Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

e   Marlboro. Prosastücke, Postskriptum Hannover 1981   Die Verwirrung des Gemüts. Roman, List München 1983    Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger. Lamento/Roman, Herodot Göttingen 1986; Ausgabe Zweiter Hand: Dielmann 2000   Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2001   Wolpertinger oder Das Blau. Roman, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2000   Eine Sizilische Reise, Fantastischer Bericht, Diemann Frankfurtmain 1995, dtv München 1997   Der Arndt-Komplex. Novellen, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1997   Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1998 (Erster Band der Anderswelt-Trilogie)   In New York. Manhattan Roman, Schöffling Frankfurtmain 2000   Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin Verlag Berlin 2001 (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie)   Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, Schreibheft Essen 2002   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Bis Okt. 2017 verboten)   Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Poetische Features, Elfenbein Berlin 2004   Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen, tisch7 Köln 2005   Dem Nahsten Orient/Très Proche Orient. Liebesgedichte, deutsch und französisch, Dielmann Frankfurtmain 2007    Meere. Roman, Letzte Fassung. Gesamtabdruck bei Volltext, Wien 2007.

Meere. Roman, „Persische Fassung“, Dielmann Frankfurtmain 2007    Aeolia.Gesang. Gedichtzyklus, mit den Stromboli-Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage ohne ISBN, Galerie Jesse Bielefeld 2008   Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen, Manutius Heidelberg 2008   Der Engel Ordnungen. Gedichte. Dielmann Frankfurtmain 2009   Selzers Singen. Phantastische Geschichten, Kulturmaschinen Berlin 2010   Azreds Buch. Geschichten und Fiktionen, Kulturmaschinen Berlin 2010   Das bleibende Thier. Bamberger Elegien, Elfenbein Verlag Berlin 2011   Die Fenster von Sainte Chapelle. Reiseerzählung, Kulturmaschinen Berlin 2011   Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks Bern 2011   Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I, Kulturmaschinen Berlin 2012   Isabella Maria Vergana. Erzählung. Verlag Die Dschungel in der Kindle-Edition Berlin 2013   Der Gräfenberg-Club. Sonderausgabe. Literaturquickie Hamburg 2013   Argo.Anderswelt. Epischer Roman, Elfenbein Berlin 2013 (Dritter Band der Anderswelt-Trilogie)   James Joyce: Giacomo Joyce. Mit den Übertragungen von Helmut Schulze und Alban Nikolai Herbst, etkBooks Bern 2013    Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman. mare 2015.   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Seit Okt. 2017 wieder frei)
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NOTATE

Die philosophische Grundfrage.

Ist nicht, wie ist es möglich, daß etwas sei, oder was seien die Bedingungen der Möglichkeit von etwas, sondern wie ist es möglich, daß etwas ist, daß nicht sein kann – und unter welchen Bedingungen es wird. Diese Frage erklärt, weshalb Philosophie niemals empirisch sein kann, sondern immer spekulativ ist; prinzipiell, ohne Ausnahme; sie ist n i c h t Naturwissenschaft. Es zeigt zugleich den Zerfall der Menschheit - das heißt: der Kulturen - mit der Natur, deren Teilmenge sie doch sind, und mit ihren Gesetzen, die wiederum immer empirische sind und deshalb prinzipiell bewiesen werden können. Mit ihnen zerfallen zu sein, heißt aber gerade nicht, ihnen nicht Folge leisten zu müssen. Der Zerfall ist immanent.
Dies ist der Standpunkt, von dem aus gedacht werden muß, und nicht das empirische Phänomen, das es sowieso gibt und außer aller Frage steht.

Walpurgisnacht ist.

Es ist eine heilige Nacht, die man den Neurechten noch weniger als der „Kultur“industrie überlassen darf. Beider Interessen sind reaktionär. Und beider Ziele.

Nicht einheimisch wirken wollen. Notiz aus Indien.

Goa, 23. 12. (2000). Bezüglich meines Europäerseins: Ich kehre zu den Vorstellungen des „einfachen Touristen“ zurück und mag mich fremden Kulturen nicht mehr „anpassen“, d.h. nicht mehr versuchen, sie zu adaptieren. Solche Mimikry ist anmaßend und bodenlos. (Erinnerung an die europäischen - wohl auch deutschen - Frauen, die sich während des letzten Kreuzburger Kultur-der-Nationen-Festzugs auf der Landefläche eines Lasters als Bauchtänzerinnen gerierten. Peinlicheres kann kaum zur Schau gestellt werden). Vielleicht einmal einen Aufsatz darüber schreiben.

[Handschriftlich; gefunden im Innendeckel meiner >>>> Ada-Ausgabe,
die ich eben für die >>>> Pynchon-Kritik zur Hand nahm.]

Geschlechtersprache (2). Glaubensbekenntnis.

„Ich glaube an den technischen Fortschritt.“

Der Satz ist deshalb bezeichnend, weil er aus dem teilbaren Glauben daran, daß etwas kommen wird, den Glauben a n etwas macht. Darin liegt eine Normation. Denn ich kann sehr wohl daran glauben, daß der technische Fortschritt voranschreiten wird; das bedeutet aber nicht zugleich, daß ich das auch wünsche oder in jedem Belang wünsche. Indem der Satz „Ich glaube an den technischen Fortschritt“ diesen quasi als ein Höheres Wesen auffaßt, wird das Unausweichliche zementiert und angenommen. Du sollst dir kein Bildnis machen. Das im Verbund mit dem christlichen Glaubensbekenntnis untersagt sich selbst, das Bild, das man sich nicht einmal machen darf, zu untersuchen.

>>>> Geschlechtersprache 3/BE 103
Geschlechtersprache 1 <<<<

[Nach einem Einwand >>>> elsalaskers habe ich den letzten Satz umformuliert. Er lautete ursprünglich und war so falsch, bzw. mißdeutig: "Im Verbund mit dem christlichen Glaubensbekenntnis wird im Ton sich selbst untersagt, das Bild, das man sich nicht einmal machen darf, zu untersuchen." (6.4., ANH).]

Außer der Reihe. Jonathan Littell. Die Wohlgesinnten. Lesenotate (6).

Das find' ich nun mal einen g u t e n Gedanken. Auf seiner Site empfiehlt >>>> Molosovsky drei Netz-Auseinandersetzungen mit Littell, darunter >>>> die in der Dschungel geführte; die Direktlinks zu seinen Empfehlungen finden Sie >>>> hier. Das ist aber nicht, was mich aufmerken ließ. Sondern eine Vermutung, fast eine Interpretation, zu der ich sofort wie selbsterkennend nickte:

Herbst ist derweil begeistert von dem Buch (oder auch ›nur‹ von den Gedanken, auf die ihn selbiges bringt)...
Das nenn ich gut gezielt.

Littell 5 <<<<

Unverfluchtheit. Jonathan Littell. Die Wohlgesinnten. Lesenotate (5).

Objektive (geschichtliche) Tragik entsteht für einen Täter dort, wo er vollen Umfanges Täter i s t, in ebenso vollem Umfang aber auch Opfer. Das läßt sich für den deutschen Nationalsozialismus und seine maßgeblichen Protagonisten wie für seine Mitläufermörder aber nicht sagen; Tragik ist hier allenfalls auf der Seite jener jüdischen Opfer, die bis sprichwörtlich zu allerletzt an Deutschland geglaubt haben, das heißt: nicht der deutschen Nation, aber der deutschen Kultur geglaubt und sie mit der deutschen Nation verwechselt haben und die sich, wenn sie überlebten, oft noch über das Unheil hinaus von Deutschland, das ist: von seiner Kultur, nicht lösen konnten - ein tiefer, lebenslang anhaltender Leidensgrund vieler jüdischer Emigranten.
Weil nun ein Massenmörder von Kiew, Auschwitz und Treblinka n u r Täter gewesen ist und eben nicht auch ein Opfer, eignen sich Figuren wie Maximilian Aue nicht zur Darstellung von Tragödien. Die Vernichtungaktionen der Nationalsozialisten sind depersonalisiert und folgen negativ den Gesetzen der industriellen Produktion. Ästhetisch gesehen ist diese Depersonalisation der Grund, aus dem sich ein wie immer auch kathartisches Drama aus Täterperspektive nicht wird gestalten lassen – darin völlig anders als bei den antiken politischen Großmördern und völlig anders als bei jenen der shakespearschen Renaissance. Das waren, immer, Individuen. Unter Hitler gab sich alles Individuelle der Täter an die Struktur ab, so daß selbst Personen wie Eichmann letztlich Anonyma blieben. Was sie allenfalls noch „auszeichnet“, war kleinbürgerliche Gemeinheit; es gab niemals eine Größe der Tat. Es gibt kein Drama, sondern nur, daß ein Verbrechen auf das andere folgt: reine Sukzession.
Littell zeigt das am Beispiel Aues in der einzigen Form des Protestes, die dieser Typ noch auszubilden versteht: in der Psychosomatose seines nahezu permanenten periodischen Übelseins und Erbrechens. Psychosomatosen haben sich von ihren eigentlichen Gründen gelöst und chronifiziert, es sind ihrerseits depersonalisierte Erkrankungen, die ihren Herd nicht kennen, sondern sich wie unabhängig von ihm austragen können. Weshalb es in Aues Fall eben nicht zu politischem Widerstand kommt, sondern dieser Widerstand ist in die Psychosomatose abgespalten. Umgekehrt wird, w e i l an die Stelle des Widerstands die Psychosomatose tritt, der Widerstand prinzipiell unmöglich: der Erkrankte trachtet nicht mehr wie Lady Macbeth, sich das Blut von der Hand zu waschen. Es wurde so unkonkretisierbar, wie es die Ursache der psychosmatischen Erkrankung braucht. Deshalb ist unter Hitler keinem Täter jemals eine Verzweiflung zuteil geworden. Niemand unter denen war gesegnet – und wär es denn mit einem Fluch. Denn Flüche segnen - ästhetisch - auch.

Littell 4 <<<<
>>>>> Zwischenbemerkung im Arbeitsjournal, neun Tage später.

Es ist nicht ausgestanden. Jonathan Littell. Die Wohlgesinnten. Lesenotate (4).

9783827007384„Ich lese und lese“, schrieb ich >>>> gestern nacht noch, „merke zugleich mit der Spannung auch deutlich die Müdigkeit, die einem die Augen vor den >>>> Greueln zufallen läßt.“ Das widerfährt mir bei diesem Buch sehr viel stärker als bei sonstigen Romanen, wenn bloß die Aufmerksamkeit des Lesens nachläßt. Sie läßt hier n i c h t nach, sondern ich weiche in den Schlaf aus oder will das doch tun. Aber ich „spüre (...) genau: das ist eine Abwehr, die mein ÜberIch entwickelt und durchsetzen will. Wohinter auch eine Angst steckt“, die zweifelsfrei eine moralische vor der Identifizierung mit Aue ist. Denn tatsächlich fällt es, sofern sich der Leser einläßt, überhaupt nicht schwer, es sich in Aue „bequem zu machen“. Der Mann ist völlig plausibel dargestellt, und die Strukturen, die auf ihn wirken, sind es auch. Das gibt den Ungeheuerlichkeiten etwa der „Großen Aktion von Kiew“, bei welcher an die 150000 Menschen erschossen werden - am Rand einer Schlucht, in die die Erschossenen hinabfallen, oft noch nicht richtig tot, so daß Soldaten hinabsteigen müssen, um den noch Zuckenden, Schreienden, Jammernden den, wie sich Littell oft ausdrückt, „Rest zu geben“ -, etwas geradezu Normales. „Dabei war die Sequenz der Erschießungen schon extrem beschleunigt worden. Die Schützen wurden jede Stunde abgelöst, und wer nicht schoss, versorgte die anderen mit Rum und füllte die Magazine auf. Die Offiziere sprachen wenig, einige versuchten, ihre Betroffenheit zu verbergen. (S. 181)“ Das ist hier das ungeheuerlichste Stichwort: Betroffenheit. So gut wie alle Gebildeten, derer es nicht wenige gibt, wissen genau, welch ein Unrecht begangen wird, aber es kann sich kaum einer dem entziehen. Wenige laufen Amok, wie ein Offizier in Lettland, der, „verrückt geworden“ (S. 191), plötzlich auf seine Mitsoldaten schießt, weil sein Gehirn das Grauen nicht mehr mitmachen kann. Was Aue angeht, ist man an einen >>>> Colonel Kurtz erinnert, der den Weg in die dunkle Selbstüberhöhung (noch) nicht gefunden hat. Die Figur ist, anders >>> als mancher Kritiker schrieb, eben restlos glaubwürdig, und zwar g e r a d e, weil sie reflektiert. Jemand aus dem besinnungslosen Mob, der vorher orgiastisch in Sokal gemeuchelt hatte, wäre auch unfähig gewesen, solche Erinnerungen zu schreiben. Aue ist sogar hochgebildet; er ist musisch veranlagt, liebt Rameau und Couperin, Le Rappel des oiseaux, Les Trois Mains, er zitiert Platon, sogar Chesterton (S. 188), ausgerechnet, und denkt über das auf die Welt gefallene Grauen nach: „Mir schien es etwas ganz Entscheidendes zu sein, etwas, was mir, wenn ich es verstünde, erlauben würde, alles zu verstehen und mich endlich auszuruhen“ (S. 187, Hervorhebung und Unterstreichung von mir). Diese Bemerkung erdet die literarische Figur enorm, sie gibt ihr eine psychische Motivation. Nur einmal wird Aue selbst rasend, bis über die Unterschenkel durch den Leichenberg watend, weil er Überlebenden diesen „Rest“ geben soll, und es ist von höchstem und zugleich entsetzlichstem Geschick, wie Littell auf der Seite 184 das Bild des „Juden als Kakerlake“, das in >>>> Starship Troopers einen späten affirmativen Reflex gefunden hat, an eine Kindheitserinnerung Aues zurückbindet. Genau das, die kindliche Panik, dreht sich dann in dem Erwachsenen in eine Art Amok-selbst, nämlich angesichts einer schönen, auf dem Leichenberg sterbenden Frau – angesichts von Leben: „(...) denn ich wurde bei dem Gedanken an dieses sinnlos verschwendete Leben von einer ungeheuren, maßlosen Wut gepackt“, die sich jetzt eben n i c h t gegen die Mörder richtet, sondern gegen die Opfer: „...schoss unaufhörlich weiter, ihr Kopf war längst wie eine überreiche Frucht geplatzt, während mein Arm sich von mir löste und sich ganz allein durch die Schlucht davonmachte, hierhin und dorthin schießend, ich lief hinter ihm her“, hinter dem eigenen Arm also her, „machte ihm mit meinem anderen Arm Zeichen, er solle auf mich warten, aber er wollte nicht, er verhöhnte mich und schoß ganz allein, ohne mich, auf die Verwundeten, bis ich schließlich, völlig außer Atem, stehen blieb und zu weinen begann“ (S. 186). Das ist mit kältestem Kalkül geschrieben und weit von alledem entfernt, was diesem Buch als „widerwärtiger Kitsch“ vorgeworfen wurde. Was hier als Kitsch bezeichnet werden kann, ist nichts anderes als ein völlig adäquater Ausdruck von Hilflosigkeit, in welchem sich der Täter selber zum Opfer macht und als Opfer selber erschießt. Das kälteste Kalkül ist gerade nötig, wenn einer ein solches „Material“ zu einem Roman verarbeitet. Und darum, daß es sich um Material h a n d e l t, nämlich um ästhetisches Material, kommt niemand herum, der die Entstehung von Kunst, von Kunst überhaupt begreifen und nicht insgesamt untersagen will, daß über Greuel belletristische Bücher geschrieben werden. „Die Ortskommendantur hatte eine Batterie Feldküchen geschickt, und ein Militärpfarrer kochte“ (S. 181). Auch hier spürt man, worauf der Autor seinen Finger legt, aber ohne ein Wort nichtimmanenter Moral zu verlieren, das es dem Leser „einfacher“ machte, eine Distanz zu entwickeln.
Wie der Leser den Weg in die Identifikation mit Aue gehen muß, um dem Buch „gerecht“ zu werden, wie er also selber imaginärer Teil der Vernichtungsindustrie werden muß, geht Aue den Weg der Identifikation mit der Hölle, eine psychische Bewegung, die bereits in >>>> Pasolinis Salò eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat: „Seit meiner Kindheit trieb mich der leidenschaftliche Wunsch nach dem Absoluten und nach Grenzüberschreitung; jetzt hatte mich diese Leidenschaft an den Rand der Ukraine geführt. Ich war immer bestrebt gewesen, radikal zu denken; nun hatten auch der Staat, die Nation die Radikalität und das Absolute für sich entdeckt; wie also hätte ich mich in diesem Augenblick verweigern, Nein sagen und mich stattdessen für die Bequemlichkeit der bürgerlichen Gesetze, die laue Sicherheit des Gesellschaftsvertrages entscheiden können? (...) Und wenn sich die Radikalität als die des Abgrunds und das Absolute als das absolut Schlechte erwies, so galt es trotzdem (...), ihnen offenen Auges bis zum bitteren Ende zu folgen“ (S. 138). Das ist eben n i c h t nur dahergesagt, das wird ja auch – und wurde n i c h t nur im Roman – so getan. Daß Radikalität auch bedeuten hätte können, in den Widerstand zu gehen, und zwar in einen Widerstand von allem Anfang an, für diese Erkenntnis ist es für Aue in der Ukraine längst und objektiv zu spät.

Es gibt in >>>> Georges Batailles Die Tränen des Eros die Abbildung eines chinesischen Mannes, der, "Leng Tsch'e", bei lebendigem Leib auseinandergeschnitten wird; ein Strafmartyrium, das als „Ehre“ galt. Die Folterer amputieren dem Märtyrer Finger für Finger, die Ohren, die Extremitäten dann, das Geschlechtsteil usw., sie zerlegen den Märtyrer und legen die amputierten Teile sichtbar für ihn vor ihm aus. Die Amputationen geschehen mit einer solchen „Kunst“, bis hin zum Abschälen des Fleisches der Brust usw., daß der Märtyrer alles selbst bis wirklich zum allerletzten Moment erlebt. Die Abbildung ist >>>>> eine Fotografie aus dem Jahr 1905. Die Blicke des Märtyrers sind verklärt (vielleicht der hohen körpereigenen Morphin-Ausschüttungen halber, die durch solch langsamzäh sich steigernde Schmerzen verursacht werden). Was Bataille zu diesem Bild schreibt, von dem er sich, seit er es zum ersten Mal gesehen, nie habe lösen können, ist wie aus Aues Roman abgeschrieben, der seinerseits zu den Bildern sagt, die Soldaten von dem Massaker aufgenommen haben: „Mit dieser Zusage versehen, verbrachte ich den Rest des Tages in den Mannschaftsunterkünften, sah die Fotosammlungen der Männer durch und bestellte Abzüge. Einige von ihnen waren übrigens bemerkenswert gute Fotografien; aber ihre Arbeit hinterließ bei mir einen unangenehmen Nachgeschmack, während ich gleichzeitig die Augen nicht abwenden konnte, ich war wie versteinert“ (S. 143). Was die Fotografien und, solche überhaupt aufzunehmen, anbelangt, erinnert das, strukturell (!), alarmierend an den >>>> Folterskandal von Abu Ghuraib.

Das ist nicht ausgestanden.
[Lesestand: S. 200.]

>>>> Littell 5
Littell 3 <<<<

Banalität des Bösen. Jonathan Littell. Die Wohlgesinnten. Lesenotate (3).

9783827007384Man kann gar nicht grundlegender irren als etwa Georg Klein in seinem klug austarierten, alle moralischen Risiken meidenden >>>> Artikel in der Süddeutschen tat, der bei diesem Roman eine „Sprache des Bösen“ vermißt und doch zugleich sieht, daß es sie nicht geben kann. Die Wahrheit ist ja eben, daß ein substantielles Böses A u s r e d e ist. Es gibt nur sein >>>> Banales. Oder, um es mit einem literaturkritischen Begriff zu belegen: das Triviale. Deshalb ist hier ein literarischer Realismus ausgesprochen angemessen, zumal dann, wenn er auf höchstkünstlerische, nämlich derart collagierte Weise hergestellt wird. Littells Buch behauptet jede metaphysische Komponente des Bösen hinweg, d a s ist sein Skandal. Die Art, in der bei einer Massenerschießung, deren Entgleisung in eine Schlamm- und Blutschlacht Aue „dilettantisch“ nennt (S. 126), von der Erzählung der Greuel selbst zu dem den Erzähler sehr viel mehr bewegenden Umstand geschaut wird, daß er sich Splitterchen unterm Fingernagel zugezogen hat, die ihn pieksig quälen, ist ein ausgesprochen genaues Psychogramm des sogenannten Bösen, das eben letztlich nichts anderes als ein Sichfortbewegen allgemeinmenschlicher Befindlichkeit auf den Schienen der Vernichtungsindustrie ist, die man „eben mitmacht“, und zwar durchaus im Bewußtsein, es handle sich hier um ein Unrecht. „Bei Tisch, am Abend, diskutierten die Männer über die Aktionen, erzählten sich Anekdoten, verglichen ihre Erfahrungen, einige bedrückt, andere fröhlich.“ Bekanntlich ist Lachen eine Form der Reaktionsbildung auf nicht oder nur kaum Verarbeitbares. „Wieder andere schwiegen, auf sie“, weil ihnen keine Form der Abwehr zur Verfügung steht, „galt es zu achten. Es hatte bereits zwei Selbstmorde gegeben (...)“ (S.126). Hier ist es erst noch der ukrainische Mob, der, von der deutschen Propaganda dazu „verführt“, das Massenschlachten betreibt. „Die meisten von ihnen hatten gegen die Polen gekämpft, dann gegen die Sowjets, sicherlich hatten sie von einer besseren Zukunft geträumt, für sich und für ihre Kinder, und jetzt fanden sie sich in einem Wald wieder, in einer fremden Uniform, und damit beschäftigt, Menschen umzubringen, die ihnen nichts getan hatten, ohne einen Grund, den sie hätten verstehen können. Wie mochten sie darüber denken?“ Aue selbst denkt darüber ablehnend, macht aber, wie die anderen, mit. „(...) wenn man es ihnen befahl, drückten sie ab, stießen die Leichen in die Grube, führten die nächsten herbei und protestierten nicht. Wie würden sie später über all das denken? Wieder hatten sie geschossen. Jetzt wurden Schmerzensschreie aus der Grube vernehmbar. 'Verdammte Scheiße, da leben noch welche', knurrte der Hauptscharführer“ (S. 124). Nein, es g i b t sie nicht, die Sprache des Bösen, weil ein metaphysisches Böses eben nicht wirkt. Statt dessen wirken dieselben Strukturen, die Kassiererinnen bei ALDI Weisungen von Vorgesetzten unwidersprochen ausführen lassen, auch wenn sie widersinnig sind, und die uns auch selber, uns Intellektuelle, korrupt werden lassen. Es wirkt darüber hinaus eine Angst, und es wirkt die Struktur des Militärs-an-sich, das sowieso auf Widerspruchslosigkeit zurichtet. Es wirkt zudem eine Gruppendynamik, die man auf jedem Woodstock beobachten kann, nur daß die Richtung sich umdreht: make war, not love. Im Prinzip ist es dasselbe. Dabei führt der Widerspruch einer inneren Moral zu der der äußeren Befehle zu vorgetriebenem Sadismus: um das Schrecklichste tun zu können, muß es eine Lust bereiten, in der sich das ÜberIch auflösen kann. Die Rezensenten, die aus anderen als ideologischen, bzw. gläubigen, die also aus politischen Gründen gegen Littells Roman geschrieben haben und die man deshalb, weil sie eben intentional sind, für keine Erkenntnisfindung heranziehen kann, sehnen ein Geheimnis des Bösen herbei. Mit diesem deutschen geheimsten inneren Wunsch räumt Littell auf. This is not a Gothic novel.

>>>> Littell 4
Littell 2 <<<<

Abwehr heilt nicht. Jonathan Littell. Die Wohlgesinnten. Lesenotate (2).

9783827007384 Vielleicht ist >>>> es d a s, >>>> womit man als Deutscher nicht klarkommt: „Ich will hier nicht behaupten, ich sei an diesem und jenem nicht schuldig. Ich bin schuldig, ihr seid es nicht, wie schön für euch“ (S. 33). Diese Häme, die zynisch auf den wahren Umstand pocht, daß keiner von uns weiß, ob nicht auch er (auch sie) mitgemacht hätte. Und hätte ebenfalls seine perverse Lust daran gehabt: „Trotzdem könnt ihr euch sagen, dass ihr das, was ich getan habe, genauso hättet tun können.“ D a liegt der Skandal, zumal in der direkten Ansprache. Es geht um den ja doch schon gegenüber >>>> Syberberg abgewehrten „Hitler in uns“ - wobei es sehr viel schlimmer ist, daß es nicht einmal um d e n, sondern um die „Weichensteller, die Betonfabrikanten“ geht, zu denen selbstverständlich auch die beschäftigten Arbeiter gehören, „und die Buchhalter in den Ministerien“, ohne die „ein Stalin oder ein Hitler nur einer jener von Hass und ohnmächtigen Gewaltfantasien aufgeblähten Säcke gewesen“ wäre. „Die Feststellung, dass die meisten leitenden Angestellten der Vernichtungsindustrie weder sadistisch noch masoschistisch waren, ist mittlerweile ein Gemeinplatz“ (35). Das trifft auf Feuilletonisten ganz ebenso zu: w i e gemeinplätzig die sich benahmen, wissen wir schon seit der ersten >>>> Fackel. Daß sich das nicht verändert hat, und zwar quer auch durch die „Linke“, ist ein ebensolcher Gemeinplatz. Doch darf man ihn, und zwar deshalb, nicht nennen. Er ist eine Attacke – genau das wird gefühlt - auf unser humanistischstes Selbstbild. „Die Maschinerie des Staates nun ist aus dem gleichen Sand gebacken wie das, was sie Korn für Korn zu Staub zermahlt. Es gibt sie, weil alle damit einverstanden sind, dass es sie gibt, sogar - und häufig bis zum letzten Atemzug - ihre Opfer“ (S. 34). Dieser letzte Gedanke, zumal von einem Nazimörder ausgesprochen, der nicht einmal einsichtig ist, ist der ungeheure Affront, denn man spürt, daß er – stimmt. Wie darf denn ein Nazimörder recht haben? Und u n s anklagen? Ja, er tut nicht einmal das, sondern mit verächtlich müder Geste tut er uns weg. „Die wirkliche Gefahr für den Menschen bin ich, seid ihr. Wenn ihr davon nicht überzeugt seid, braucht ihr nicht weiterzulesen“ (S. 35). Mußten sie halt aber. Denn sie hatten ihren Rezensionsauftrag. Der ist ihnen nun zu i h r e m Nürnberger Prozeßchen geworden. Da saßen sie denn also, unschuldig, weil sie die Zeit verschont hat, und darüber schuldig, in den Redaktionen auf ihren Angeklagtenbänken und beteuern, ganz wie die hohen Nazis taten, ihre Unschuld. Wir selbst sitzen da, auch wir andren deutschen Leser. „Ihr werdet nichts verstehen und euch nur ärgern, nutzlos für euch – wie für mich“ (S. 35). Denn auf >>>> Radischs schon theoretisch bloß behauptete, zumal ausgesprochen gefärbte Feststellung, diese „schnittigen, juvenilen Gedankensplitter der konservativen Revolution und die Nachtgewächse des französischen akademischen Diskurses“ trügen „nichts bei zur Lösung der schmerzhaften Frage, was genau unsere Großväter zu Mördern gemacht hat“ läßt es sich höchstwahrscheinlich auf das allerbanalste entgegnen: Weil wir Menschen so sind. Wenn wir nicht das Glück einer Determination erfahren haben, die uns dem Widerstand zuschlug. Wer von uns das gewesen wäre, kann wirklich niemand sagen. Auch wenn die Abwehr nun - und seit Jahrzehnten - anders tut. Abwehr, Leser, heilt nicht.

>>>> Litell 3
Littell 1 <<<<

Jonathan Littell. Die Wohlgesinnten. Lesenotate (1). Iris Radisch.

9783827007384Wenn >>>> Iris Radisch ein Buch „mit Schaum vorm Mund“ (Delf Schmidt) verreißt, dann ist das immer ein unabweisbares Zeichen dafür, daß man es lesen muß. So war es im Fall Elfriede Jelineks, so war's im Falle Sascha Andersons (der bei aller moralischen Verfehlung ein Dichter eben b l e i b t), so war es auch in meinem Fall, 1996 in Klagenfurt, mit >>>> THETIS. Man mag solch ein Buch nicht einmal selber mögen, irgend etwas ist dann dennoch daran, und zwar unbedingt; w e n n man es mag, dann sowieso. Vorausgesetzt, wohlgemerkt, daß Iris Radisch wütend verriß; ansonsten kann man sich selbstverständlich auch irren. Wobei für >>>> d i e s e s Buch „mögen“ ganz sicher ein heikler Ausdruck ist, der nämlich hier bedeutet: Es läßt einen nicht nur nicht unberührt, sondern wühlt in einem herum. Da Literatur nun, insoweit sie Kunst ist, immer pervers ist, führt sie zu Genüssen, die an ihrem Grund nicht erlaubt sind. Es sind Übertretungen. Ich habe nach den ersten gelesenen Seiten die Ahnung, solch eine Übertretung liege hier vor, und sie sei ungeheuer.

P.S.: Ich les mich gerade durch des >>>> Perlentauchers Resümmationen der bislang erschienenen deutschsprachigen Rezensionen hindurch. Komplette, massive, allgemeine Ablehnung des Buches, oft mit irrational-wütendem Unterton, öfter noch Ekel – und frage mich, was ausgerechnet >>>> Jorge Semprun, wenn diese alle stimmen sollten, dazu gebracht haben mag, über den Roman zu schreiben, es sei das Ereignis unserer Jahrhunderthälfte?
Da lauert etwas.

>>>> Littell 2
 



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