Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

e   Marlboro. Prosastücke, Postskriptum Hannover 1981   Die Verwirrung des Gemüts. Roman, List München 1983    Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger. Lamento/Roman, Herodot Göttingen 1986; Ausgabe Zweiter Hand: Dielmann 2000   Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2001   Wolpertinger oder Das Blau. Roman, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2000   Eine Sizilische Reise, Fantastischer Bericht, Diemann Frankfurtmain 1995, dtv München 1997   Der Arndt-Komplex. Novellen, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1997   Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1998 (Erster Band der Anderswelt-Trilogie)   In New York. Manhattan Roman, Schöffling Frankfurtmain 2000   Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin Verlag Berlin 2001 (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie)   Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, Schreibheft Essen 2002   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Bis Okt. 2017 verboten)   Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Poetische Features, Elfenbein Berlin 2004   Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen, tisch7 Köln 2005   Dem Nahsten Orient/Très Proche Orient. Liebesgedichte, deutsch und französisch, Dielmann Frankfurtmain 2007    Meere. Roman, Letzte Fassung. Gesamtabdruck bei Volltext, Wien 2007.

Meere. Roman, „Persische Fassung“, Dielmann Frankfurtmain 2007    Aeolia.Gesang. Gedichtzyklus, mit den Stromboli-Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage ohne ISBN, Galerie Jesse Bielefeld 2008   Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen, Manutius Heidelberg 2008   Der Engel Ordnungen. Gedichte. Dielmann Frankfurtmain 2009   Selzers Singen. Phantastische Geschichten, Kulturmaschinen Berlin 2010   Azreds Buch. Geschichten und Fiktionen, Kulturmaschinen Berlin 2010   Das bleibende Thier. Bamberger Elegien, Elfenbein Verlag Berlin 2011   Die Fenster von Sainte Chapelle. Reiseerzählung, Kulturmaschinen Berlin 2011   Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks Bern 2011   Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I, Kulturmaschinen Berlin 2012   Isabella Maria Vergana. Erzählung. Verlag Die Dschungel in der Kindle-Edition Berlin 2013   Der Gräfenberg-Club. Sonderausgabe. Literaturquickie Hamburg 2013   Argo.Anderswelt. Epischer Roman, Elfenbein Berlin 2013 (Dritter Band der Anderswelt-Trilogie)   James Joyce: Giacomo Joyce. Mit den Übertragungen von Helmut Schulze und Alban Nikolai Herbst, etkBooks Bern 2013    Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman. mare 2015.   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Seit Okt. 2017 wieder frei)
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BUCHMESSEN

Buchmesse Leipzig, Zweiter Tag. Arbeitsjournal. Sonnabend, der 24. März 2007.

5.03 Uhr:
[Berlin, Küchentisch.]
Hatte kurz überlegt, ob nicht erst den 9.03er ICE (Südkreuz) nach Leipzig nehmen, der einen die Messe erst 10.28 Uhr erreichen läßt – die Züge zwischen 6.40 Uhr (Südkreuz) und diesem 9.03er sind seltsame, für die eine Bahncard100 nicht gilt – behauptet www.bahn.de; und ich mag mit dem Geschleppe dieses Risiko nicht nehmen. Aber sowieso hat, als der Wecker klingelte, in mir der Preusse gesiegt. Weshalb ich nun d o c h früher fahre und mich dann halt abermals zur Überbrückung in die Leipziger DB-Lounge setzen werde. Ich will einfach, daß VOLLTEXT/MEERE pünktlich um 10 Uhr wieder ausliegt. Auch wenn der Tag, wegen des Besuchs beim >>>> Laptop-Mäzen in Dresden, gewiß ein s e h r langer werden wird. Nun sind etwa die Frankfurter Buchmessen ohnehin Tage, an denen die Schlafzeiten jeden Tag um eine Stunde abnehmen, allerdings nachts, bis man eigentlich g a r nicht mehr schläft. Insofern ist das schon okay, sich auch für Leipzig ein wenig zu strapazieren.
Guten Morgen.

Eine der nettsten Termine heute wird >>>> d e r sein.

6.30 Uhr:
[Berlin Gesundbrunnen.]MEERE-schleppen-240307
MEERE tragen.
6.45 Uhr:
[ICE Berlin-Leipzig. Platz op.111.]
Diese anderen Verbindungen, die ich heute morgen nach Leipzig fand, müssen in der Tat gesondert bezahlt werden; es sind Züge anderer Unternehmen – was einen eigenartig anmutet, der nahezu vier Jahrzehnte lang an ein staatliches Bahnmonopol gewöhnt ist. Weiters-in-der-Tat ist >>>> dieses andere Unternehmen aber um die Hälfte weniger teuer als die Deutsche Bahn. Für mich rentiert sich diese andere Verbindung nur wegen meiner Bahncard100 nicht.
Gescheppt, geschleppt, geschleppt. Nunmehr nahezu 250 Exemplare MEERE bei Volltext, also gewichtsbezüglich auf gestern noch mal ein Drittel draufgelegt. Der Körper macht‘s. Das ist jedesmal eine kleine Erfüllung. (Rief gestern eine Frau leise aus, die mir auf der Messe die Hand gab: „Meine Güte, das sind doch nicht die Hände eines Schriftstellers! Das sind Arbeiterhände!“ Ich: „Männer müssen t r a g e n können.“ - Effiminierten Männerhänden bringe ich, ich geb‘s zu, Mißtrauen entgegen. D a z u wie auch zu MEERE paßt, was ich eben in der BILDZEITUNGs-Headline las -fast hätt ich mir das Revolverblättchen gekauft --- aber mein seit siebendreißig Jahren bestehendes (Vor-)Urteil ließ das nicht zu ---- es wär das erste Mal überhaupt in meinem Leben, daß ich diese Zeitung kaufte ----- aber vielleicht s p r i n g ich mal, nachher in Leipzig, über diesen Schatten ------ es ist einfach z u schön ------- also -------- die wunderschöne Angelina Jolie --------- (sinngemäß) ---------- ‚gesteht‘:
Ich liebte schon mit 14 SM.
und
Ich möchte gerne Blut trinken.
Welcher Mann, der‘s i s t, krempelte da nicht den Ärmel auf oder reichte die Halsbeuge und sagte: „Dann trink!“?
Also das hat mir diesen sowieso schon schönen Morgen, in den ich derart flanierend hineinparliere, so noch recht von Hoden weiter verschönt. Und mit dieser Vorbemerkung nun zum ernsthaften Teil der Erzähling, dem
WAS GESTERN NOCH GESCHAH:
Die 150 Volltext-MEERE waren am Abend weg. Und dauernd werd ich angesprochen, Leute gratulieren, von denen man sich gewünscht hätte, sie hätten, als das Buchverbot ausgesprochen worden war, wenigstens seelisch Hilfe angeboten... aber damals schwiegen sie und warteten dann vier Jahre lang wie positionslos ab. Nun hab ich ein Loch durch den verkrusteten Boden gegraben, Licht fällt hinein, und nicht nur die MEERE quellen heraus, sondern auch diese Leute... als wären s i e eingesperrt gewesen und hätten nicht doch allezeit draußen an der frischen Luft gestanden. Einige andere - etwa mein geliebter Lektor Delf Schmidt - haben von allem nichts mitbekommen und verstehen erst gar nicht, wenn sie die Zeitung erstmals sehen... wieder andere sagen: „Wie? Das ist ein ganzes B u c h?“ und blättern sich desorientiert durch die Bleiwüsten, den Blei-Dschungel, den Volltext unter Mißachtung jeglicher Gebräuchlichkeit da vorgelegt hat. Nur >>>> Judith Kuckart, die ich mit Delf Schmidt nachts am Leipziger Bahnsteig traf und mit denen ich dann bis Berlin-Südkreuz zurückfuhr, sah die Zeitung mit ihrem Lächeln durch, einem, das zugleich immer leicht spottet, aber doch immer sehr warm ist – und sagte: „Gott, ist das ästhetisch!“ - Ja. Das finde ich auch.
>>>> tisch7 legte die Zeitung mit auf den Auslagetisch des Verlages; spontane Solidarität und Mitfreude; Keul ist unterwegs und läßt immer mal wieder eine Zeitung ‚versehentlich‘ liegen... ich selbst spaziere herum, hab die Zeitungen aber im Rucksack, weil ich nicht mit meinem riesigen Konterfei unterm Arm rumlaufen mag... man ist einerseits enorm stolz, andererseits hat‘s auch was Peinliches, den Leuten dauernd was mit dem eigenen Portrait in die Hand zu drücken. Doch, wie wir an der Börse sagten: It‘s a sell. Niko Hansen, mein Verleger bei >>>> marebuch nahm mich in den Arm, boxte mit vor die Brust, grinste von einem Ohr zum anderen und zischt: „Du Arschloch, du...“ Ich: „Du selber...“ Geklärt haben wir freilich noch nix. Ich will diese Letzte Fassung des Romans wieder als Buch. Punkt. Doppelpunkt: Wenigstens als Taschenbuch. Gab ihm den von mir hergestellten Dummy: „Also, ich komme gern für eine Woche nach Hamburg und klebe die revidierten Seiten eigenhändig in die Restauflage ein.“ Er durchblätterte das Buch und fing deutlich an, sich mit der Idee zu befreunden. „Dann signierst du aber auch jedes Buch.“ Lassen Sie uns abwarten. Und wer eine Lizenz an MEERE nehmen will, möge sich beim marebuch-Verlag einfach melden. Auf der Franfurter Messe im Oktober will ich dann, daß es um Übersetzungen geht. Dafür ist Leipzig kein Pflaster.
Netter Plausch mit >>>> Joachim Kersten, der, als ich grappatrinkend bei den >>>> horen http://www.horen.de herumsaß, gerade da vorbeispazierte. Dann wieder Leute, die von dem VOLLTEXT-Coup eher schockiert sind. Immer wieder der Verweis auf Rowohlts Rotations-Romane und also die historische Bedeutung, in die nun MEERE gestellt ist. Das gefällt vielen nicht, es kommt ihnen wie ein neuerlicher Anfall herbstschen Größenwahns vor. Aber man kriegt‘s nicht mehr weg. Es ist da. Wie den Leuten die ‚Geschichte‘ sowieso unheimlich ist: Mann wird von Frau verlassen, die er leidenschaftlich liebt, Kämpfe fangen an, böse Kämpfe, die sich über Jahre hinziehen, und dann kommen die beiden wieder liebend zusammen und sind plötzlich Familie, egal, welche Verletzungen einander zugefügt wurden... diese Art des beidseitigen Verzeihens scheint den meisten unbegreiflich zu sein. „Was wollt ihr? Und wenn sie mir ein Bein amputiert hätte, ich liebe sie d o c h!“ „Du bist ein naiver Mann“, sagte gestern abend >>>> Renate von Mangold im Auerbach, wo wir aßen, „du bist derart naiv – und bist‘s immer gewesen.“ Es war auf der Haut zu spüren, wie tiefgehend sie „vorbehaltlos“ und „naiv“ verwechselt. „Naiv“ sieht nicht, was kommt oder kommen könnte; „vorbehaltlos“ s i e h t es, doch gibt dem keinen handlungsbestimmenden Wert. „Vorbehaltlos“ sagt: Was immer sich an Scheiße auf mich zuwälzt, ich wühl mich schon irgendwie durch. Und nimmt den Kampf auf. „Vorbehaltlos“ läßt es nicht zu, daß man skeptisch lebt und uneigentlich wird. „Woher nehmen Sie nur Ihren unbedingten Glauben an das Leben?“ hat mich >>>> Christa Bürger einmal gefragt. Ardet et floret. Oder >>>> d a s hier... das ist die Antwort.

Der schönen Dankesrede >>>> K.D.Wolffs zur Verleihung des >>>> Kurt-Wolff-Preises zugehört. Ihm aber (noch) nicht persönlich gratuliert, weil sich mir zu viele Gratulanten um ihn d r ä n g t e n. Ich steh auch bei Kaiser‘s nicht gern Schlange...Mit Tammen von den >>>> horen nochmal den Redaktionsschluß für die ANDERSWELT-Materialen-Ausgabe im Frühjahr 2008 festgekopft. Kretzer plant mit >>>> Uwe Kolbe eine Anthologie zur Lyrik in Popmusik – und ausgerechnet mich fragte er, ob ich nicht einen Beitrag schreiben möge. Das hat etwas derart Komisches, daß ich spontan zusagte und den späten Johnny Cash als Gegestand meiner möglichen Betrachtung nannte. Dann hörte ich, >>>> Burkhard Spinnen sei gläubig geworden, „er glaubt an den katholischen Gott“; ich verbiß es mir, nach Maria zu fragen. Bei C.H. Beck in Dagmar Leupolds Augen und >>>> neues Buch geschaut. Svetlana Geier, die einen Leipziger Übersetzerpreis bekommen hat, soll verlangt haben, d a ß sie ihn bekommt, wenn sie auf der Verleihungs-Veranstaltung erscheinen solle. „Man m u ß einer 85jährigen den Preis geben, egal ob andere besser sind... der Betrieb funktioniert so, es ist widerlich“, sagte einer, den ich hier, um ihm nicht zu schaden, nicht nenne. Mir selbst l ä ß t‘s sich in dem Betrieb nicht mehr schaden. Wie Keul in seinem Volltext-MEERE-Editorial schreibt: ANH gehört zu den „Bösen“. Doch es gibt Freunde, auch das wird mir auf dieser Messe wieder spürbar; und daß sie von den „Guten“ wahrscheinlich als „Sympathisanten“ beschimpft sind. Manche bringen die Sympathie deshalb eher leise zum Ausdruck, denn wissen – oder ahnen – wie Sippenhaft in dem Betrieb funktioniert.

8.14 Uhr:
[Leipzig Hbf. DB-Lounge.]
Was war noch? Interviews gab‘s bislang keine. Als ich gegen 22.30 Uhr aus dem Auerbach aufbrach, klang über den kleinen nächtlichen Platz eine Lesung... dabei regnete es. Im Auerbach selbst wurde in einem separaten, nämlich dem Teufels-Zimmer Goethe vorgetragen. Es ist schon wahr: die ganze Stadt l i e s t, d.h. hört zu: fast überall, in Kneipen, auf Plätzchen, in Theater, alles steht hier in diesen vier Tagen im Zeichen der wenn nicht Dichtung, so doch Literatur. Barbara Bongartz, mit der ich ein >>>> SCHREIBHEFT geschrieben habe, traf ich bei ihrem >>>> neuen Verlag mit neuem Buch: schön und reserviert wie immer und ganz manieriert, man hätte früher gesagt: eine Erscheinung. Dafür eine müde, verarbeitet wirkende >>>> Brigitte Oleschinski http://de.wikipedia.org/wiki/Brigitte_Oleschinski . An >>>> Klaus Schöffling ging ich, wie ich‘s vorgehabt habe, ohne zu grüßen vorbei. Andres wär Heuchelei gewesen. Nett dafür abends bei >>>> Joachim Unseld am Stand, der in Volltext sah und die Anzeige seines Verlagers unterhalb von MEERE. „Jetzt wirst Du immer an mich denken“, sagte er. Ich: „Nun ja, Herbst für die FVA, das wär doch mal ein Slogan.“ Momentan Blickirrn, dann lächelnd Reserve (die FVA hatte die >>>> NIEDERTRACHT DER MUSIK abgelehnt). Bodo Kirchhoff ist alt geworden, matt wirkte er immer, nun aber gesetzt; dabei hat er etwas Ätherisches bekommen, das ich noch nicht ganz fassen kann. Als ich ihm die Hand gab (wir sind einander, vor allem auch in meiner Frankfurter Zeit, bisweilen begegnet), stellte er sich vor: „Kirchhoff.“ Ich dachte: ‚Alzeimerchen.‘ So weiß die Arroganz, auf Arroganz zu erwidern - vor allem, weil ich‘s nur dachte.

Buchmesse Leipzig, Erster Tag. Arbeitsjournal. Freitag, der 23. März 2007.

4.36 Uhr:
[Berlin, Küchentisch.]
Jetzt wart ich nur noch drauf, daß der Kaffee durchgelaufen ist (bald gibt es morgens wieder meinen latte macchiato zum Arbeitsbeginn), dann trink ich einen Kumb voll und geh mich rasieren – ich möchte nicht unbedingt für einen Hemingway genommen werden. Geärgert habe ich mich gestern nacht über einen hämischen „Leser“-Unfug bei amazon, auf den ich aber aus Gründen der Ehre und meines Worts nicht verlinke. Im übrigen bin ich wohlgemut. Um kurz nach sechs muß ich für den ICE nach Leipzig schleppend aus dem Haus, nachts um kurz nach zwölf werd ich für die zweite Partie >>>> Volltext (22.11 Uhr) wieder hier sein, die mich dann morgen früh zur zweiten Messe-Fahrt begleiten wird. Im Zug jeweils will ich arbeiten. Und Ihnen selbstverständlich berichten. Mit etwas rhythmischer Inspiration bekomme ich bis Sonntag fahrthalber die Dritte Elegie fertig. Schön übrigens, daß Volltext auf das >>>> SCHREIBHEFT verweist, worin die (noch nicht streng hexametrisierte) Neunte Elegie abgedruckt ist.
(Zum Titel dieses Arbeitsjournals: "Erster Tag" heißt freilich: m e i n erster Tag dort. Denn sie ist ja seit gestern in Gang. Nur genauigkeitshalber vermerkt)

5.33 Uhr:
Machen wir mal Werbung: „gepflege Frische“. (Was lieb ich den Duft dieses Parfums!) Und vergaß noch zu erzählen, daß ich am Samstag – also morgen, den 24. März, auf der Leipziger Messe um um 15 Uhr am Stand von >>>> BUCHMARKT 50 Exemplare der MEERE bei >>>> VOLLTEXT öffentlich signieren werde: Halle 3 B 103. So, zusammenpacken; zum Arbeiten komm ich jetzt d o c h erst im Zug (und in der S-Bahn: ich hab mir angewöhnt, den Laptop einfach unterm Arm zu tragen; man glaubt nicht, wie schnell dann S- und U-Bahnfahrten vergehen, wenn man konzentriert auf die Versarbeit schaut; sogar in die Gefahr geriet ich schon, Stationen zu überfahren).
Wegen der Signiererei schreib ich noch einen eigenen Beitrag heut gegen nachmittag/abend.

6.40 Uhr:
[ICE Berlin-Leipzig. Platz op. 111.]
Das ist der Morgen-ICE („mein“ ICE) nach Bamberg. Insofern w a r nichts mit der Arbeit in der S-Bahn, weil‘s ja nur eine Station bis Berlin Gesundbrunnen ging, von wo der Zug soeben startet. Hab zwei SMS‘se, je an Keul von VOLLTEXT und meinen Verleger von >>>> tisch7 geschickt, ob sie mich bitte auf die Messe lotsen, weil ich mir die Eintrittskarte sparen möchte.
Ein schöner E-Brief von >>>> dielmann erreichte mich noch, worin er mir - der gern ebenfalls gekommen wäre, aber aus Krankheitsgründen nicht kann – vielerlei gute Ereignisse wünscht. So, jetzt noch mal den Dummy für >>>> marebuch durchsehen. Ich fürchte, ich komm nun doch nicht an die Elegien.

E i n i g e s ist auf dieser Messe zu bereden, bzw. anzustoßen:

1) >>>> H o r e n: ANDERSWELT-Sonderband fürs Frühjahr 2008.
2) Lesungen aus der Letzten Fassung MEERE. Und Lesungen sowieso.
3) >>>> tisch7: Der Band mit poetologischen Schriften im Frühjahr 2008.
4) >>>> marebuch: Lizenzen von MEERE (Taschenbuch/Übersetzungen); vor allem: Ich möchte eine neue gebundene Ausgabe der letzten Fassung. Wir sind darüber noch uneins, und es geht darum, daß auf keinen Fall ein unnötiger Streit aufkommt. Diplomatie ist an sich, wenn es um mein Werk geht, meine Sache n i c h t. Da muß sich meine Cholerik sehr in acht nehmen. Zumal mir Verleger Niko Hansen auch persönlich sehr freundschaftlich verbunden ist. Ich hab etwas Angst, daß das Risse bekommt.
5) Vorabdrucke einzelner BAMBERGER ELEGIEN in Literaturzeitschriften, damit das Buch bereits bekannt wird, bevor es a l s Buch erscheint.
6) Besuche bei meinen diversen Verlagen. Schöffling & Co. allerdings laß ich aus, seit er einen Teil meines >>>> New-York-Buches hat verramschen lassen, ohne mich vorher zu informieren. An sich wären aus diesem Vorgang Rechte-Konsequenzen abzuleiten. Aber ich häng mir jetzt nicht auch d a s noch auf die Schultern. So lange das Buch lieferbar bleibt, ist's - einigermaßen - okay.
6) Morgen abend (24. 3.) Treffen mit MINDBROKER, dem >>>> Laptop-Mäzen in Dresden.
7) Möglicherweise weitere Interviews wegen der Letzten Fassung von MEERE in VOLLTEXT, vielleicht Diskussionen. Keuls Editorial spricht ja ziemlich deutlich aus, worum es in meinem Fall a u c h geht: Für eine Geschichte in Sippenhaft genommen worden zu sein und weiterhin zu werden, für die ich als lange nachher Geborener gar nichts kann; daß man ihr aber dennoch nicht entkommt (ich ahne, daß sich mein von der Allegorie abgeleiteter Tragik-Begriff hier autobiografisch begründet hat). Mit fiel heute morgen ein: Das einzige, was die Schulzes schützt, ist, daß ihr Name ihre Herkünfte nicht preisgibt. Es könnten S c h l ä c h t e r unter ihren Vorfahren sein, s i e werden n i c h t dafür haftbar gemacht. Wie überhaupt die kleinbürgerlichen, einzelnen Menschenrechtsverstoßer, bzw. ihre genetischen Nachfahren unters Abtestat der Vergessenheit fallen, wie mies auch immer die Ahnen gewesen sein mögen. Man bekommt die Absolution, weil man klein ist, namenssymbolisch gesprochen. Darüber hinaus läßt sich sogar noch Perverseres sagen: Die Ahnen rächen sich an dem anonymen Verbrecher in ihren Ahnen an den Ahnen des nicht-anonymen Verbrechers. Als wüschen sie sich so rein. - Über diese Zusammenhänge will und werde ich diskutieren.

Ich habe mich übrigens - schon gestern in der Arbeitswohnung - entschlossen neue Visitenkarten drucken zu lassen. Das ist wegen der neuen Rufnummer sowieso nötig. Und auf diesen Karten werde ich fortan b e i d e Namen verwenden, und zwar gleichberechtigt und zugleich:
Alban Nikolai Herbst
Alexander v. Ribbentrop
Adresse usw.
Keine weitere Frage mehr - meinen Namen (meine Identität) habe ich mir zurückgeholt. Auch d a s ist ein Ergebnis von MEERE. Vielleicht werde ich sogar unter b e i d e n Namen meine künftigen Bücher publizieren. Neuausgaben der alten ebenso.

8.21 Uhr:
[Leipzig Hauptbahnhof. DB-Lounge.]Leipzig-DB-Lounge-230307Gerade, bereits umgestiegen, erreichte ich übers Mobilchen - außer Faure vom >>>> Buchmarkt schienen alle anderen Freunde und Bekannten noch zu schlafen - Thomas Keul von Volltext: Die Messe öffne nicht schon um 9, sondern erst um 10 Uhr vormittags. Mir ist sowas völlig unverständlich, aber egal. Rechtzeitig wieder aus der Messebahn hinausgesprungen... ähm, eher elefantig -geplumpst, rucksackshalber - und hier in der DB-Lounge eingekehrt, wo es an eigenen Arbeitsplätzen Laptop-Anschlüsse, den schnellen T-mobile-hotspot fürs Netz und obendrein freien Getränke-Service gibt; a u c h ein entschiedener Vorteil meiner Bahncard100. Ich bleib hier jetzt eine Stunde sitzen, um 10 Uhr treff ich Keul vorm Haupteingang der Messe, und e r besorgt mir die Eintrittskarte. Ich freu mich sehr darauf, ihn persönlich kennenzulernen, und auf das, was er bereits zu erzählen weiß. Faure treff ich gegen 16 Uhr.
Möglich, daß ich nun doch doch etwas versschmieden kann.

23.45 Uhr:
[Berlin, Arbeitswohnung.]
Für die nächste Fuhre MEERE BEI VOLLTEXT zurück. Morgen werd ich versuchen, nicht nur 150, sondern 250 Exemplare zu schleppen. Ich bin zu müd, um noch zu berichten. Näheres morgen früh, vielleicht dann auch direkt von der Messe. Bin als Journalist dort akkreditiert, bekomme also einen unentgeltlichen Netzzugang. Jetzt muß ich ruhen; bereits in der S-Bah hierher schlief ich ständig ein.
Gute Nacht.

Paul Reichenbachs Samstag, der 7.Oktober 2006. Futur II im Müllsack.

3 Tage Buchmesse in Frankfurt. Zwei davon waren ausgefüllt mit Besuchen bei den Paragraphenreitern. Öde, wie jedes Jahr. Um mich dafür zu entschädigen huschte ich ab und zu in die Halle 4.1 , wo die wirklichen Bücher anzufassen und zu sehen waren. ANH, der völlig beschäftigt schien und wie gehetzt mit Lederjacke und Rucksack im Arm, sein blanker Schädel leuchtete immer mal wieder aus der Ferne, durch die Hallen streifte, nahm mich gar nicht wahr. Für dieses Jahr hatte ich mir vorgenommen mich mit neuer Lyrik zu beschäftigen. Gedichte sind nicht das Bier, das ich, wenn ich mich schon mal an Worten besaufen will, unbedingt brauche. Eine kühle historische Analyse oder eine peppige Zeitkritik sind mir gemäßer. In der Lyrik kreisen für meinen Geschmack die Worte zu gefühlig. Und doch blieb ich, bei aller gebotenen Skepsis, an zwei Verlagen hängen. Immer wieder zog es mich zu ihnen hin. Der eine hieß >>>kookbooks und ein Buch fiel mir dort besonders auf: Ah, das Love-Ding! · Ein Essay von einer Monika Rinck. Ein mäandernder Fluss von Worten in dem Boote treiben, gefüllt, gefühlt mit Assoziationen, die mich an meinen Lieblingsautor, der mir oft in den Schlaf hilft, Montaigne, erinnerten. Rinck’s Texte kommen allerdings ohne Montaignes ermüdende, antike a116Zitatenlust aus. Das Love Ding macht munter. Ich werde es mir kaufen. Um die Ecke, nicht weit von kookbooks, stellte ein kleiner Verlag, er trägt den angenehmen Namen >>>Gutleut, seine Produktion aus. Und hier waren es zwei, eine Frau und ein Mann, deren lyrische Raffinesse mich enthusiasmierte. Ich habe ja von Lyrik nicht wirklich Ahnung, aber die beiden machten mich unruhig. Ja, hab ich vor mich hingemurmelt, als die Verse eines >>>Sascha Anderson mich mitten ins eigene Hirn trafen. Der Dichter, kein Russe oder Schwede wie der Name vermuten lassen könnte, hatte mich mit seinen Zeilen
„WAS HABE ICH NICHT ALLES GERAUCHT,
UM DIE ZEIT…
totzuschlagen, die längst zugeknotet war wie der Müllsack
für den Müllcontainer…,“

volle Breitseite erwischt.
Apropos Müll, da fällt mir ein, dass sie mir auftrug, den Müllsack auf die ,Strasse zu stellen. So ist das Leben, da beschäftige ich mich mit Gedichten, will grade abheben und schon holt einen der Alltag, das Gepress wieder ein. Alle schönen Gedanken sind plötzlich weggeflogen. Über die Dichterin >>> Orsolya Kalász wäre unbedingt noch zu schreiben. Aber ich lass es jetzt und trag meinen Müll auf die Strasse. Bin ich doch sprachlos und auch ein wenig neidisch angesichts solcher Zeilen:

FUTUR II

auf den gelenkigen Rücken
junger Hunde
jagen
vor unseren Augen
jene Momente
des Glücks
über die Parkwiese
die wir einst gehabt haben werden.


Futur II, das fehlt mir. C’est la vie.

Arbeitsjournal. Sonnabend, der 7. Oktober 2006.

6.48 Uhr:
[Berlin.]
Gedichte träumen, nein: e i n e s geträumt haben. Ich seh’s es vor mir: acht Zeilen, über die ganze DIN-A4-Seite verteilt. Jedes Wort von Mehrfachbedeutung leuchtend. Aber keine krieg ich jetzt mehr zusammen, so wenig wie die Wörter selbst. Was wiederum nicht s o schade ist, da ich mir schon während des Traumes uneins war, ob das Gedicht etwas taugt.
Dann die seltsame Anmutung, die jetzt dauernd an mich herangetragen wird, ich dürfe nun, da alles so anders geworden sei, bestimmte Dinge nicht mehr schreiben, etwa >>>> DLZI, sondern ich müsse solche ‚unmoralischen’ Projekte beiseitetun. Als wäre, daß jemand nun wieder angekommen sei, Grund oder gar Berechtigung, an Schärfe der Erfahrung zu verlieren, ja als wäre ganz selbstverständlicherweise die liebende Paarbeziehung und schon gar eine Familie eine notwendige und hinreichende Vorform von Korruption. Das geht dann so: „Du hast jetzt Verantwortung, und du mußt Rücksicht nehmen. Wenn du dem entsprechen willst, dann d a r f s t du bestimmte Sachverhalte gar nicht mehr angehen, ja nicht mal mehr ins Auge fassen. Dann ist es deine Schuldigkeit, wegzusehen.“ – Daß ich diesen und ähnlichen Anmutungen den Stinkefinger zeige, muß ich Ihnen, Leser, hoffentlich nicht sagen.

Nach langer Zeit, gestern, ich war schon fast im Aufbruch, sah ich Ilija Trojanow wieder; wir fielen uns in den Arm, sofort ging es mit dem Erzählen los. Aber arg viel Zeit war nicht, ihn jagten die Interviews, während ich hinter Kinderbüchern für meinen Jungen herwar. Bei Hanser schließlich ein ziemlich einverständiges Plaudern mit Felicitas Hoppe, was man – alles immer in Sachen Betriebskorruption – von diesem und von jenem zu halten habe und wie man wieder einmal von (Er)Schrecken überrascht worden sei. Ich zitiere in diesen Zusammenhängen immer gerne Karl Kraus: Wie Klein-Fritzchen sich vorstellt, daß Politik gemacht werde, so wird sie gemacht.Hoppe hat es jedenfalls gut, denn scheint einen Grad an Verachtung erreicht zu habe, der sich nicht einmal mehr als Ekel bemerkbar macht. So weit bin ich leider noch nicht.Buchmesse-Nachlese-071006-Jetzt also an die Arbeit, wobei wieder der Junge zu betreuen ist, so daß es mit der Konzentration nicht leichtfallen wird – zumal ich’s nun endlich angegangen bin, nicht mehr zu rauchen und es gerade mit dem ersten ernstlich protestierenden Suchtanfall zu tun habe, dem über die Tage ganz sicherlich noch weitere folgen werden. Glücklicherweise hab ich diese Nikotinkaugummis hier, die mildern tatsächlich: sonst wär ich eben gegen alle Vornahme nach draußen gegangen und über die Schönhauser hinüber, um im Lädchen Zigaretten zu holen.

Zwei Gedichte hab ich im Kopf, und an den PETTERSSON geht’s.

9.33 Uhr:
[Jarrett, Lausanne 1973. Da war ich achtzehn. Unfaßbar.]
Puh--- Entzugserscheinungen… aber hallo! Ich leg mich mal noch eine Stunde schlafen. Der Junge malt und hört Die Drei Fragezeichen im neuen Wilde-Kerle-T-Shirt.

Arbeitsjournal. Freitag, der 6. Oktober 2006. Dritter Buchmessetag. Frankfurtmain. Berlin.

8. 34 Uhr:
[FFM, Gastwohnung bei den Freunden.]
Vernünftiger war ich gestern abend und erschien hier bereits gegen 24 Uhr nach dem Suhrkamp-Indien-Fest und einem kleinen Rundgang noch bei S. Fischer. Zweidrei Gedichtzeilen waren mir während des Messetages eingefallen; ich schau mal, ob ich sie nachher skizziere. Eines fing (und wird wohl) s o anfangen:
Ach, wie schön sind die Mormonen!

Bitte sagen Sie jetzt nicht, das sei nicht pc. Und das andere Gedicht hat etwas damit zu tun, wie sich zwei sich begegnende Leute auf der Messe gegeneinander verstellen: man habe einander gar nicht gesehen…. Dumm nur, wenn einer von beiden d o c h sprechen will; dann gerät das gespielte nicht-Sehen zum Affront… in j e d e m Fall läßt es Spuren eines schlechten Geschmacks zurück.

Jetzt etwas frühstücken, dann zur Messe, und abends geht’s zurück nach Berlin.

21.10 Uhr:
[ICE FFM-Berlin.]
Rückfahrt. Einiges ist mir noch im Kopf, um es Ihnen zu schildern. Aber ich bin müde, der Zug ist sehr voll, und außerdem lese ich – glücklich – >>>> d a s.

Arbeitsjournal. Donnerstag, der 5. Oktober 2006. Frankfurtmain, zweiter Buchmessentag.

12.04 Uhr:
[Halle 4.1 G 127. Verlag tisch7 ]
Es wurde spät gestern, Leser, nein! früh. Bei Rowohlt in der Schirn mit Krausser, Delf Schmidt, Thorsten Becker schließlich restlos abgestürzt… um halb fünf lag ich im Gastbett und erhole mich gerade ein wenig von der Verdünnung, die der Restalkohol durch ständiges Dazuschütten von Wasser und Kaffee erfährt.

Den Freund Betz getroffen.
Und Oskar Pastior ist tot. Er starb gestern bei seinen engen Freunden hier in Frankfurt am Main. Und hat noch erfahren, daß er den Büchnerpreis 2006 verliehen bekommt. Da wird er das Gefühl gehabt haben, daheim zu sein. Und schlafen zu dürfen.

Arbeitsjournal. Mittwoch, der 4. Oktober 2006. Berlin und Frankfurtmain. Erster Buchmessetag.

4.42 Uhr:
Gut hochgekommen, früher, als der Wecker wollte, ich s c h r a k beinah auf. Und ziehe in einer halben Stunde los. Gestern nacht brachte ich mir nach einer Anleitung aus dem Netz noch bei, einen einfachen Turban aus meinen Tüchern zu binden. Und kann das bereits ohne Spiegel. Damit, wenn mir am Schädel kühl wird und ich eines oder zwei der Tücher drüberlege, nicht wieder jemand ‚altes Mütterchen’ zu mir sagen kann. – Einen lachenden Guten Morgen, Leser. Wenn ich erst einmal im Sprinter sitze, werd ich auch mit dem Offertorium weiterkommen. Und dann stürz ich mich in Termine.

7.33 Uhr:
[ICE Sprinter Berlin-Frankfurtmain.]
Welch lustiger Morgen. Mich hat voll der Bahnstreik erwischt, meinen Kommentar dazu finden Sie >>>> hier. Jedenfalls kam ich zum ersten Mal dazu, einen der Längstbahnsteige mehrfach ganz abzuschreiten, und dachte mir: wann tut man so etwas schon? und wann hat man derart schöne Blicke, etwa durch den sich verjüngenden Zwischenraum zweier höchst eleganter waagrechter Betonträger hinab ins nachschwarze Wasser der Spree? oder hinüber zum Kanzleramt und Parlamentsgebäude, die beide fantastisch schillerten, bevor sich der Tag dann erhellte? Und ergreifende Liebesszenen gab es derer, denen so unvermutet anderthalb Stunden für ihren Abschied geschenkt worden sind! Die Umarmungen wurden intensiver, zunehmend, wurden – ja, schrieb’s ja schon: ergreifend. (Selbstverständlich gab es auch der Grummler und Grantler nicht wenige und derer, die wütend vom Bahnsteig stieben).
Dann traf ich >>>> Thorsten Becker, der in Begleitung einer bezaubernden Ägypterin auf dem Bahnsteig stand; beide mit Fahrrad, beide, erzählen sie, wollen nach der Messe weiter ans Mittelmeer; deshalb nehmen sie den IC, nicht ICE, nach FFM; der ICE nimmt ja Fahrräder nicht mit. Die beiden luden mich auf Bagett und Kaffee ein, Schinken, Parmigiano, alles ausgebreitet auf den Sätteln der aneinandergelehnten Fahrräder, so primacolazionten wir. Plauderten, scherzten. Und unversehens war der Sprinter dann da, anderthalb Stunden verflogen im Nu… es wurde noch gewunken, „bis nachher auf der Messe!.. und schon sitz ich hier drin. (Und hab tatsächlich einen Computersteckplatz… allerdings keine Reservierung, die für den Sprinter an sich obligat ist. Ma’ gugge, was der Schaffner… verzeihung, ‚Zugbegleiter’ sagt.)

Leipziger Buchmesse 2006. Tagebuchnachtrag zum 18. März.

Sehr unkompliziert losgekommen mit dem Jungen. Vater-und-Sohn-latte macchiato am Ostbahnhof. Leipzig-Buchmesse-2Leipzig-Buchmesse-3Während ich im Zug Wilhelm Musters PULVERLAND lese, schaut der Junge „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ am Laptop. Kaum sind wir bei der Messe angekommen, meldet sich erst >>>> Juliette, dann bereits >>>> Else Buschheuer, und schon, nachdem sich durch die Wulste Anstehender gewälzt und (Adrian) unterschlüpft worden ist, sitzen wir plaudernd beim Kaffee. Else verfällt in eine Meditation über die Wespentaille einer benachbart Sitzenden, flugs wird das Modell eines modulierten Menschen entworfen: Man sucht sich seine (jederzeit auswechselbaren) Körperteile zusammen und wird Mondmensch, um das mit dem Baron Münchhausen zu sagen. Wir machen ein „Familienfoto“, auf dem Else derart verwackelt ist, daß man meinen könnte, sie habe sich für keinen speziellen Kopf entscheiden können und sich deshalb gleich vier Köpfe zugleich vorgehalten. Na, hier können Sie’s sehen: Leipzig-Buchmesse-1-Buschheuer-1Adrian futtert derweil das erste Eis des Tages, dem dann ungezählte Süßigkeiten folgen, mit denen ihn namentlich die auf dieser Messe vertretene Damenwelt umwirbt. „Ich hab jetzt d r e i Frauen, Papa“, sagt er mir zwischendurch.Leipzig-Buchmesse-4„Wen denn alles?“ frag ich. Er versucht, sie aufzuzählen, kommt aber durcheinander und grinst. Unser Zeug haben wir bei meinem >>>> Verlag tisch 7 unterm Tresen gelassen; so können wir frei umherstreifen.
Dann meine Lesung mitten in der Halle, einiges Laufpublikum, aber nicht wenige bleiben da und hören Jean Paul, Bonaventura und mir zu. >>>> Schwartzkopff Buchwerke ist es zufrieden. Nebenan bei der >>>> Wiener edition Luftschacht gibt es alleredelsten Birnenschnaps. Ich süffle, schließlich krieg ich eine kleine Flasche von dem Hochprozenter mit nach Hause. Netter Kontakt und sehr sehr schöne Bücher. Hier erfahre ich von einem Journalisten, es gebe auf der Messe ein Symposion zu den neuen Buchverboten in Deutschland. "Wieso sind S i e da nicht?" "Na ja, ich wußte erstens nichts davon, und zum zweiten wird es schon seinen Grund haben, daß ich nicht eingeladen wurde." Heiter ist allerdings, daß ausgerechnet Ingo Schulze zu Buchverboten spricht, der nun wirklich nie auch nur eine Zeile schreiben würde, die bloß in den V e r d a c h t politischer Inkorrektness käme, sondern sozusagen der Beliebtheits-Character-an-sich ist. Aber egal. Sowas ist halt typisch Betrieb: Wie mach ich etwas über ein Thema der Zeit, aber so, daß sich niemand auf die Füße getreten fühlen kann? Sentimentalgeschwängerter Inzest pur, Heuchel-Schunkeln.
>>>> Ricarda kreuzt auf, wir ziehen Arm in Arm los, Adrian will bei seinen drei Frauen bleiben. Auf dem Gang kommt uns >>>> Paul Ingendaay entgegen, wie immer herzliche Umarmung, aber er ist von Terminen gescheucht, schneller Wechsel der Mailadressen; wenn er wieder in Madrid sein wird, wollen wir endlich korrespondieren. Ricarda und ich ziehen weiter. Sie glaubt mir nicht, daß ich mich entschlossen habe, erotisch ein Asket zu werden. „Das paßt nicht zu dir“, behauptet sie und schleppt mich zu einer kleinen Weinprobe ab, wo es einen ziemlich süffigen Rest Meißener Weines gibt. Kurz darauf sitzen wir bereits bei den >>>> horen und kippeln Grappa in uns hinein. Ich lerne persönlich Jürgen Krätzer kennen, mit dem ich im Sommer 2005 wegen des ARGO-Auszuges in die horen Nr. 219 länger korrespondiert und lektoriert hatte. Es sei ja s c h o n einiges Unappetitliche drin in meinem Apokalypse-Text aus THETIS, sagt er. Er hatte bei der Mittagslesung zugehört. Das Gespräch bleibt, buchmessenüblich, locker. Immerhin kann ich Johann P. Tammen, den leitenden Redakteur, für eine ARGO-Idee interessieren: Sollte der Roman keinen Verlag finden, werden wir eventuell eine spezielle horen-ARGO-Ausgabe machen, mit längeren Auszügen, dazu den Quellen und sonstigen Materialien zur Poetologie usw. Es wäre wirklich ein tolles Projekt. „Schick mir schnell Text“, sagt Tammen. Also werd ich ihm heute noch eine CD mit dem RohTyposkript brennen und morgen zur Post bringen. Jedenfalls nimmt die Publikationsgeschichte ARGOs doch noch Gestalt an; selbst dann, sollte der Roman eines Tages „nur“ als von der Deutschen Bibliothek bibliografierte pdf im Netz veröffentlicht werden: genügend Druck-Publikationen flankierten das dann. Weitergeschiebe.Leipzig-Buchmesse-5Ab zum >>>> Wunderhorn-Verlag, wo die Edenkobener Weinkönigin Pfälzer Wein ausschenkt. Anstelle mich mit den Kollegen und Lektoren zu unterhalten, flirte ich die Weinkönigin an und lasse mir erzählen, was ihr Amt eigentlich beinhaltet und wie ‚frau’ Weinkönigin w i r d. Was ich erfahre, ist lustig und findet garantiert mal in einem Text Verwendung. Ernest Wichner ist auch da. „Du antwortest wohl nie auf emails“, sag ich. Er: „Ich wußte nicht, w a s.“ Es ging um meinen Vorschlag, gegen 400 Euro monatlich jeden Samstag oder Sonntag im >>>> Literaturhaus Berlin ARGO vorzutragen, und zwar den gesamten Rohtext bis zu seiner Fertigstellung - so etwas habe ich seinerzeit während der Entstehung des WOLPERTINGERs in Frankfurt schon gemacht, damals freilich in privatem Rahmen. Mit der neuen Aktion würde ich gerne die wöchentlichen Fahrtkosten Bamberg-Berlin finanzieren, einmal ganz abgesehen von der publizitären Wirkung eines solchen Unternehmens. – Immerhin, Wichner hat nicht abgelehnt, wir wollen in der nächsten Woche wegen der Sache telefonieren.
Ricarda unterhält sich währenddem bei Schwartzkopff mit >>>> Su Schleyers Gefährten M., der mir immer wieder meine SoftwareProbleme löst und in der kommenden Woche meinen Laptop für Bamberg auf Vordermann bringen will. Das werden wir in irgend einer der kommenden Nächte tun. Der wichtigste Satz jetzt, M. spricht ihn aus: "D i e DDR hat es nie gegeben."
Verabschiedung Ricardas, die zurück nach Jena muß. Ich ziehe weiter zu Schöffling, finde aber keinen Gesprächseingang. Auch bei Dumont ist niemand, mit dem ich reden könnte; nur Christian Döring sitzt herum, von dem ich weiß, daß er Dumont verlassen wird. Außerdem halten wir eh nicht viel voneinander. Ich werd in der nächsten Woche mal, ebenfalls wegen ARGO, bei dem neuen Programmleiter Marcel Hartges anrufen. An Luchterhand renne ich offenbar dauernd vorbei. Bei Schwarzkopff Buchwerke fällt mir dann eine junge, ausgesprochen elegante Dame auf; wenige Zeit später sitzt sie im Gespräch mit der tisch 7-Verlegerin Bettina Hesse. Ich habe den Impuls, sie anzureden, drücke ihn aber weg. Stehe mit meinem Jungen einige Zeit bei den schönen Bildbänden von >>>> Schwarzkopf & Schwarzkopf, Adrian ist ganz fasziniert. Abgesehen davon flirtet er bereits wieder mit einer jungen, leicht gothic herausgemachten Frau hinterm Tresen; Adrian steht auf Vampire. „Ich muß noch mal weiter“, sag ich ihm, „magst du mitkommen oder lieber hier die Bilder weiter angucken.“ „Bilder angucken, Papa“, sagt er. Ich bin recht sorgenfrei seinetwegen, er findet sich schon zurecht. Und sowieso hab ich ihm in die Hosentasche einen kleinen Zettel mit der Standnummer von tisch 7, mit seinem Namen und meiner Mobiltelefonnummer gesteckt – falls er sich verlaufen sollte in den Massen, kann er irgend jemanden ansprechen, der mir dann Bescheid gibt oder ihn zu tisch 7 bringt. Der Sechsjährige ist ausgesprochen selbständig.
Ich bleibe fast eine halbe Stunde weg; als ich dann doch unruhig werde und die paar Gänge zu Schwarzkopf & Schwarzkopf zurückschreite, steht Adrian tatsächlich immer noch dort und blättert völlig begeistert in einem Folianten über die Kostüme der star wars-Serie. Ich bestelle es mit Kollegenrabatt, ganz glücklich sieht der Junge aus. Leipzig-Buchmesse-6Und weil es der jungen Dame hinterm Tesen leid täte, müßte Adrian nun eine Woche auf die postalische Büchersendung warten, gibt sie ihm das schwere Album einfach gleich mit. Überglücklich trägt er es von nun an immer mit sich herum – er schleppt es, muß man sagen. Leipzig-Buchmesse-8Darüber ist sogar der Milchzahn ganz vergessen, der ihm heute noch vor der Leipzigfahrt beim Frühstück ausgefallen ist und den er – in einem Blechdöschen hat er ihn mitgenommen – eigentlich so gut wie jedem auf der Messe zeigte, mit dem er in Kontakt kam.
Frank Niederländer von tisch 7 fährt uns schließlich zum Bahnhof. Dort steht die junge Dame, die mir vorhin so aufgefallen war, ich grüße, wir fangen zu reden an, aber sie ist in Eile, braucht noch ein Tickett. Auch sie muß nach Berlin. Kommt mit dem Automaten nicht recht klar, ich greife ein, schließlich stehen wir für die ganze Fahrt im ICE-Bistro, Adrian guckt „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ weiter, und sprechen und sprechen. Wir tauschen Adressen, Telefonnummern. Daß sie einen Shakespeare-Vornamen hat, geht mir noch lange nach. Ich kann nicht anders und schreib ihr, als Adrian bereits auf seinem Hochbett schläft, noch eine SMS; flugs kommt eine SMS zurück. Eine bezaubernde, zugleich ausgesprochen zielgerichtet wirkende Dreißigjährige, die auf ihrem Internet-Kontakt als Lieblingsmusik Bachs Cello-Suiten und Schuberts späte Streichquartette nennt (klar hab ich noch gegoogelt) und die neben ihrer äußeren Schönheit eine starke innere ausstrahlt – wie soll einen Mann das nicht benehmen? Wir werden heute telefonieren. In die Rosenkavalier-Premiere an der Komischen Oper am 2.4. möchte sie jedenfalls m i t. Fein.
Das, liebe Leser, war, im Eildurchgang niedergetippt, ‚meine’ diesjährige Buchmesse Leipzig.

Nochmal “Moral”: Elfriede Jelinek. Buchmesse 2004 (3).

Zwei Lektoren sitzen zusammen, ich süffele von meinem Sekt. Sagt die Lektorin stolz, sie habe für eine Klassiker-Gesamtausgabe über Delf Schmidt einen kleinen Text Jelineks bekommen. Antwortet der Lektor: „Da sind hoffentlich k e i n e Schweinereien drin.“

[„ANH muß doch nur die Sexstellen streichen, dann ist das ganze Problem doch vom Tisch.“
]

Das verbotene Buch: Buchmesse 2004 (2).

Ein eigenartiges Gefühl, der Amoralist der neueren deutschen Literatur zu sein. Von allen Seiten die Berichte, wie sich hinter den Türen Lektoren und Kritiker gefetzt: „Was der Herbst da gemacht hat, das d a r f man nicht machen“... aber keiner k e n n t eigentlich das Buch, Ulrich Greiners, der das Buch a u c h nicht kennt, Verdikt, ich hätte „Vertrauensmißbrauch“ begangen (an sich schon kein literarisches Argument), hat sich in die ... nein, „Köpfe“ kann man das nicht mehr nennen... – also: hat sich in das hineingesetzt, was die Leute da oben tragen. Jemand aus einem ziemlich großen Verlag greift (bei anderer Gelegenheit) die Pressesprecherin von marebuch an: „Wie konntet ihr einen solchen Roman herausbringen? Ihr hättet das schon im Vorfeld stoppen müssen.“ Die junge Dame fragt nach den Gründen. Und der Mann sagt: „Der Skandal ist, daß die Sprache großartig ist, daß die Konstruktion großartig ist. Aber das Buch ist unmoralisch.“ Die junge Dame verteidigt den Text, und aufgebracht setzt der Lektor sich von ihr weg. Es geht also gar nicht um „Vertrauensmißbrauch“, sondern um eine Moral-an-sich. Die hat selbst befreundete Journalisten ergriffen: „ANH muß doch nur die Sexstellen streichen, dann ist das ganze Problem doch vom Tisch“, so wurde mir das zugetragen.
Moral scheint wieder Thema zu werden, in gleichem Maß übrigens, wie die Realität sie aufweicht und wir sie anderswo, in den Glaubenskriegen nämlich, mit Füßen treten. Eine Freundin, die aus dem Hebräischen übersetzt, bietet einem anderen großen Haus ein reich bebildertes Kinderbuch an. Dessen Geschichte geht so: Eine Familie mit zwei Kindern. Die Mutter verdient das Geld, der Vater ist Hausmann, er wäscht, er bügelt. Eines Tages besucht man einen Zirkus, von dem der Vater so begeistert ist, daß er seine Familie verläßt und mitzieht, Jonglieren lernt, Messer zu werfen lernt usw. Jede Woche bekommen seine Kinder eine Postkarte von irgendwoher, aus Rio, aus Mexiko City, aus Vancouver und Kairo. Und auf jeder Postkarte ist der Vater anders zu sehen: als Hochseilakrobat, als Feuerschlucker. Nach einem Jahr kehrt der Mann zurück und nimmt seine Position in der Familie wieder ein, wäscht wieder, bügelt wieder... nur mit dem Unterschied, daß er den Grill im Garten nun mit großen geblasenen Feuergesten entfacht, und die Pfannkuchen wirft er zehn Meter hoch, wobei sie fünfzehn Loopings machen. Der deutsche Verlag lehnt das Buch als unmoralisch ab: ein Vater dürfe seine Familie nicht verlassen, solch eine Vorstellung sei Kindern nicht zuzumuten. Die Geschichte positiv darzustellen, sei ja geradezu eine Aufforderung an reale Väter, sich verantwortungslos davonzustehlen. (Als bestünde eine wirkliche Verantwortung gegenüber dem Kind nicht auch darin, etwas zu sein. Ihnen Grund für Stolz und Staunen zu geben.) – Man kann den Leuten so ein Urteil nur um die Ohren schlagen.

Genau das Gleiche reflektiert sich in den Verdikten um mein verbotenes Buch. In Deutschland hat sich die Verdrängungs-Moral der protestantisch-sektiererischen USA eingeschlichen, die der rigiden Ausschlußmoral des fanatischen Islamismus mitunter erschreckend parallelgeht. Wir ziehen bloß nach. Erst im Umbau der ökonomischen Leistungsgesellschaft, dann in der Seele.
 



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