturtaxis Ambassadors Fahrradfahrer Mopedfahrer Fußgänger Hühner Hunde Kühe Bettlerkinder heilige Pilger, genannt Sadhus, der Businessmann im Einreiher...Hinter uns Tardeo Chowk, mit neuem Namen Vasantreo Naik Chowk, Kreisverkehr, umbrandet, auf dem bißchen Grün schlafen drei Männer und strecken ihre dürren Beine von sich. Die Häuser gesäumt von... ja, was da rattert sind Zuckerrohrpressen. Probieren Sie den süßen Saft, wenn Ihr Magen das verträgt. - Das dort? Auf den kleinen Wackelstühlen? Ach so, die da, im Schneidersitz, dort, an der Pfütze... das... also das sind Ohrenputzer... daneben saßen Schuhflicker... jaja, ganz richtig, eine heilige Kuh , die der demütige Passant für ein paar Paisee berühren darf. Was bleiben Sie da stehen? Kommen Sie! Kommen Sie mit! Und passen Sie auf, wohin Sie Ihre Füße setzen! Auf diesen Straßen gilt das Recht des Stärkeren. - Dies alles war vor dreihundert Jahren noch Wasser. Was sagen Sie? Nein, nein, erst Ende des 17. Jahrhunderts wurde begonnen, dem Arabischen Meer Land abzugewinnen. Vorher ist Bombay nichts gewesen als eine unbedeutende Gruppe aus sieben Inseln. Bitte? Hupen. He! Paß doch auf! - Kommen Sie, hier rechts um die Ecke. Wir wollten doch sehen, wie Menschen leben. Na kommen Sie schon, Sie müssen keine Angst haben. Sie doch nun wirklich nicht! 13 Millionen, 5 davon ohne Obdach. Oder 500000, darüber wird gestritten. Planen schräg an Hauswände gespannt. Das sind Zelte. Da drin w o h n e n die Leute. Was denken Sie, wie‘s ihnen auf dem Land erginge? Sehn Sie den Bettler dort? Nein, das ist keine Lepra, Sie können näher ran. Na, geben Sie ihm was! Er hat hier die Chance, etwas zu kriegen, die hat er nicht auf dem Land. Sie verstehen nicht. Da kann ich Ihnen auch nicht helfen. Kommen Sie... kommen Sie schon!
albannikolaiherbst - Mittwoch, 31. August 2011, 17:59- Rubrik: Texte
Wer die Erde verachtet, wer die Ferne nicht liebt, wer kleinlich und pedantisch ist, wer Winkelzüge macht, wer unklaren Geistes ist. wer zweifelt, wer verneint, reitet schlecht. Wer geradeaus will, wer das Leben sucht, wer die Ferne liebt, wer Gebieter ist und zumeist Gebieter seiner selbst, wer gefaßt ist und in sich gesammelt, wer sich vertraut und klaren Geistes ist, mag gut reiten. Reiten ist ein unaufhörliches Jasagen und gerade dann, wenn du deinem Pferde etwas zu versagen scheinst.
Rudolf G. Binding
(Daß er die doch ganz offenbare Pikanterie des mitvermittelten Doppelsinns,
den man für den eigentlichen halten muß, nicht begriff,
zeigt, von welcher Naivetät >>>> dieser Schriftsteller war,
der sich mit ganz derselben vom bellenden Hitler anschließen ließ.
Es ist zum bitteren Kopfschütteln wahr, daß er alleine vom Pferd spricht,
der Text aber nicht. So blind macht der Nationalismus gegen die Wahrheit.)
albannikolaiherbst - Sonntag, 24. Juli 2011, 09:52- Rubrik: Texte
Die Wustrower Lust 2 <<<<
Ostia ward Wustrow,
der Tiber mit der Havel rann
Alberto Moravia
dichtete vor und mit mir dran.
albannikolaiherbst - Freitag, 22. Juli 2011, 17:04- Rubrik: Texte
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Für Adrian Ranjit Singh v. Ribbentrop,
meinen Sohn.
Herbst & Deters Fiktionäre:
Achtung Archive!
DIE DSCHUNGEL. ANDERSWELT wird im Rahmen eines Projektes der Universität Innsbruck beforscht und über >>>> DILIMAG, sowie durch das >>>> deutsche literatur archiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht. Mitschreiber Der Dschungel erklären, indem sie sie mitschreiben, ihr Einverständnis.
NEU ERSCHIENEN
Wieder da - nach 14 Jahren des Verbots:
Kontakt ANH:
fiktionaere AT gmx DOT de
E R E I G N I S S E :
# IN DER DINGLICHEN REALITÄT:
Wien
Donnerstag, 30. November 2017
CHAMBER MUSIC
Vorstellung der neuen Nachdichtungen
VERLAGSABEND >>>> ARCO
>>>> Buchhandlung a.punkt
Brigitte Salandra
Fischerstiege 1-7
1010 Wien
20 Uhr
NEUES
Die Dynamik
hatte so etwas. Hab's öfter im Kopf abgespielt....
Bruno Lampe - 2018/01/17 21:27
albannikolaiherbst - 2018/01/17 09:45
Zwischenbemerkung (als Arbeitsjournal). ...
Freundin,
ich bin wieder von der Insel zurück, kam gestern abends an, die Wohnung war kalt, vor allem ... albannikolaiherbst - 2018/01/17 09:38
Sabinenliebe. (Auszug).
(...)
So beobachtete ich sie heimlich für mich. Zum Beispiel sehe ich sie noch heute an dem großen Braunschweiger ... Ritt auf dem Pegasos...
Der Ritt auf dem Pegasos ist nicht ganz ungefährlich,...
werneburg - 2018/01/17 08:24
Pegasoi@findeiss.
Den Pegasus zu reiten, bedeutet, dichterisch tätig...
albannikolaiherbst - 2018/01/17 07:50
Vom@Lampe Lastwagen fallen.
Eine ähnliche Begegnung hatte ich vor Jahren in...
albannikolaiherbst - 2018/01/17 07:43
findeiss - 2018/01/16 21:06
Pferde
In dieser Nacht träumte ich, dass ich über hügeliges Land ging, mit reifen, dunkelgrünen, im Wind raschelnden ... lies doch das noch mal
dann stimmt auch die zeitrechnung
http://alban nikolaiherbst.twoday.net/s tories/interview-mit-anady omene/
und...
Anna Häusler - 2018/01/14 23:38
lieber alban
sehr bewegend dein abschied von der löwin, der...
Anna Häusler - 2018/01/14 23:27
Bruno Lampe - 2018/01/11 19:30
III, 356 - Merkwürdige Begegnung
Seit einer Woche war die Wasserrechnung fällig und ich somit irgendwie gezwungen, doch noch das Postamt ... Bruno Lampe - 2018/01/07 20:34
III, 355 - … und der Gürtel des Orion
Epifania del Nostro Signore und Apertura Staordinario des einen Supermarkts - Coop. Seit dem ersten Januar ... Bruno Lampe - 2018/01/03 19:44
III, 354 - Neujahrsnacht e dintorni
Das Jahr begann mit einer unvorgesehenen Autofahrt bzw. mit der Gewißheit, mir am Vormittag Zigaretten ... albannikolaiherbst - 2018/01/03 15:16
Isola africana (1). Das Arbeitsjournal ...
[Mâconièrevilla Uno, Terrasse im Vormittagslicht
10.32 Uhr
Britten, Rhapsodie für Streichquartett]
Das ...
JPC

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Zuletzt aktualisiert am 2018/01/17 21:27
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