Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

e   Marlboro. Prosastücke, Postskriptum Hannover 1981   Die Verwirrung des Gemüts. Roman, List München 1983    Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger. Lamento/Roman, Herodot Göttingen 1986; Ausgabe Zweiter Hand: Dielmann 2000   Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2001   Wolpertinger oder Das Blau. Roman, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2000   Eine Sizilische Reise, Fantastischer Bericht, Diemann Frankfurtmain 1995, dtv München 1997   Der Arndt-Komplex. Novellen, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1997   Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1998 (Erster Band der Anderswelt-Trilogie)   In New York. Manhattan Roman, Schöffling Frankfurtmain 2000   Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin Verlag Berlin 2001 (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie)   Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, Schreibheft Essen 2002   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Bis Okt. 2017 verboten)   Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Poetische Features, Elfenbein Berlin 2004   Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen, tisch7 Köln 2005   Dem Nahsten Orient/Très Proche Orient. Liebesgedichte, deutsch und französisch, Dielmann Frankfurtmain 2007    Meere. Roman, Letzte Fassung. Gesamtabdruck bei Volltext, Wien 2007.

Meere. Roman, „Persische Fassung“, Dielmann Frankfurtmain 2007    Aeolia.Gesang. Gedichtzyklus, mit den Stromboli-Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage ohne ISBN, Galerie Jesse Bielefeld 2008   Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen, Manutius Heidelberg 2008   Der Engel Ordnungen. Gedichte. Dielmann Frankfurtmain 2009   Selzers Singen. Phantastische Geschichten, Kulturmaschinen Berlin 2010   Azreds Buch. Geschichten und Fiktionen, Kulturmaschinen Berlin 2010   Das bleibende Thier. Bamberger Elegien, Elfenbein Verlag Berlin 2011   Die Fenster von Sainte Chapelle. Reiseerzählung, Kulturmaschinen Berlin 2011   Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks Bern 2011   Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I, Kulturmaschinen Berlin 2012   Isabella Maria Vergana. Erzählung. Verlag Die Dschungel in der Kindle-Edition Berlin 2013   Der Gräfenberg-Club. Sonderausgabe. Literaturquickie Hamburg 2013   Argo.Anderswelt. Epischer Roman, Elfenbein Berlin 2013 (Dritter Band der Anderswelt-Trilogie)   James Joyce: Giacomo Joyce. Mit den Übertragungen von Helmut Schulze und Alban Nikolai Herbst, etkBooks Bern 2013    Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman. mare 2015.   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Seit Okt. 2017 wieder frei)
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Konzerte

Ostertöne 2010 2.-5. April 2010 „…Luft von anderem Planeten …“ Die Elbphilharmonie-Konzerte 2009/2010.

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„Ich fühle Luft von anderem Planeten“ heißt es in Stefan Georges Gedicht, das Schönberg in seinem zweiten Streichquartett vertont hat, - demgemäß sich langsam entfernend von der tonalen Harmonik, von ihren „irdischen Fesseln“ frei. Im 20. Jahrhundert jagen sich musikalische Innovation und Revolutionen. Noch ist damit kein Ende, so sehr die Entwicklungen durch Darmstadt und Donaueschingen ausgereizt zu sein schienen. Zu den >>>> Hamburger „Ostertönen“ hatte der Komponist Marc Andre die Möglichkeit, noch weitere interessante Erweiterungen moderner Ausdrucksmittel zu zeigen. „… zu …“, „…als…“ .auf…“ betitelt er seine Kompositionen, die alles Klang- und Geräuschpotential eines großen Orchesterapparates nutzen, darin eingebunden eine Elektronik, die einen Dialog mit den Orchesterinstrumenten direkt aufnimmt: Andres „… das O …“ für vier Stimmen, Kammermusikensemble und Live-Elektronik, das nach Ingmar Bergmanns „Das siebente Siegel“ komponiert worden ist, eroberte im Auftaktkonzert das Publikum im Sturm. Zwischen Brahms’ op. 74,1 für gemischten Chor a cappella, seiner Rhapsodie für Altstimme, Männerchor und Orchester op. 53 (solistisch mit in allen Nuancen gewohnt sicher modulierender Stimmführung und tief durchdachter Interpretation des Textes: Waltraud Meier), sowie nach dem „Schicksalslied“ war die Neugier auf das abschließende „…auf…“ sehr groß - ein Triptychon für Orchestergruppen und Live-Elektronik, dessen drei Teile auch separat aufführbar sind. Christian Tetzlaff spannte vermittels des Brahms’schen Violinkonzerts abermals den Bogen zur Avantgarde. Nun mögen manche für die „Ostertöne“ behaupteten Bezüge konstruiert erscheinen, zumindest hat Brahms mit Marc Andre gemein, dass beide keine Note dem Zufall überlassen, die nur ein Fremder Inspiration nennen würde: Zu komponieren bestehe aus 90 % Arbeit, und 10 % „Inspiration“.
Die nunmehr fünften Hamburger Ostertöne haben sich nicht nur als Festival jetzt etabliert, sondern dieses war sicherlich das bisher beste. Dazu trugen nicht zuletzt das Quatuor Diotima bei, das Alban Bergs Lyrische Suite und Helmut Lachenmanns drittes Streichquartett mit äußerster Spielintelligenz darbot, sowie die Sopranistin Anja Harteros und das ensemble recherche. Vielleicht noch einen kleinen Vorblick auf 2011: Bereits geladen sind Mischa Maisky, Julian Rachlin und Mojca Erdmann, sowie das Jerusalem String Quartet.

Rithaa – ein Jenseitsreigen II. Maerzmusik Berlin 2010 (5). Et Ecce Terrae Motus von Brumel (~ 1500) und Goldberg (2010).

Rithaa-4

„Arabische Klagegesänge und Trauermusik” ist >>>> Mela Meierhans’ Komposition bescheiden untertitelt, die in diesem Jahr im >>>> Basler Gare du Nord uraufgeführt worden und mehr als berechtigterweise gleich zu den Maerzmusiken eingeladen worden ist. Es handelt sich um den zweiten Teil einer Trauer-Trilogie, deren erster, „Tante Hänsi” genannt und im Jahr 2006 uraufgeführt, Trauerrituale der Innerschweiz, las ich, aufgenommen und, sage ich, klanglich verwandelt habe. Rithaa-2Auch dort schon scheint auf Rituale focusssiert worden zu sein, die ihrerseits aussterben – so, wie in diesem zweiten Teil der Musik arabische Rituale des Klangs und Gesangs. Man kann insofern sagen: eine doppelte Trauerarbeit, indem die Trauer selbst stirbt und nun dieses es ist, was musikalisch betrauert wird. So etwas ist eine archivierende Ästhetisierung zu nennen, logischerweise, weil es nicht um Dokumentation geht, sondern darum, ein eigenständiges Musikkunstwerk zu schaffen, das nicht verschweigt, welcher Zeit es zugehört. Auch wenn nämlich die im arabischen Raum unterdessen bekannte, stark von >>>> der berühmten ägyptischen (Volks-)Sängerin Oum Kalthoum beeinflußte >>>> Kamilya Jubran mit einigem Gewicht an dem Projekt beteiligt ist, handelt es sich nicht um das, was als „Weltmusik” nur allzu oft zu Ethnokitsch wird, zu industriellem Multikulti-Pop, sondern es ist k e i n e Collage der Beliebigkeit, vielmehr hat Meierhans die Klänge (das ist grammatisch eine Verdopplung, ich weiß, sie soll aber verdeutlichen:) zusammen- tatsächlich -komponiert und damit eine Trauermusik geschrieben, die ohne falschpathetische Aufwallungen und, darf man sagen, meditativ still Traditionen zweier großer Kulturen ineinander verschränkt, welche auch wirklich, aus ihrer Geschichte, zusammengehören, wobei der abendländische Kontext, aus dem Meierhans herausfühlt, das auch tatsächlich ist, nämlich geprägt von etwa Pierre Boulez, Rithaa-3indes der orientalische ganz nahe am Volk bleibt. Was damit zusammenhängt, daß der strenge Islam weltliche Musik wenn nicht verboten, so doch wenigstens in ihrer Entwicklung stark behindert hat. Das bezieht sich auch auf die Poesie: Mohammed hatte die Klageweiber verboten, somit verharrte die Entwicklung auch der für die Rituale, die vorwiegend weiblich dominiert waren, geschöpften Trauergedichte für lange Zeit im Vormittelalter, beharrte aber offensichtlich ähnlich zäh wie der europäische Volkswille zur Marienheiligung, der sich überhaupt erst 1950 (!) mit Aufnahme Mariae im Himmel durchsetzen konnte (ich möchte gerne eine ähnliche Zähigkeit für die islamische Frauenbewegung erhoffen, die es ja ebenso gibt wie Widerstandskämpferinnen in Palästina). Dennoch, die Fragen, die aus solcher Poesie herausklingen, sind die immergleichen geblieben: Was ist von mir übrig?Rithaa-1Frau Meierhans verwendet für ihr Projekt nicht nur ein in seiner Zusammenstellung synkretistisches Instrumentarium, das Alphorn trifft aufs Santur, die Oud spielt zum Cello, sondern darüber hinaus werden auf drei hinter dem kleinen Orchester aufgespannte Projektionsflächen Bilder von Sand geworfen, von Händen, die über ihn streichen, dann wieder fließen die drei, nein vier großen Sprachen des Abends bildlich, kalligraphisch, ineinander, Arabisch, Englisch, Deutsch, Französisch; mitunter scheinen sie auseinander hervorzufließen und illustrieren nicht, nein bühnenspielen, wozu das Orchester des >>>> ensemble dialogue die Seele gibt. Dann wieder treten Musiker beiseite, an den Rand des Podiums, nehmen leise Platz, und Frau Jubran singt alleine zu ihrer Oud oder im Dialog mit Françoise Rivallands Santur, einem der Zitter nicht unähnlichen Perkussionsinstrument; einmal sogar ist der arabischen Trauerfrau Nawal Noah filmisch Raum gegeben – immer unaufdringlich, immer diskret. So sitzt man tatsächlich in einem Klang- und Bildraum, der die Wiedervereinigung der Geschwisterkulturen über gemeinsames Trauern ermöglicht, ihm jedenfalls einen Weg bereitet, der derart sinnlich evident wird, daß man sich hinterher fragt, wie es habe zu solcher Entfremdung überhaupt kommen können, und wir fühlen sie mit Traurigkeit. „Es wird keine öffentliche Trauer geben, sagt Kreon in Antigone” - diesem sich leitmotivisch durch die ganze Komposition ziehenden Diktum setzt sich die Tradition des Volkes entgegen, denn Trauer, das hörten wir gestern nachmittag, i s t ein öffentlicher Akt: er ist es, der uns alle verbindet.

nimm mich zu einem Land, das vom Tod verhüllt ist.
Mein Körper ist Wehklage.
(Salman Masalha)

Großartig.Et-ecce-2

Möglicherweise lag >>>> Clemens Goldbergs Et Ecce Terra Motus, Und plötzlich bebte die Erde, das nachts im >>>> Berliner Radialsystem uraufgeführt wurde, eine ähnliche Idee zugrunde; hier aber ging es gründlich schief. Nicht, daß nicht das >>>> Ensemble Musica Universalis berührend hinreißend gesungen hätten; Brumels Messe, die Goldbergs „utopischer Musik im Angesicht des Untergangs” als Ausgangspunkt dient, ist von einer geradezu unerhörten Schönheit, was besonders wirkt, wenn wie gestern aus dem nahezu Dunklen herausgesungen wird, wobei die Stationen der Liturgie durch verschiedene Orte im Raum versinnbildlicht werden. Das ist schlüssig. Nicht schlüssig, sondern bizarr vor Absurdität, ist das Unternehmen, das Osterrantiphon, das die semantische Quelle dieser Renaissance-Messe ist, mit einer Bildercollage des jüngst zusammengestürzten Kölner Stadtarchivs zu koppeln und auch noch Zeitungsberichte darüber zwischen die liturgischen Sätze zu sprechen, als handelte es sich um Sakraltext. Du mein Gott! möchte man rufen: die Verluste an Schriftgut mögen beträchtliche sein, meinetwegen... Anlaß zu menschlicher Trauer aber, der Hoffnung gegeben werden müsse, sind sie nicht, und zwar um so weniger, als das gerade in Chile stattgefundene Erdbeben schon faktisch ein völlig anderes Unglück ist, um von dem eigentlichen Nichtkonkreten, nämlich der Menschlichkeit an sich, der die Messe Ausdruck schenkt, gänzlich zu schweigen. Das minikleine Kölner Unglück („Plötzlich hört er Schreie aus dem Stadtarchiv”) auch nur in Verbindung damit zu bringen, ist rundweg geschmacklos und wäre, wär es nicht wieder so lächerlich, gröbste Blasphemie. Aber damit hörte das Elend nicht auf. Sondern nun wurden quer aus der Literatur Erdbebentexte derart zusammengesuriumt und bedeutungsschwanger hinzuprosodiert, daß mit einem Mal auch das Grauen von Tschernobyl als Erdbeben gilt, es ist einfach nicht zu fassen - so wenig zu fassen, daß man dem Liturgie-und Bildersampler Clemens Goldberg seinen postmodernistisch aufgechicten Quatsch nur noch um die Ohren klatschen will. Der Mann sollte büßen. Der Mann sollte für ein Abtestat sein Honorar nach Chile überweisen. Wenigstens >>>> Misereor wäre dann dankbar und der Abend bekäme im Nachhinein einen fürwahr menschlichen Sinn. S o aber läßt sich nur ausrufen: Ach! Ach, wie schade um diese große Musik! Ach! Wie schade um die Sänger!Et-ecce-1
Maerzmusik 4 <<<<

Zweimal g a n z-große Musik. Und einmal eine für Demokratie. Maerzmusik Berlin 2010 (4). Holliger, Zimmermann und Kessler. Staatskapelle Weimar, Philharmonie Berlin.

„Kein Abend ohne Schubbe”, jambelte ich, als ich als allererstes Jens Schubbe in der Philharmonie traf, der als Dramaturg für einige der mutigsten Opernveranstaltungen am >>>> Konzerthaus Berlin mitverantwortlich zeichnete; er hatte ein Ohr für meine Art Humor und entgegnete sachlich: „Gestern abend, >>>> Arditti, da haben Sie etwas verpaßt.” „Es geht einfach nicht alles”, erwiderte ich, „seit >>>> Anfang der Leipziger Buchmesse habe ich meine Familie kaum mal zwei Stunden gesehen... wenn es hochkommt.” „Das Schicksal a l l e r Festivalbesucher.” Na gut, Schicksal ist als Wort ein bißchen hochgemetzt, aber im Prinzip stimmt es. „Ah, S i e sind Herr Herbst!” atmete die junge Dame am Pressetisch, man ist einfach als publizierender Netzbürger wer andres als in der Wirklichkeit, in der man Geruch hat, Stimme hat und außerdem dadurch, je nach EmpfängerMentalität, erschreckt oder berückt, daß man sich gibt, wie man ist (wie aber ist man? - stimmt a u c h wieder) - jedenfalls kriegte ich einen Kuli geschenkt. Das kann man als Korb sehen, aber auch als Aufforderung, meine Adresse aufzuschreiben. Tatsächlich, lassen wir den kleinen Flirt einmal beiseite, hatte ich meinen Stift am Schreibtisch liegengelassen und hätte mir ohne jetzt dieses „Geschenk” keine Aufzeichnungen machen können.
Die ich mir trotzdem nicht machte – bzw. waren es nur wenige, weil >>>> Heinz Holligers Musik, der ich zum ersten Mal begegnete, als ich fünfzehn war (>>>> „Siebengesang”), derart fesselnd ist und dabei von einer großen Schönheit, die sich niemals zerfasert... erstaunlich hier, weil Tonscherben die kurzen Motive ja gerade ständig zersplittern läßt; doch ist dabei gar keine „Entropie”, eher stellt sich im Ohr das Gegenteil her: Zusammenhang, schwingendes Kontinuum, wenn auch ohne ein auf Anhieb, schon gar ausgeführt identifizierbares Thema. Die Musik beginnt mit einer Art Schlag, und sofort ist die ganze Aura dieser „Orchester-Fragmente” genannten Komposition da: schon steigt aus ihr eine seltsam „weltmusikalisch” von Percussion durchsetzte Seligkeit auf, dreiklängig, hatt’ ich den Eindruck, breiter werdend, die Bläser in Wellen, die sich geräuschhaft auflösen, ja zerflirren. Eine Peitsche knallt. Es wird sehr still, Musik wie eine Handlung, die sich immer wieder erheben möchte, aber immer wieder wegsinkt. Abermals der Versuch einer großen Geste: nicht ernüchtert, nur vorsichtig: so wird erwidert. Die Bläser blasen kräftig, aber stumm, man hört alleine die Atemgeräusche. Für diese Art Musik ist der Saal der Philharmonie, der gut besetzt, wenn auch nicht ausverkauft war, wie geschaffen (n o c h besser, überhaupt den akustisch perfekten Saal hat die Kleine Philharmonie, aber für sie war die Besetzung zu groß)... Sahnig die Celli dann, erzählend, wegbrechend... ein Tasten über die Trommel; und Heinz Holliger, unterdessen alt geworden, aber weißGöttin viril, hebt die Hände mit zählenden Fingern... Es gibt in Tonscherben absolut keine Redundanz, aber die Konzentration führt nicht ins Abstrakte, sondern alles ist e i n Klang.
Damit ging es schon mal los.
Das waren knapp fünfzehn Minuten, mehr nicht, überhaupt war das Konzert zu kurz. Aber nach dem Kessler, der es abschloß, wurde mir klar, weshalb man eine Pause da hineintat. Der Unterschied wäre, Holliger und Zimmermann hier, Kessler dann da, eine zu unsensible Dramaturgie ja Blasphemie gewesen. Zumal Zimmermann mit dem R e l i k t eines Sinfonieorchesters operiert; seine letzte Orchesterkomposition vor dem Freitod (was soll an so etwas „frei” sein?) hat Lücken in die Besetzung geschlagen, man schaut die Ruine bürgerlichen Konzertlebens an, doch die Musik, percussiv wie von einem Generalbaß unterlaufen, gibt Naturlaute vor, repetierend, übrigens, was hier durchaus für „meditativ” stehen mag, trotz der Jazz-Elemente und dem Akkordeon quasi als Orgel (kaum spürbar); auf eine vertrackte Weise erinnert Stille und Umkehr an Debussys Faun: Luft, die über Getreidespitzen flirrt. Als wäre die Welt in diesem warmen, schwerwarmen Mittag stillgesetzt. Von der Seenfläche steigt’s dunstend, doch ganz k l a r hinauf. Fernrufe zur Flöte, Grummeln in den drei Kontrabässen. Eigenartig märchenhaft, von den Depressionen, die Zimmermann zur Zeit der Komposition gequält haben müssen, gar keine Spur. Wahrscheinlich ist diese diejenige, die dem Thema des gesamten Festivals am nächsten kommt: Utopie, aber n i c h t als Verlorene, was das Programmbuch in Klammern hinzusetzt. Nein, sondern: als erfüllte. Selten habe ich solch ein Einverständnis gehört und selten wurde Adornos Satz, es sei kein wahres Leben im falschen möglich, derart sinnlich widerlegt. In der Musik i s t es möglich. Vielleicht ist das überhaupt des Wesen aller guten Musik, es, ohne daß sie lügen müßte (es verkitschen müßte), zu beweisen: indem sie’s fühlbar macht. Indem ich Stille und Umkehr soeben wiederhöre, möchte ich eigentlich weinen. Nein, das ist n i c h t sentimental, und auch kein Kitsch. Man wird nur, Wundern gegenüber, sehr bescheiden. Und dankbar. Es hat seinen Grund, daß ich Zimmermann >>>> dort einen Theologen nannte. Nichts hätte man direkt hiernach mehr aufführen dürfen; wir b r a u c h t e n die Pause. Auch wenn kaum eine halbe Stunde vergangen war.

PAUSE

Dann >>>> Thomas Kesslers Utopia. Ein kleines Kaliber, das mag sein, auch wenn die Ruine wieder restauriert und um Moderne in Form vieler Laptops, die bei den Musikern standen, zum Fortschritt zurückschritt, der ohne Zitate nicht denkbar zu sein scheint. Über die Laptops konnten die wichtigsten Stimmen sich im Raumklang modulieren, die Komposition, was bei Kessler nicht wundert, inszeniert die Mehrfachkanäle: oft war nicht mehr auszumachen (und sollte es auch nicht), woher ein Klang denn nun wirklich kam. Nicht nur aber Elektronik war im Saal verteilt, sondern auch Orchestergruppen spielten auf den Rängen dem Konzertpodium zu; Utopie hier, wenn denn schon, war Dezentrierung. Die Formulierung klingt theoretischer, als es der sinnliche Eindruck vermittelt, der einen in dieser Musik durchaus baden ließ, bisweilen auch mit untergetauchtem Kopf. Es war da viel Lärm, viel Geschehen. Was den deutlichen Nachteil hat, daß man in der enormen Zahl der angespielten Motive auch als „Eingeweihter” schnell mal die Übersicht verliert und eigentlich zu einer ganz Kesslers Utopie entgegengesetzten Meinung findet: daß die erstrebte Autonomie jeder Einzelstimme („jedes einzelne traditionelle Orchesterinstrument” ist, schreibt Kessler im Programmbuch, „mit einem individuellen live-elektronischen Setup […] verbunden und bildet damit eine autonome Einheit mit eigenem Lautsprecher”) dem Verständnis eines auch nur gefühlten sinnvollen Ganzen entgegensteht; einmal abgesehen davon, daß die Realisierung der Idee auch der Monitore bedarf, bzw. dem höchst entfremdeten Moment, Musiker mit Kopfhörern spielen zu lassen, die ihnen wenigstens einen Eindruck von dem vermitteln, was sie da gerade zu tun im Begriff sind. Als Hörer wiederum hält man sich in dieser Art von Gesamtklang geradezu dankbar an einer aufsteigenden Gregorianik fest, einfach, weil man sie wiedererkennt, auch wenn sie sich sehr schnell elektronisch noch weiterverfremdet; ebenso an Fragmenten, die aus der Spätromantik herausklingen. Undsoweiter. Unterm Strich erlebten wir deshalb ein zwar durchweg spannendes, nie langweiliges Experiment von permanent geschichtetem Klang, kompositorisch gute Musik, ich will das gar nicht bestreiten. Aber die Entindividuation, die hier in gutster Absicht als Individuation, ja als eine Emanzipation angestrebt ist, kommt über ihre klangliche Behauptung letztlich nicht hinaus. Wie laut auch immer sie sich einfordern und welche Mittel, ob „Ringmodulator”, ob präpariertes Klavier, sie technisch einsetzen kann: auch dreihundert Lautsprecher hülfen hierbei nicht weiter. Das Publikum, übrigens, hat das anders gesehen. Denn der Applaus ließ alle Stille und Umkehr vergessen.Maerzmusik-2010-Holliger-Kessler
>>>> Maerzmusik 2010 (5)
Maerzmusik 2010 (3) <<<<


>>>> Maerzmusik Berlin 2010.

Maerzmusik Berlin 2010 (3). Dieter Schnebel zu Ehren, um Ingeborg Bachmann zu ehren: Mild & leise/ultima speranza: Vor Afrika Richard Wagner.

Für >>>> Dieter Schnebel: Matthias Osterwold, >>>> .]

Er ist einer der großen alten Männer der Neuen Musik, Theologe, wie es Bernd Alois Zimmermann war, und von derselben, kompositorisch, Freizügigkeit im Umgang mit den musikästhetischen Doktrinen, Freigeist muß man sagen, selbst als Theologe, schreibt das Programmbuch, Atheist: ja, geht denn das? Und wenn es geht: was bedeutet es? Ungebunden gebunden zu sein? Schnebel hat eine Art, das Geräusch in die Musik hineinzunehmen, ein liebevolles Verständnis für den, der im Tristan einschläft und leis ins Mild&Leise hineinschnarcht, und daß man husten muß, wo doch Achtung & Hochachtung hätten zu walten, Verehrung... die Seufzer zumal, fast schon ein Weinen, womit gleich der Anfang dieser späten Komposition, die die ältere von 2003 nun fortsetzt, den Klang auf das Leiden des Menschen legt, das immer auch Begehren ist. Folter heißt gleich das erste nachgelassene Gedicht Ingeborg Bachmanns, das Schnebel für Mild&Leise vertont hat; es ist k e i n e Verharmlosung, das eine Leid ins andere hineinzunehmen: Leid als Erfahrung. Wohl aber ist es eine entschiedene Positionierung für die - eigene – Musikgeschichte, die bei einem solchen alten Mann g e l e b t e Musikerfahrung ist, indessen: eine im Rückblick. Man wird nicht „Neues” erwarten können mit Recht. Wir hören denn auch eine Art Bilanz, zu der die Fahrradklingel ebenso gehört wie der satte Celloton, der gestern abend auf wahrlich beeindruckende Weise immer wieder einmal den Klang des vollen spätromantischen Orchesters aufscheinen ließ, kontrastiert von einem des ausgebreiteten Schlagwerks mit Holzknarre und Glocken sowie Jazz-Sax, in dem ich, fassungslos vor solcher Nähe, Wagners Hirtenflöte aus der ersten Szene des dritten Tristan-Aufzuges wiedererkannte, und die ihrerseits zitierende, vom Komponisten durch eine geringfügige Einfügung textlich entmythete Bachmannzeile Wagners (Tot denn [ist] alles) klingt wie aus einem verrauchten Jazzclub herauf. Wobei allein schon frappiert, welche Bedeutung Wagners Oper für die späte Bachmann gehabt zu haben scheint, als wäre sich die Dichterin darüber todesklar gewesen, welche Bedeutung sie für die Musik, nämlich die Seele, gehabt. Wie sie, die Bachmann, mit Wagners Textdichtung umgeht (Tot denn [ist] alles. Alles tot,/Und in meinem silbernen Brustkorb/schimmelt der vergiftete Apfelputzenschnitz,/der nicht mehr hinunterging), genau so tut es Schnebel in dieser späten Komposition: drei Themenmomente sind es, die er im ersten, später entstandenen Teil seines Musikstücks immer wieder durchspielt und denen er eine melodische Rhythmikhaltung nicht entgegensetzt, nein, sondern: um die er sie ergänzt: einen Klang, der von Brecht/Weill herüberweht und die Todessehnsucht mit einer Weltlichkeit versöhnt, die tanzhaft aufmupft und jedenfalls nicht ans Sterben denkt. Dafür steht auch, daß der früher entstandene zweite Teil des Stückes, er ist kürzer, entschieden mehr drängt, die Besetzung ist auf Klavier, bzw. Keyboard, Saxophon und Schlagwerk ausgedünnt, bedient deshalb keinen spätromantischen Streicherklang; entsprechend geringer ist die in den Ton gefaßte Sterbesüße, die im ersten Teil der Komposition die Musik bisweilen in einem Delta auseinanderfließen läßt, das vielleicht ein bißchen zu sehr von Wagners Akkordik bestimmt ist: als flösse alles da hinein, als wäre s ie das Meer, in das die Kompositionen-an-sich münden. Schnebels Mild&leise/ultima speranza ist vor allem ein Stück über „die” Musik selbst. Jüngere, mit allem Recht, können entgegnen, die habe gar kein Ende, jedenfalls nicht, solange s i e noch leben; und die nächste werden das ebenfalls sagen und so fort. Indes Schnebel mit dem Blick des endenden Lebens, das aber liebhat und nicht, >>>> wie Brahms, „Alles ist eitel” sagt, sagt: „Es wird eine Zeit sein, da auch ihr ankommen werdet.” Das ist nicht pessimistisch, eher im Gegenteil, und geht um so mehr ins Ohr, als das Thema der Komposition der Tod nun gerade i s t.
Es gibt in Schnebels Bachmann-Vertonungen eine Tendenz zum Ohrwurm; im Nachhören ist das ein wenig, für mein Empfinden, zu viel. Das mag überempfindlich sein, aber vermittelt vor allem im ersten Teil des Stücks etwas seltsam Familiäres, eines, das Thomas Mann gemeint haben mag, als er (für die Walküre) von der „Kuhstallwärme der Musik” schrieb, was etwa >>>> dem Kurtág des Vortags völlig abging, und Scelsi ja sowieso, ohne daß diese beiden das Menschliche für die Musik geopfert hätten. Wogegen sich ja Schnebel immer aufrichtete. Doch auch Berios berühmte Sinfonia und Henzes Jahrhundert-Tristan opferten es nicht; dennoch stehen ihre Stücke ihren Komponisten selbst fern, unterdessen, stehen längst für sich allein und brauchen ihren „Schöpfer” nicht mehr. Ob eine solche Behauptungskraft auch Mild&leise/ultima speranza eignet oder ob die Komposition nicht doch eher an Dieter Schnebels Person gebunden bleiben wird, dies zu beurteilen, ist sicher nicht mein Recht – wohl aber, eine leise Skepsis diesbezüglich anzumerken, einfach weil Schnebels spätes Musikstück gerade in seinem ersten Teil so sehr von Wagner bestimmt ist, daß ich mich auch und gerade im Nachhören des Eindrucks nicht erwehren kann, Wagner sauge sie auf: sie gehe, fühle ich, in den Stoffwechsel dieses anderen Kosmos’ so sehr hinein, daß schließlich nur noch er bleibt, ja sich davon, wie von so vielem anderen, weiterernährt. Bachmann aber schreibt: „sei hart”:

Ich rufe Dich von der Straße,
komm, hab schwarzes Haar, sei jung,
sei hart, tu weh, hier wo alle blond sind,
terra nova, Africa, ultima speranza.

Schnebel-UA-220310
[Susanne Otto, Stimme.
Trio Accanto
Yukiko Sugawara, Klavier
Marcus Weiss, Sexophon
Christian Dierstein, Schlagzeug
-----------------------
Kirsten Harms, Violine
Helmut Menzler, Violoncello]
>>>> Maerzmusik 4
Maerzmusik 2 <<<<
>>>> Maerzmusik Berlin 2010.

Michael Gielens Manfred. Konzerthausorchester: Schumann, Mahler, Tschaikowski, Konzerthaus Berlin 13. März 2010.

When the moon is on the wave,
And the glow-worm in the grass,
And the meteor on the grave,
And the wisp on the morass;
When the falling stars are shooting,
And the answer’d owls are hooting,
And the silent leaves are still
In the shadowas on the hill,
Shall my soul be upon thine,
With a power and with a sign.
Lord Byron, Manfred.

Hochachtung, unabweisbare Ehrerbietung: Sie mochten sich gar nicht erheben, die Musiker des Konzerthausorchesters, nachdem Tschaikowskis leidenschaftlicher Manfred ausgeklungen war, befeuert von der beim Dirigat energischen, gleichzeitig strengen wie glühenden Präzision des unterdessen alten Mannes, der gar kein Problem damit hat, drei Orchester gleichzeitig zu führen: im linken Kopfhörer-Hörer das eine Orchester, im rechten das andere, und vor ihm direkt spielt das dritte. Ich erinnere mich sehr wohl seiner Frankfurtmainer >>>> Soldaten, die er auch uraufgeführt hat. Seine Mahler-Interpretationen waren mir oft zu analytisch, was ich wahrscheinlich schnell mal als „kühl” mißverstehe, andererseits hat der Mann ja vollen Umfangs recht, wenn er bemerkt, für die Musik dürfe man gern das Gehirn bemühen: „Musik bietet die Möglichkeit, der Wahrheit zu begegnen. Und die ist nicht immer angenehm.” Wahrscheinlich hat Gielens Auffassung, auch in der strikten Verweigerung von Entertainment, mich in den Achtzigern stärker geprägt, als ich das wahrhaben mochte. Und nun sah ich ihn wieder, nach vielen Jahren (die geniale Lulu an der Staatsoper nehme ich mal aus und den ein bißchen abfällig behandelten Bellini am selben Ort). Seine Einsätze sind atemberaubend, und das Orchester folgt jeder Weisung aufs Fingertippen, man kann sagen: hängt an Gielens Lippen. So groß ist diese gelebte Autorität, die zumal jeglichem Rummel um seine Person aus dem Weg gegangen ist. Wer sich ein ungefähres Bild des Mannes verschaffen will, lese >>>> seine Erinnerungen.
Gielen klammert Mahler zwischen Manfred; schon das ein spannendes, denkerisches Moment des Abends. Dem aufgewühlten Sturm und Drang, bei Tschaikowski dann mit einem ausufernd wüsten, auch schreiend lautstark wüsten Tosen von manisch und depressiv in seine Komposition, will ich sagen: wütend hineingepreßt, stehen Mahlers Klagelieder gegenüber, nein, sie stehen darin, und Gielen mäßigt hier, es ist keine Vorführung, sondern bei ihm wird das Stück lamentationes: erlösend, weil der schon bei Rückert ergreifend mitgedachte Gott utopisch einkomponiert ist, ein sehnsuchtsvoller Kinderglaube, von dem Manfred ausgeschlossen blieb: „By the delight in other’s pain,/And by the brotherhood of Cain,/I call upon thee! And compel/Thyself to be the propper hell!” Hanno Müller-Brachmann singt die Lieder vorgebeugt, selbst seine Hände haben etwas ringend-Betendes, es ist allezeit, wie wenn er um etwas bäte. Als bäte er um Gehör für das, was Manfred verschlossen bleiben mußte. Und steht doch für jeden, der die (Nach-)Geschichte der Lieder kennt, in einem um so verzweifelteren Zusammenhang. Nein, das darf man nicht als Reißer geben, da dämpft man die Kraft, was dem Orchester unter Gielen sowieso gelingt, Herrn Müller-Brachmann durchweg auch, wenn er in der Bruststimme bleibt; die Höhen, leider, muß er etwas drücken. Doch ist da ja eben auch die Verzweiflung, die genau das wieder rechtfertigt. Und man fragt sich, insgesamt: was wird erzählt? Man geht später hinaus, weil eben auch Tschaikowski l e i s e endet, und fragt sich das weiter. Und fragt es sich noch jetzt.
Gielen heizt das Orchester auf, in gewissem Sinn erfüllt Tschaikowski, was Schumann so ganz noch nicht loslassen will. Dabei läßt Gielen keinen Matsch zu; es ist vielleicht von poetischer Gerechtigkeit, daß im Schlußsatz die einkomponierte Orgel erst nicht wollte; vielleicht hat sich gestern abend sogar die Technik hinter Michael Gielen gestellt. Es wäre zumindest als Erfindung wahr. Die Repetitionen des Hauptthemas sind in deutlich aufgefächerte, hart durchmusizierte Strukturen eingebunden: daß Gielen das so herausarbeiten läßt, schützt die Komposition vor dem Pomp, in dessen Gefahr sie sich begibt; die Fuge in Satz III steht dafür paradigmatisch. Man merkte dem Orchester aber auch sowas von an, daß jeder genau wußte, an was man da beteiligt war. Meine Güte, diese Klarinette! Und die tiefen Saiteninstrumente, Bratschen inklusive, beharrten auf ihren gegeneinander eben nicht zu vermischenden Characteren – bis ins manchmal erschreckend harte Schrummen der Bässe. Selbst das gezierte Thema des Zweiten Satzes verliert jedes Handtäschchen am Handgelenk: man meint einen Tanz und nicht die Travestie, Gielen-und-das-Orchester-klein-auch wenn es eines bösen Zaubers Tanz ist, der „bound thee; o’er thy heart and brain together hath the word been pass’d – now wither!” Klaus-Heinz Metzger schrieb einmal zu Weberns Bagatellen op. 9: „Wahrere Musik wurde nie geschrieben.” Jedenfalls hat niemand je ein wahreres Dirigat geschlagen als Michael Gielen. Das wußten sie alle, die gestern mit dabeigewesen. Und die es hörten, fühlten es.


Roger Norrington dirigiert die Junge Deutsche Philharmonie: Bartók, Brahms und ein Wagner. 9. März 2010, Philharmonie Berlin.

Noch niemand spricht von „Dienst”, wenn dieses Orchester Konzerte gibt. Wie die Berliner Philharmoniker w ä h l t man seine Dirigenten, und die sind stolz, einige auch glücklich, die jungen Musiker dirigieren zu dürfen - schon weil die Rede von Arbeitsverträgen und eben „Dienst”zeiten noch nicht ist, deretwegen manch berühmter Dirigent in Deutschland nicht auftreten mag; nichts von Tarifverträgen, Überstunden und all dem übrigen für einen Alltag aber ja doch nötigen Kram, wenn man zum Beispiel Familie hat, für die das Wort „Freizeit” nicht inhaltsleer sein kann – kurz: noch keine andere Routine als die der künstlerischen Arbeit, die Routine eben drum nie wird. Bei der >>>> Jungen Deutschen Philharmonie.
Einverständnis ist das erste, was mir immer wieder auffällt, wenn ich diesen Philharmonikern zuschau und -hör. So auch >>>> gestern abend im leider nicht ausverkauften Saal der Philharmonie Berlin; das macht, wiederum, aber nichts: macht nichts wegen des Einverständnisses, das Musiker, die heute nicht mitspielen (aber sie werden es morgen), für den CD-Verkauf auch mal die Kasse halten läßt; eine strahlende, jugendliche, klasseschöne Pressefrau begrüßt mich am Tisch; strahlen tut auch Norrington, na ja, lächeln tut er, so knapp vorm Auflachen immer, vor Musizierfreude dauernd, auch am Pult, ein irgendwie gemütlicher „daddy for all”, dem man die Präzision seiner Arbeit so überhaupt nicht ansieht, nicht die Härte, die er den Klangkonturen verleihen läßt, die Unnachgebigkeit, mit der er Weichzeichner wegignoriert, so daß Konturen Konturen auch sind. Besonders zu hören war das bei Brahms, dessen Dritter diese Auffassung die analytischen Strukturen zurückgibt: die motivische Arbeit des Komponierens, Durchführung muß das genannt sein und Materialität – eben: Ton und Klang als Stein, den einer behaut. Was so als „Weltanschaung” im musikalischen Halo mitschwingt, wird in diesem Netzwurf überhaupt erst gefangen, nicht v o r dem Fang schon eingeholt. Man mag das nüchtern nennen, das ist es aber nicht: sondern erfüllt, wiewohl aus der Wiederentdeckung der Alten Musik hervorgearbeitet, ein Diktum der frühen Moderne, das sehr bewußt gegen die Aufblähungen der Spätromantik (ACHTUNG! Zeit des Nationalismus, sich perfektionierende Warengesellschaft und verschleiernder Gründerschmock. ACHTUNG!) gestellt worden war: daß man im fertigen Werk auch die Baustelle sehe, aus der es entstanden:: daß sie Teil des Kunstwerkes sei und es bleibe. Was ein Gegenentwurf auch zur „poststabilierten” Harmonie der Klassik (und der Postmoderne) ist. Norringtons legendäre Inszenierungen der Beethoven-Sinfonien schlugen den, ausgerechnet b e i der Klassik, ein- für allemal in den Boden.
Analytisch auch Bartóks Zweites Violinkonzert, das ein für die Zeit und Bartók selbst vergleichsweise konservatives ist; es liegt nahe, einen Reißer daraus zu machen, auch wenn das zweite Thema des Stücks mit den zwölf Tönen spielt. Norrington läßt hier einen Akzent aufs Melancholische setzen, während Carolin Widmanns Geige nur so dahinrast; es gibt geradezu >>>> schattenhafte, hätte Mahler geschrieben, Momente im zweiten Satz, dann fächert sich der Klang impressionistisch auf und saugt die Geige ein in seine, danach klingt es, „freitonale Melancholie”. Die Musikalität, mit der der Pauker spielte, hätte auch ihm einen Sonderapplaus einbringen müssen. Bracht’ es aber nicht, weil Widmanns Virtuosität so gestrahlt hat. Hätte nicht „Papa” Norrington dauergütig gelächelt und mitapplaudiert, es wäre insgesamt zu merken gewesen, welch ein Knochenjob – also welch ein Beruf das ist, den alledie jungen Musiker zu ihrem Leben machen wollen. Und man wäre ein wenig, vielleicht, schockiert gewesen.
Nicht zu begreifen aber, weshalb man als Zugabe Wagner gab, Lohengrin, Vorspiel Aufzug III. Es ist um so weniger verständlich, wenn man die bis heute nachwirkenden Auseinandersetzungen zwischen „Brahmsianern” und „Wagnerianern” kennt. Denn das vibratolose, sozusagen reine Spiel Wagners machte das Stück so roh, wie es sich der Mob vorgestellt haben mag, bevor er loszieht, um den Geist zu lynchen: „schmissig” hätte meine Oma gesagt. Grobes, hohles Pathos mit knallenden Posaunen, das vor allem aus dem dramaturgischen Zusammenhang des Musikdramas gerissen wurde und nun dastand wie des armen Liszts Les Preludes bei den Heeresmeldungen eines Tausende Jahre währenden DauerndSiegens. Und das nach Brahms’ seltsamem Versickern von Pathos, nach diesem fast aufseufzenden, nüchtern aufseufzenden „Nö, nicht weiter”, dem die Traurigkeit darüber schon zwölf Jahre früher vorausklingt, was er bei Weyermanns sagte, als er vom frischen Grab der Schumann kam: „Ach was, es ist doch alles eitel in dieser Welt. Der einzige Mensch, den ich wirklich geliebt habe, den habe ich heute begraben! Gute Nacht, meine Herrschaften!” Ja, Herr Professor Brahms. Mit diesem falsch gebrauchten Wagner. Gute Nacht.

Die nächsten Aufführungen:
Mi, 10.03.2010, 20 Uhr: Wilhelmshaven, >>>> Stadthalle 
Do, 11.03.2010, 20 Uhr: Ludwigsburg, >>>> Forum am Schlosspark 
Fr, 12.03.2010, 20 Uhr: Baden-Baden, >>>> Festspielhaus
Sa, 13.03.2010, 20 Uhr: Interlaken, >>>> Casino Kursaal


Frei, aber einsam. Die Junge Deutsche Philharmonie unter Roger Norrington.

Das klingt derart wirklich begeistert, daß Die Dschungel den Pressebrief sofort zitieren mochte und es tut:

„Eine Mischung aus Zauberer und Philosoph!“
Sir Roger Norrington und die Junge Deutsche Philharmonie.

„Da war sofort eine ganz bestimmte Atmosphäre, alle waren gebannt und auf ihn konzentriert. Er schafft es mit Kleinigkeiten, uns in unserer Konzentration so ganz nach vorne zu holen.“ Die Geigerin Florentine Lenz ist nicht die Einzige, die von der Arbeit mit Roger Norrington begeistert ist. Als Spezialist für die historische Aufführungspraxis hat er die Orchestergruppen nach der Vorstellung von Brahms angeordnet und lässt die Musiker ohne Vibrato spielen. „Es ist nicht eine Frage von etwas nicht spielen, es ist nicht ohne Vibrato, sondern mit reinem Ton“, sagt der Dirigent. Die Mitglieder der Jungen Deutschen Philharmonie können es nur bestätigen. Parallel zu den Proben befassen die Musiker sich in Projektkursen mit den Komponisten, deren Leben und Intentionen und erforschen die verschiedenen Dimensionen des „Frei, aber einsam-Seins “ - während die Atmosphäre zum Glück herzlich ist wie immer!
Jede Menge romantische Töne und spannende Bilder gibt es in dem neuen >>>> Video-Cast. Und >>>> hier finden Sie alle Programm-Details, die Aufführungsorte und Links zur Kartenbestellung.

Barenboims Mahler. Berlin, März 2010. Philharmonie und Konzerthaus Berlin.

Barenboim-Mahler-III-2

Ich habe bei Menschen mit Macht - nicht unbedingt identisch mit Machtmenschen - ein Autoritätsproblem; allein, daß sie Macht h a b e n, verlangt Rebellen, denn Macht führt nahezu immer zum Mißbrauch; es spielt keine Rolle, für was oder wen diese Macht vermeintlich oder tatsächlich steht (gegenüber Außenseitern und radikalen Querköpfen sind meine Vorbehalte geringer). Manchmal treten aber doch Mächtige in mein Blickfeld, vor denen selbst ich mich verneige. Daniel Barenboim gehört dazu - nicht nur seines musikalischen, kann man unterdessen sagen, Genies halber, sondern weil er es und seine Macht der Menschlichkeit widmet. Sie heißt immer: Politik, und die, die Barenboim vertritt, wäre ohne seine Macht nicht möglich. Kein Orchester des Westöstlichen Diwans ohne sie, aber wohl auch diese vollkommene Virtuosität nicht, die den Mann sowohl „mal eben” als Solisten >>>> beide Chopin-Konzerte „mit einer kleinen Hand”, schreibt Benn, dahinspielen, indes sich auch nicht zieren läßt, zur Nachtzeit in den Clubs Piazolla seine Referenz zu erweisen, und nicht die manchmal etwas ausgestellt generöse Art, durch Monumental-Partituren zu schwimmen, als hätt er ihre Kiemen und man müßte nur hier und dort leicht einmal steuern, wie wenn sparsamstes Justieren mit den Seitenflossen schon genügt.
So war auch das Dirigat gestern nachmittag; bisweilen sah es statisch aus, wie sahn ja nicht die Augen. Bei den Naturtönen blieb Barenboim oft einfach stehen und l i e ß die Musiker. Dort aber, wo etwas gewollt Geziertes in der Musik ist, wo sie die U-Musik ihrer Zeit – heute würde man sagen: den Pop – zitiert (denken Sie an den vom Ehepaar Mahler geliebten Léhar-Walzer aus der Siebten), erlaubt er uns die ironische Geste: kleine Verbeugung vor den Geigen anstelle des Risses, den Adorno konstatierte. Das hat manchmal etwas von angedeutetem Ausdruckstanz, ist von völliger Leichtigkeit und, ja, frei. Dafür wird er bei den Cluster-Stellen, den Klangschichtungen, ausgesprochen lebendig, und zwar auch dann, wenn die rechte Hand kaum den Takt schlägt; die linke aber, sie erzählt von der Musik. Hatte ich’s nicht s o gemeint, als ich meinem Zehnjährigen riet, der dabeiwar?: „höre dieser Sinfonie zu, als sähest du einen Spielfilm.”
Gustav Mahler, im Denken Alfred Rollers, hat immer genau den Raumklang im Ohr gehabt und setzte die Orchestermusiker je nach Spielstätte um. So nun auch hier, im Konzerthaus: Die Celli in der Mitte, die Geigen je rechts und links - und, sehr ungewöhnlich: die zwei Harfen rechts Mitte hinten, die Kontrabässe hinten links. Der Saalklang dankte das. Freilich, ich hätte vergleichen sollen: das gleiche Konzert wurde bereits am Donnerstag abend in der Philharmonie gegeben.
Barenboim schafft es, besonders im ersten, nicht nur seiner Dimensionen wegen immer ein wenig gefährdeten Satz, daß er trotz bisweilen gehaltener Tempi nie schleppt: auch hier folgt er dem Komponisten selbst, der das mit Ausrufezeichen in seine Partituren notierte, wohl wissend, welche Gefahr da droht... nicht nur in der Dritten, sondern generell. Denn der Zusammenhang der Themen und kompositorischen Verarbeitungsmodi läßt sich nicht durchweg gleich mitvollziehen; in den Schichtungen nähert sich die Komposition der Montage; zum Umschlag in die Moderne ist da nur ein kleiner Schritt. Barenboim bindet Mahlers frühe Sinfonik aber sehr bewußt zurück, nämlich an Wagner; selten habe ich den Tristan so sehr herausgehört wie gestern aus dem letzten Satz. Mag sein, daß sich Barenboim genau darüber Mahler erschlossen hat; seine ersten Bayreuther Ring-Aufführungen (ich habe sie seinerzeit aus dem Radio mitgeschnitten) gehören in all ihrer Ruppigkeit und ihrem Schmelz zu den mir liebsten Aufnahmen überhaupt. Entsprechend glättet Barenboim den ersten Mahlersatz der Dritten nicht, wodurch dann wieder, wenn er, man muß sagen: lauscht, Fernwirkungen auch innerhalb des Orchesters zustandekommen, die einen völlig benehmen in dem archetypischen Märchenton. Dafür wird das eigentliche Ferninstrument, Posthorn, dritter Satz, das aus den kargen Gängen spielt, die neben und hinter der Bühne laufen, völlig unsentimental, fast kühl vorgeführt. Und erschreckend fallende, fast gleitende Geigen: konsequenterweise spielt die Klarinette im „Urlicht”, als wär’s Klezmer. So habe ich das nie zuvor gehört. Waltraud Meier nimmt sich sanglich zurück, wird Stimme unter Stimmen, nicht Diva in dem Menschheitszug. Als sie das „erbarme dich über mich” sang, dann schwieg und sich setzte, wurde mir klar, das Erbarmen würde der folgende sechste Satz sein. Und war es. Wie Barenboim die Steicher seiner Staatskapelle da immer wieder nachdrängen läßt - er selbst eine Hand in der Hosentasche, während die Kontrabassisten so tief über ihre Instrumente gebeugt sind, als lauschten sie in sie hinein (was sie wohl auch taten)... - wahnsinnig schön gehaltene Vorausklänge an Mahler IX sodann, und plötzlich – ja, auch für die überraschend, die Mahlers Sinfonik aus dem ff kennen - da leuchtet das Veni, Creator Spiritus der Achten so viel früher voraus -
Vielleicht ist es so, daß zu den deutlichen Phasen des barenboimschen Musikerlebens seit zwei Jahren eine wiederneue hinzugetreten ist und etwas also begonnen hat, das ich seine Ära Mahler nennen will. Es wäre uns zu wünschen – vielleicht auch dem lang schon verstorbenen John Barbirolli, dessen Erbschaft hier angetreten zu sein scheint. Barenboim gibt ihr eine Jugend dazu, die aus vielgelebtem Leben stammt und aus, wichtig, unbeirrtem Zukunftsglaube.DSC000313

NordNote. Okku Kamu dirigiert Sibelius' Spätwerk. Konzerthausorchester Berlin. Konzert vom 12. Dezember 2009.

An sich, wenn Okko Kamu dirigiert, ist es gar keine Frage, ob man da hingeht. Kamu gehört, gerade auf seine minimalistische Dirigentenart, zu den Ausnahmeerscheinungen eines klassischen Musikbetriebes, worin, um das Absatzbedürfnis zu erfüllen, die Stars das Repertoire wieder und wieder rauf- und runterdirigieren. Er indessen, unterdessen, hält sich damit sehr zurück, hat’s ja auch nicht mehr nötig, sondern, so ist zu hören, schippert lieber auf seiner Yacht übers Meer, anstelle sich im Rummel ovatonieren zu lassen. Ach, das ist schon zu beneiden, wenn’s einer finanziell nicht muß und lächelnd zu verstehen gibt: Leute, leckt’s mich ... Kein unnötiges Ge- und Verbeuge, keine Verdrehungen in den Markt und auch das Showgemätzje nicht länger vor einem Publikum.
Kamu war, als junger Mann – in der Hinsicht muß man das ein Lebensglück nennen – Protegé >>>> Herbert von Karajans, das machte ihn in dem bevölkerungskleinen Finnland schnell unanfechtbar. Ein- und ausgegeangen, wie alle dort, ist aber auch e r - h i e r:DSC00012Ab 2011 wird er Chefdirigent des großen Lahti-Sinfonieorchesters werden und zugleich Künstlerischer Direktor des Internationalen Sibelius-Festivals >>>> Helsinki. Nun aber ist er hiergewesen, im Rahmen der Nordischen Musikreihe >>>> „NordNote” des Konzerthauses Berlin und des Berliner Finnland-Institutes, von der ich >>>> schon geschrieben habe und die ich ausgesprochen gerne ein wenig mit„promote”.
Man m u ß t e also hin, zumal neben Griegs Klavierkonzert-„Schlager”, ohne den wir den Namen dieses Komponisten wahrscheinlich gar nicht kennten, zwei der späten Kompositionen Jean Sibelius’ auf dem Programm standen, deren eine ich tief liebe und die ich derart schön wie gestern abend bisher nur vom Chamber Orchestra of Europe unter Paavo Berglund gehört habe: Sibelius’ eigenwillige, so klangschöne wie sperrige letzte Sinfonie, die fast erschreckend einsätzige Siebte. Aber bereits bei Hugo Alfvéns tongemalter, sicher nicht weltbedeutender, doch fantasievollster Schärensage op. 20 zeigte das Konzerthausorchester wieder, zu welch einem Klangkörper es sich schon entwickelt hat. Kamu, warmherzig distanziert, geringst in den vorausmalenden Bewegungen, wie kaum mehr als über den Gedanken zugegen, hielt die Einsätze derart geschmeidig, daß ich den durchaus nicht-modernen, etwas unscharfen Klangcharakter des Saales minutenlang nicht mehr wahrnahm; dazu, im zweiten Grieg-Satz, ein so characteristisches erstes Cello – man hielt wie im Hören ein. Dann der noch immer jugendlich wirkende Henri Sigridsson, der seine Parts deutlich mitsang und schließlich auch gar nicht mehr zu spielen aufhören mochte. Nicht nur, daß er als Zugabe ausgerechnet Sibelius’ Orchesterreißer „Finlandia” gab; an sich wäre die von Sibelius selbst transkribierte Klavierfassung ein eigener Programmpunkt gewesen; gegenüber der Orchesterkomposition hat sie den eindeutigen Vorteil, daß das aus der Zeit des finnischen Kampfes um Selbständigkeit zwar verständliche Heroische zugunsten eines härteren, weil - der deutlichen Arbeit wegen - weniger manipulativen Solismus zurückgedrängt wird: ähnlich ist es mir bisher nur bei Liszts Klaviertranskription von Beethoven V gegangen; das Solistische hebt das Corpsgeistige nämlich auf, die Komposition wird in den Einzelnen zurückgenommen.
Aber Sigridssohn wollte auch ein bisserl „réverieren” und legte Sibelius’ Fichte obendrauf:

Freilich war, „Finlandia” zu spielen, auch ideologisches Programm, wie eine Verbeugung vor Sibelius, an dem in Finnland nach wie vor keiner vorbeikommt; ein ziemlich einzigartiges Phänomen, das wiederum nur aus den politischen Zeitläuften um eine nationale Freiheit zu erklären ist und deshalb, etwa für Großbritannien, nicht einmal in Edvard Elgar eine Entsprechung hat.
Kamus Programm erfüllte aber Sigridssons indirekten Aufruf n i c h t. Denn Sibelius’ späte Kompositionen sind alles andere, als daß sie sich als Kampfuntermalung und Stechschrittmacher ge-, geschweige mißbrauchen ließen: zu dunkel der Ton, zu trauernd die Klangbilder; außerdem verläßt gerade „Tapiola” mit seiner Tendenz zur Wiederholung nicht von Melodie, sondern von unerfüllten Klangfolgen sowie mit seinen expressiven Ausbrüchen die sentimentale Übereinkunft, in die uns Griegs zweiter Klavierkonzertsatz hineingleiten ließ. So angenehm dieses auch gewesen war – ja, man darf auch ins Konzert gehn, einfach um schöne Musik zu hören -, nach der Pause wurde überaus deutlich, was Musik, außer Unterhaltung, eben a u c h ist: Ausdruck von und Suche nach Menschlichkeit jenseits kompositorischer und weltanschaulich-politischer Ideologeme. So daß Adornos kaltschnäuziges Verdikt über Sibelius um so entmenschter dasteht und man eigentlich nur noch den Kopf schütteln kann.

Das Konzert des Konzerthausorchesters unter Okko Kamu dürfte nun einer der Höhepunkte, wenn nicht d e r Höhepunkt der NordNote gewesen sein. Daß da noch Sitze freigeblieben sind, freilich, das sagt einiges über die Wahrheit der späten Sibeliusmusik. Es gibt ihr nämlich recht.

Glühende erwachsene Jugendlichkeit. Und eine Frage. Roope Gröndahl, Taavi Oramo und Tuomas Lehto im Konzerthaus Berlin.

Immer wieder, wie >>>> neulich bei Bach, fällt es auf: Erreicht in der Musik eine unerbittliche Jugendlichkeit bereits Perfektion, kriegt man zu staunen. Da ist alles noch d a und nichts zu spüren von der Abgebufftheit ins Konzertleben geschliffener Solisten, auch nichts von der sanftgesagten Ergebung des Alters, zumal hier die rigoros-zentralistische, an der alten USSR-Autokratie geschulte Elite-Ausbildung des finnischen Musiksystems, das in Europa namentlich für die Neue Musik eine ganz eigene Rolle spielt, über Technik geradezu erhaben sein läßt. Dabei hat sich Roope Gröndahls Klavierspiel noch etwas Kindliches erhalten, etwas tatsächlich kindhaft Spielerisches, das in der Ernsthaftigkeit Taavi Oramos und Tuomas Lehtos schon sehr gebunden wirkt; dieser, mit 24 der „älteste” der drei, strahlt eine erstaunliche Konzentration aus: das wird ein Weltstar werden, dachte ich. Jetzt schon warf er jene Art Abfälligkeit vom Podium, deren Wesen eine Konzessionslosigkeit ist, die den Musiken höchst zugute kommt, weil das Moment des rein Unterhaltsamen zurückgedrängt wird, ja gar keine Beachtung selbst mehr bei Beethovens Gassenhauer-Trio findet, das nun sicher nicht zu den besten Kompositionen des Komponisten gehört. Man merkt ihm den gefälligen, dadurch langweiligen Auftrags-Character zu sehr an. Dennoch, ich saß da, aufgespannt zwischen Ohr und Bild: Lehto ließ mich seiner klaren, präzisen Intonation permanent entgegenharren, mit der er begleitet; es war sie, die das Gassenhauerische immer wieder in die Musik eigenwillig zurückzog. Begleitung als Stimmführung hat was. Zudem ließ Lehto bei Sibelius’ frühem „Malinconia”, dessen Klavierpart aber nervt, weil er auf einer Glatze nicht Locken, sondern Ondulationsberge dreht, einen so weiten Ton rufen, daß besonders in seines Cellos tiefen Lagen eine ganze nordische Traurigkeit durch den Kleinen Saal des Konzerthauses glühte. Man mußte einfach nur vom Klavier weghören, dann blieb die Cellolinie rein. So wird Musik Substanz, was immer neutönende Musikideologen gegen Sibelius vorgebracht haben mögen. Innerlichkeit ist nicht formalisierbar. Daß nämlich >>>> aus der Form der Inhalt werde, stimmt nur dann, wenn der Künstler bereit ist, weder einem Publikum noch einer irgend normativen Ästhetik Konzessionen zu machen. So hat ja insgesamt die nordische Musik wenig Neigung gezeigt, sich auf kontinentale, sagen wir: Objektivitäten der Textur einzulassen; vielmehr gibt es da eine ganz eigene, einiges aus Spätromantik und Impressionismus ins Zwanzigste Jahrhundert nachziehende Klangaura, der man mit seriellen Exerzitien weder beikommt noch beizukommen versuchen sollte.
„Wir leben innen”, hat mir >>>> Magnus Lindberg in Helsinki gesagt, als ich ihn fragte, weshalb derart viele finnische Musiker so weltberühmt geworden seien; bei der Gesamtbevölkerung eines Landes, die kaum zweimal Berlin füllt, ein doch erstaunliches Faktum. Lindbergs vergleichsweise neues Klarinettentrio (2008) schloß den gestrigen Abend ab, deutlich auf die Klarinette zugeschnitten, der er schon einige Kompositionen gewidmet hat. Für den einst radikalen, „lärmenden” Lindberg höchst auffällig die tonale Sanglichkeit, die mit einer Art von Zitaten spielt, die gar keine sind, aber den Klang des Vertrauten haben und obendrein auf C-Dur hinauslaufen. Lang lang zurück, offenbar, die Zeiten >>>> „Korvat auki”s, jenes mit Saariaho und Pekka-Salonen gegründeten finnischen Vereins für zeitgenössische Musik. Bei aller wenn auch moderaten Traditionalität, der Lindberg neuerdings frönt, war sein Stück dennoch das beste das Abends. Es bleibt aber ein leises „Wozu?” im Nachhören hängen. So viel schöne Ton„malerei”, so viel Kitsch manchmal auch, vor allem, wenn man Lindbergs „Ur”-Quintett mit Elektronik dagegenhört, worin der Klarinette eine ebenfalls hervorragende Partie zugeschrieben ist. So daß mir s c h o n die Frage kam, wem sich der 1958 geborene Komponist jetzt nähern möchte. Nichts gegen die Liebe zur Tonalität, nur braucht gerade sie einen Personalstil: die persönliche Innerlichkeit. Etwas speziell „Finnisches”, wie man’s bei Kalevi Aho findet, nun vielleicht doch? Das aber konnte dem Stück selbst der junggenialische Oramo nicht geben. Doch der möchte sich ohnedies, erzählte er mir, auf eine Musikerkarriere gar nicht mehr einlassen. Zu nahe sein Familiäres, zu eng der finnische Kreis. „Eigentlich möchte ich etwas ganz anderes machen.” „Und was?” „Biotechnologie.”
.Tuomas-Lehto
Der Musik bleiben wird, dafür meine Hand ins Feuer, Lehto. Werden


[>>>> Finnland, Kleine Großmacht der Musik.]

 



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