Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

e   Marlboro. Prosastücke, Postskriptum Hannover 1981   Die Verwirrung des Gemüts. Roman, List München 1983    Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger. Lamento/Roman, Herodot Göttingen 1986; Ausgabe Zweiter Hand: Dielmann 2000   Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2001   Wolpertinger oder Das Blau. Roman, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2000   Eine Sizilische Reise, Fantastischer Bericht, Diemann Frankfurtmain 1995, dtv München 1997   Der Arndt-Komplex. Novellen, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1997   Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1998 (Erster Band der Anderswelt-Trilogie)   In New York. Manhattan Roman, Schöffling Frankfurtmain 2000   Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin Verlag Berlin 2001 (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie)   Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, Schreibheft Essen 2002   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Bis Okt. 2017 verboten)   Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Poetische Features, Elfenbein Berlin 2004   Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen, tisch7 Köln 2005   Dem Nahsten Orient/Très Proche Orient. Liebesgedichte, deutsch und französisch, Dielmann Frankfurtmain 2007    Meere. Roman, Letzte Fassung. Gesamtabdruck bei Volltext, Wien 2007.

Meere. Roman, „Persische Fassung“, Dielmann Frankfurtmain 2007    Aeolia.Gesang. Gedichtzyklus, mit den Stromboli-Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage ohne ISBN, Galerie Jesse Bielefeld 2008   Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen, Manutius Heidelberg 2008   Der Engel Ordnungen. Gedichte. Dielmann Frankfurtmain 2009   Selzers Singen. Phantastische Geschichten, Kulturmaschinen Berlin 2010   Azreds Buch. Geschichten und Fiktionen, Kulturmaschinen Berlin 2010   Das bleibende Thier. Bamberger Elegien, Elfenbein Verlag Berlin 2011   Die Fenster von Sainte Chapelle. Reiseerzählung, Kulturmaschinen Berlin 2011   Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks Bern 2011   Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I, Kulturmaschinen Berlin 2012   Isabella Maria Vergana. Erzählung. Verlag Die Dschungel in der Kindle-Edition Berlin 2013   Der Gräfenberg-Club. Sonderausgabe. Literaturquickie Hamburg 2013   Argo.Anderswelt. Epischer Roman, Elfenbein Berlin 2013 (Dritter Band der Anderswelt-Trilogie)   James Joyce: Giacomo Joyce. Mit den Übertragungen von Helmut Schulze und Alban Nikolai Herbst, etkBooks Bern 2013    Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman. mare 2015.   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Seit Okt. 2017 wieder frei)
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HOERSTUECKE

Das ungebändigte Leben (1). Pressetext des WDRs.



Das ungebändigte Leben ODER Der wilde Romancier.
Ein poetisches Hörstück zum Werk Helmut Kraussers.
Von Alban Nikolai Herbst.
Der 1964 geborene Helmut Krausser ist ganz sicher einer der wichtigsten deutschen Schriftsteller der Gegenwart und zugleich einer der am wenigsten bequemen. Schon früh mit seinem großen Roman „Melodien“ (1993) bekannt geworden, deuten Titel wie „Fette Welt“ (1992), „Thanatos“ (1997) und „Eros“ (2006) an, welchen Energien Kraussers Leidenschaften gelten. Er ist durchaus das Gegenteil des zurückgezogenen Autors. Zugleich Schachmeister und musikalisch hoch gebildet stört er den normierten Buchbetrieb so feurig wie intolerant immer wieder auf. Unterdessen hat er tatsächlich so etwas wie eine unerbittliche Fangemeinde.

Foto: dpa/Farin.
In einem durchkomponierten Spiel aus Zitaten, Interviews, Fiktionen und Musik entwirft Alban Nikolai Herbst ein Portrait Kraussers, worin Leben und Werk so miteinander verschmelzen, dass sich Krausser bereits selbst als eine literarische Figur ansehen ließe.

Donnerstag, der 1. Dezember 2011.
23.05 Uhr, >>>> WDR III.
Redaktion: Imke Wallefeld.

Der Beginn des Krausser-Hörstücks im Typoskript. Das ungebändigte Leben (12).


PROLOG 1

ANH
Der wilde Romancier oder Das ungebändigte Leben. Ein poetisches Hörstück zum Werk Helmut Kraussers.


Pause. Leersignal.

Broßmann
(leise und abwehrend:) Ich bin ein ruhiger Mann, in meinem Leben passiert eigentlich nichts.

Pause.
Sehr leise eingedimmt: Musik. (Manon, Akt IV)

ANH
Europa geht in die USA, um zu sterben.

Musik weg.

Chohan
Gewidmet der Manon Lescaut.

ANH
M e i n e Vorliebe. Ich meine: auf Puccini werden wir noch zu sprechen kommen.

PROLOG 2

O-Ton. (Atmo: Wind, Gebüsch)
Broßmann
Das Wollen tost, doch die Hand ist ein scheuendes Pferd, erregt und ungezähmt. Tausende Bilder und Bildchen schießen aus den Äckern, jedes möchte zuerst versorgt sein, jedes zieht andere Bilder nach sich, mein Gedächtnis hebt sich zu einer Flut, sucht mich zu überspülen. Ruhig, Pferdchen! Ruhig! Mit Sporen und Streicheln zwing ich‘s in sanften Trab – daß es mit mir gehe durch die Jahrzehnte eines Daseins, von Anbeginn bis heute. Mein fünffingriges Pferdchen – ich reite mit ihm durch die Länder der Erinnerung, durch Sumpf, Wald und Auen, will nirgends halten, alles fließt vorbei, von dort, das Pferdchen weiß es, komm ich her.1

Pause.

ENDE DER PROLOGE.

Atmo: (Berghain)

ANH
(grob:) Handeln wir mal ab - damit das erledigt ist: (kleiner rhetorischer Vorhalt:) Helmut Krausser, geboren 1964 in Esslingen am Neckar. Deutscher Schriftsteller. Das Datum und der Ort seines Todes stehen noch aus.
_____________

1Krausser, Melodien 629


DAS INNEN EIN HOTEL. Von Alban Nikolai Herbst. WDR 3, 14.7.2011, 23.05 Uhr.


openWortlaut:

Das Innen ein Hotel.

Ein Hörstück für Ricarda Junge und einhundertfünfzehn Stimmen
auf das Requiem von Mozart.
Von Alban Nikolai Herbst.

Texte: Ricarda Junge.
Musik von Bob Dylan, Melissa Etheridge, Jacques Datin & André Heller,
Shiela Nicholls, Heather Nova, Dolores O'Riordan, Noel Hogan und The Cranberries,
sowie von Wolfgang Amadeus Mozart.

Komposition und Regie: Alban Nikolai Herbst.
Redaktion: Imke Wallefeld.
WDR 3.
23.05 Uhr.



Das Innen ein Hotel (17): Die letzte Abmischung. Mit einigem Gefissel.

Vierte-Montage-300611
>>>>> Gestern konnte dann Entwarnung gegeben werden: der erwartete USB-Stick mit der An- und Absage der Redakteurin lag endlich im Briefkasten. Aber schon beim ersten Abhören wurde ein Problem klar, und zwar in der Aussprache meines Namens. IW sagt immer, in allen drei Versionen, „Nikolà” statt „Nikolai”. Damit begann dann der heutige Arbeitstag: wie gebe ich der Frau ein „i”. Das Problem war mir nie aufgefallen, denn als ich dachte, na gut, dann kopiere ich die Aussprache aus der An- oder Absage des >>>> Romantikstücks, finde ich dort genau die gleiche Aussprache vor. Weshalb mir das im Dezember nicht aufgefallen ist, weiß ich nicht, vielleicht wegen des Zeitdrucks, der da vorgeherrscht hatte; Sie erinnern sich vielleicht... nein, können Sie nicht, weil ich mich ja auch da schon, und zwar >>>> für beinah zwei Wochen, eines Hörstücks wegen aus Der Dschungel zurückgezogen hatte; jedenfalls auch da hatte der USB-Stück mit An- und Absage einen irre langen Postweg gebraucht; ebenfalls mein eigener Stick, den ich mit einer Kontrollversion des Hörstücks an die Redakteurin zur Abnahme geschickt hatte, kam erst viel zu spät beim WDR an, so daß wir, wegen eines Aufenthaltes in Frankfurtmain, einen „Ersatztransfer” über den Hessischen Rundfunk vornehmen mußten. Nun könnte man „natürlich” direkt den Weg übers Netz ins Intranet des WDRs nehmen; der ist aber sehr verständlicherweise für Außenteilnehmer rigide eingeschränkt. Also muß eine andere Lösung her, für die Zukunft.
Jetzt jedenfalls muß ich mit dem fehlenden „i” entweder leben, oder ich finde ein kommodes Programm, das Zeitdilatationen erlaubt, so daß sich verschiedene „i”s eingrenzen und dann ans „Nikolà” dranmontieren lassen, um schließlich die beste Version zu nehmen. Das einfachste wird aber die Dropbox sein: IM spricht einfach den Namen nochmal und schickt mir das File dann abends privat. Für die Montage selbst wird das, weil es sich um vielleicht eine Zehntel- oder nur Hundertstel-Sekunde handelt, keine Bedeutung haben.
Damit muß ich jetzt erst mal leben. Um halb zwölf wird eh mit der Redakteurin telefoniert.
Also: Erst einmal die An- und Absagen in die Montage kopieren, fein abmischen und dann noch zweimal das Ganze anhören, erst als Montage-selbst aus der Montagedatei, dann herunterkomprimiert auf mp3 und im Player auf die Frage abgehört, wie das Stück denn in einer weniger genauen Auflösung klingt, wie ich sie für die meisten Radiohörer voraussetzen muß.

Nachtrag im >>>> Arbeitsjournal um >>>> 22.49 Uhr.


Das Innen ein Hotel (15): Der Titel.


DAS INNEN EIN HOTEL.

Ein Hörstück für Ricarda Junge und einhundertfünfzehn Stimmen
auf das Requiem von Mozart.
Von Alban Nikolai Herbst.

>>>> Ausstrahlung:
14. Juli 2011, 23.05 Uhr.
WDR III




Das Innen ein Hotel (14). Montage II. Erstes Abhören zu vier Ohren.

Noch gefällt mir die Lösung nicht, die ich wegen des sich stark in den Vordergrund drängenden Verkehrslärms mithilfe einiger Filter umgesetzt habe; an sich müßte hier jetzt wirklich ein Fachmann dran, um Schnipsel für Schnipsel durchzuarbeiten. Andererseits ist’s die Gelegenheit, meine Programmmöglichkeiten autodidaktisch durchzuprobieren. Und wiederum fiel es Ricarda Junge nicht auf, die bis eben hierwar, weil ich sie zu einem Sicherheits-Abhören hergebeten hatte. Es ist einiges Persönliches in dem Stück, auf das es sich, meine ich, in der Konsequenz meiner Vorstellung von Nähe – auch und gerade für Poetiken – nicht verzichten läßt; aber mir war und ist die Zustimmung der Autorin überaus wichtig.
Ja. Es lief gut. Ich scheine sogar zu einigen Texten genau die Musik gelegt zu haben, die zu ihnen gehört. Einmal lachte Junge deshalb auf: „Das du ausgerechnet d a s gewählt hast! Wie konntest du wissen..?” - Konnte ich nicht, es war nur Instinkt. Sie wiederum war schon am Abend unseres Aufnahme-Gespräches deutlich überrascht gewesen, daß mir >>>> „Eine schöne Geschichte” derart gefallen hatte. Wir kennen uns ja lange, aber sie hatte es mir nie zu lesen gegeben und von mir aus war ich deshalb nicht drangegangen. „Ich hab das nicht geglaubt.” - Es ist nicht nur ihr bestes, sondern überhaupt ein Buch, das hervorragt. Das schrieb ich ja schon.

Jetzt geht es zurück an die Fisselarbeit, noch eine Dreiviertel Stunde. Dann holen mich Frankfurtmainer Freunde für den gemeinsamen Abend ab, die fürs Wochenende in Berlin sind.


Das Innen ein Hotel (12): Nach dem Rohling die Montage I. Zeitprobleme mit Mozart, sowie die Obdachlosen.

Am Sonntag war ich dann abermals unterwegs, um Stimmen zu sammeln. Unterdessen war mein Zitat-Typoskript durch die vielen Häkchen und Auszeichnungen derart unübersichtlich geworden, daß ich die restlichen Texte, die noch eingesprochen werden mußten, in einer gesonderten Datei zusammenfaßte und mit dem neuen Ausdruck auf die Straße ging. Man braucht eine dicke Haut, aber nach dreivier Abfuhren gewöhnt man sich an gelegentliche Schroffheiten, jedenfalls gewöhnte ich m i c h dran, schon, weil ich auch immer wieder sehr freundlichen Leuten begegnete, die voll Interesse waren. Bei wieder anderen herrschte eine Art Juxstimmung vor: das ist auf den Tonspuren zu merken und bringt einige (Weg)Schneiderei mit sich. Außerdem ging ein ziemlich kräftiger Wind, und Wind und Mikros mögen sich nicht. Dieses gutturale Rauschen kriegt auch kein Filter weg, oder man muß stundenlang an zwei Minuten prokeln. Diese zwei Minuten sind aber nur Elementarteilchen für das Stück selbst, nicht „echte” zwei Minuten: viele der Stimmen werden überlagert, gehen auseinander hervor oder verschmelzen miteinander – jedenfalls versuche ich, das hinzukriegen und mit den Musik-Takes, aber auch mit „Atmos” zu legieren (das sind: zu anderen Gelegenheiten aufgenommene O-Töne von Landschaftsstimmen, Regen, Schritte usw – ich hab unterdessen ein Riesenarchiv). Über dem allen (erste Spur der Montage) läuft das Gespräch, das ich mit Ricarda Junge >>>> vor der ČSA-Bar geführt habe; d a ist das Problem der ziemlich hohe Verkehrslärmpegel, der sich auch nicht mildern läßt, jedenfalls nicht, ohne Ricarda Junges Stimme mitzuverändern: es liegt ja alles auf einer Spur (einem Tonfile). Allerdings gewöhnen sich die Ohren schnell daran; wir sprechen ja auch tatsächlich vor solchen Bars und Cafés, draußen, an den belebtesten Ecken. Was das Hörstück dokumentiert, ist eben das, und die Konzentration aufs Hören läßt uns plötzlich wahrnehmen, was unser Gehirn für unser Bewußtsein ständig alles ausschaltet: es, das Gehirn, dient als Filter. Ästhetik-theoretisch bin ich mir uneins darüber, ob deshalb nicht g r a d e dieser Lärmpegel erhalten bleiben muß, zumal ihn die inszenierten Partien abfedern. Zum Beispiel: daß es eigentlich gar keine Stille g i b t, jedenfalls nicht in Städten, aber auch in der „Natur” eigentlich nicht. Welt ist Klang - damit hat die, glaube ich, >>>> Junge Deutsche Philharmonie eine Zeit lang geworben; die Postkarte stand lange hier rum (jetzt ist sie fort, irgendwo unter meinen Abeitsbergen verschüttet). „Welt ist Laut”, möchte ich sagen, „ist laut”; Südeuropäer wissen das, daß die Stille des Heins ist.

Es gibt bei Junge eine Figur, die in die rechtsradikale Jugendszene gehört: den Schnitzer. Er ist höchst ambivalent von der Autorin gebaut, denn zu Mädchen ist er auf eine verschoben-grausame Weise in hohem Maß zärtlich. Mit ihm gibt es eine theatralische Stelle, die ich fürs Hörstück dramatisiert habe, nur kurz, knapp dreiundzwanzig Sekunden lang. Diese Stelle wollte ich von jungen Obdachlosen sprechen lassen, von Punks vielleicht oder anderen, die vor den Einkaufsmärkten oder in Parks herumlungern. Ich fand dann auch eine Gruppe. Nur war der Schnitzer-Sprecher derart betrunken, daß man sein Lallen nur zeitweise, dann aber scharf und aggressiv, versteht. Und die anderen der Gruppe machten Unfug; schließlich weigerte sich auch noch die junge Frau, die anfangs unbedingt mitsprechen wollte, noch irgendwas zu sagen, weil ihr der Schnitzer-Sprecher auf den Keks ging. Hübsch wiederum war, daß mir ein anderer aus der Gruppe zart an den Leib ging und fragte, ob ich schon einen Freund hätte... - jedenfalls entglitt mir die Situation oder war doch dabei, mir zu entgleiten, und ich machte mich davon. Pech nicht nur für mich, sondern auch für die Gruppe, denn ich hatte vorgehabt, ihr einen Fünfer dazulassen.
Die fehlenden Partien hab ich dann im Studio von Sukov und Chohan nachsprechen lassen und mittlerweile in die Aufnahme montiert. Das Ergebnis ist anhörbar, geradezu illustrativ, aber völlig gefällt es mir noch nicht. Deshalb nehme ich jetzt, wann immer ich draußen bin, den Recorder und das eine TS-Blatt mit mir und schaue nach einer weiteren Gruppe.
Dafür habe ich eine derart grandiose Aufnahme von einem anderen Obdachlosen, daß ich ihn gerne immer wieder mal, auch für Längeres, zu meinen Hörstücken beiziehen möchte. Er hat einen geradezu seelenvollen Baß. Da er immer an derselben Stelle sitzt, wenn das Wetter es zuläßt, werd ich ihn drauf ansprechen.
Interessant übrigens ist, daß die doch sehr herausgehobene Schnitzer-Figur Junges, ohne die >>>> der ganze Roman gar nicht denkbar wäre, in keiner der seinerzeit erschienenen, insgesamt und zu recht sehr guten Kritiken auch nur erwähnt wird. Man geht mit Tabubrüchen auf zweierlei Weise um: entweder, man schlägt zu und grenzt aus, oder man nimmt sie nicht wahr:: verdrängt sie.

Dann gibt es ein objektives Problem: Die Sendung soll 54:40 lang sein. Ich habe als Gerüst des Stücks aber Mozarts Requiem genommen, das in meiner Aufnahme 55 Minuten dauert; >>>> da ist jetzt eine Lösung zu finden. Bevor ich aber die An- und Absage-Takes nicht habe, die von der Redakteurin gesprochen und direkt in das Stück integriert werden sollen, kann ich ohnedies keine Endfassung herstellen. Daß ich diese Takes noch nicht habe, liegt freilich an mir; bis gestern nacht waren noch nicht alle Musiken klar, die ich verwenden würde; da nämlich Musik eine der entscheidenden Rollen in meinen Hörstücken spielt, will ich die Komponisten auch genannt haben.

Abgesehen von einem einzigen Sprecherstück, das mir thematisch nachgeklappert vorkommt und noch ganz anders als jetzt eingebaut werden muß, ist von heute an meine Arbeit an diesem Stück „nur” noch von musikalischer Natur; die Semantik hingegen steht.

[Zum weiteren Vorgehen heute >>>> siehe Abeitsjournal, 15.40 Uhr.]


Stimmen sammeln (1). Das Innen ein Hotel (9). Aufnahmetag im Prenzlauer Feld. Für Mozart.

Seit morgens um 10.30 Uhr bin ich jetzt draußen gewesen und habe Leute angesprochen, ob sie mir Zitate von Ricarda Junge in den Recorder sprechen würden; das Typoskript hatte ich selbstverständlich dabei.Skript-der-Feldaufnahmen-160611Jedesmal dieselbe Geschichte erzählen:
„Darf ich Sie einen Moment stören?”
Bisweilen kam schon dann ein schroffes „Nein!”. Fragten die Menschen aber, worum es denn gehe, kam fast immer eine Aufnahme dabei heraus: vor den Cafés an den Tischen, direkt auf dem Gehsteig, auf einem Spielplatz, im Pratergarten zuletzt; den Mauerpark habe ich heute nicht mehr geschafft.
Unangenehm allerdings eine dicke, mürrische Frau: „Ich bin Kollegin” sagte sie gleich nach meinen Eingangssätzen. Sie saß in Begleitung zweier Freundinnen, deren eine mich sehr freundlich betrachtete und sicherlich mitgemacht hätte, wäre die Dicke nicht so abweisend gewesen. „Ihre Aufnahme wird sowieso nichts”, sagte sie in einem bis zur Selbstnatur internalisierten Dafaitismus, „bei diesen Hintergrundgeräuschen.”
„Auf die kommt es mir aber an”, erklärte ich. „Auch. Und Sie würden sich wundern, wie klar trotzdem die Stimme zu vernehmen ist.”
„Das wird nichts”, beharrte sie. „Ich bin Profi.”
„Dann hören Sie sich das Ergebnis doch an am 3. Juli”, antwortete ich.
„Keine Lust”, sagte sie, „und sowieso keine Zeit. Jetzt schon gar nicht. Wir”, sie meinte die freundliche Freundin, „haben uns seit Wochen nicht gesehen, da will ich mich nicht stören lassen.”
Sie wußte, merkte ich, daß es nur um zwei Minuten ging. Es war ihre Mißgunst, was sie mich abweisen ließ, vielleicht auch Neid.
Anders eine andere Kollegin, die ebenfalls im Pratergarten saß, jünger, gutaussehend, frisch: „Ich arbeite für den >>>> rbb. Was haben Sie vor?”
„Ich inszeniere ein Hörspiel für den WDR über die Bücher Ricarda Junges. Dazu habe ich aus den Büchern Zitate herausgesucht, die ich jedes von einer anderen Stimme einsprechen lassen möchte. Die Stimmen werden dann collagiert. Ich stelle mir eine Art Chor vor, über dem klar die Stimme der Autorin als einzige identifizierbar ist. Die einzelnen Teile werden zu einem Teppich zusammengesetzt und mit Musiken legiert.”
„Tolle Idee! Da mach ich gerne mit.”
Dieses ‚tolle Idee’ kam heute öfter. Oft aber auch G’schamigkeiten, Scheu.
Dennoch. Im „Kasten” habe ich jetzt von Schülern über Künstler und Angestellte einen Anwalt, einen Lehrer, Journalisten, meinen Bäcker und meine Fußpflegerin sowie die mütterliche Freundin, die in ihrer Praxis aushilft, bis hin zu zwei Obdachlosen ein enormes Spektrum aus verschiedenen Alterstönen und ebenso verschiedenen Gesellschaftsschichten. Dazu noch ein paar „abstrakte” O-Töne: Menschengemurmel, Rauschen, zweieinhalb Minuten das Plätschern eines kleinen Springbrunnens.
Da das Skript mit all den gelben Häkchen, den roten Auszeichnungen der Studioaufnahmen sowie den schwarzen Zeichen der bereits vorher aufgenommenen Sammelstimmen allmählich unübersichtlich geworden ist, brach ich die Aufnahmen für heute ab; eventuell werde ich aber heute spätabends noch einmal hinausgehen und vor ganz anderen akustischen Hintergründen weitere, vielleicht die letzten nötigen Stimmen sammeln – oder fangen, denn auch das kam vor.
Sicher ist unterdessen auch der Rahmen, in den ich das Stück montieren werde: Mozarts Requiem in der Ausgabe von Beyer; auf >>>> Ricarda Junges Musik-CD fanden sich bei allem anderen zwei Stücke daraus; so ist das gerechtfertigt. Die Spielzeit des Hörstücks wird der Spielzeit des Requiems entsprechen und wird ebenso in vierzehn Abschnitte unterteilt sein, entsprechend den Sätzen Mozarts vom Introitus bis zur Communio. Weiter gehe ich in der Zuschreibung allerdings nicht, jedenfalls sieht meine Planung das noch nicht vor. Das kann sich aber noch ändern.

Nun, jedenfalls, steht die nächste Schneidearbeit an, die ich auf jeden Fall morgen zuendebringen will. Siebenundachtzig verschiedene „Fremd”stimmen habe ich jetzt schon, werde also mit Leichtigkeit auf über einhundert kommen.

[Nachtrag, 23.06 Uhr:
Weiteres zu den heutigen Arbeitsprozessen >>>> siehe Arbeitsjournal.]

Das Innen ein Hotel (8): Schneidetag.


„Ich rede nicht über mein Schreiben eigentlich. Wenn ich über das Schreiben spreche,
schwingt das für mich immer mit, daß das was unheimlich Zerstörerisches ist,
aber das ist nicht das Schreiben selbst.”

Schneidetag-1Schneidetag-2
Schneidetag-3

„Der Tod, das Sterben, ist etwas, das mich immer sehr fasziniert hat.
Und gleichzeitig ist es n i c h t der Tod und das Sterben. Das ist nur das, wie wir das nennen.”


Nachtrag zum Dienstag. Erster Produktionstag, ARD Hauptstadtstudio, 14. Juni 2011, 14 Uhr. Das Innen ein Hotel (7).

[Zum >>>> Arbeitsjournal.]

Die Idee ist nach wie vor, jedes Zitat aus >>>> Ricarda Junges Büchern von einer anderen Sprecherin, einem anderen Sprecher sprechen zu lassen, quer durch die Stimmlagen und -alter; dazu, als sozusagen Basso continuo, Junges Stimme die einzig durchgehend identifizierbare über dem Teppich ihrer fremdgesprochenen Texte, aber davon einzelnes wiederum von ihr mitgesprochen. Deshalb bat ich sie, die gesamten Zitate ebenfalls einzusprechen, aber nun „sauber” in Studioakustik. Hinzu kommt, daß ich das O-Ton-Gespräch, das ich >>>> am Sonntag transkribiert habe, ganz ähnlich behandeln will: auch hier soll sich Junges Stimme bisweilen über den O-Ton erheben oder aus ihm hervorgehen oder in ihn wieder eingehen. Also kopierte ich Passagen aus dem Protokoll in eine gesonderte Sprecher-Junge-Datei und ließ auch sie von der Autorin einsprechen.
Also sie holte mich von der Arbeitswohnung ab, wir fuhren gemeinsam zum Studio rüber. Anderthalb Stunden sind für die vielen Passagen recht knapp, zumal es für Junge das erste Mal war, daß sie aus ihren Büchern in ein Mikrophon las. Sie war nicht nervös, aber hinterher einigermaßen geschafft: „Das habe ich nicht gewußt, wie anstrengend das ist!” Mit ein paar kleinen Tricks brachte ich sie in verschiedene Sprecherhaltungen und -perspektiven, damit der Klang variant werden konnte, ohne daß man elektronisch herumspielt, was ich ohnedies nicht sehr schätze.
Die Technikerin, diesmal, blieb unpersönlich, aber war selbstverständlich genau. Die Unpersönlichkeit lag schlichtweg daran, daß ich dieses Stück, anders als viele frühere Arbeiten, ausgesprochen modular produziere; es gibt kaum eine Chance der Identifikation für Dritte, weil man sich nicht einmal vorstellen kann, was das werden wird. Denn ein Sendetyposkript liegt noch nicht vor, kann also nicht mit Projektionen gefüllt werden. Was ich gestern im Studio machte, blieb in der Tat rein technisch. - Das erste File schnitt die Technikerin noch selbst, das zweite, sehr viel längere, werde ich selbst schneiden müssen. Das ist mir auch ganz lieb so, weil ich die Klänge dabei gut in den Kopf bekomme und dann auch gegenwärtig in mir halte.

Zu den Arbeitsdateien auf dem Laptop drei Sicherungen angelegt, eine auf dem USB-Stick, die zweite auf der externen Back-up-Platte, die dritte auf der Hörstück-FP.


 



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